BLOG vom: 11.04.2006
Italia: Romano Prodis Wahlsieg, der vielleicht doch keiner ist
Autor: Walter Hess
Das Internet ist schon ein phantastisches Medium: Es lässt sich bei Kopf-an-Kopf-Rennen jeweils problemlos immer wieder an den mutmasslichen Sieger anpassen, hat die Nase immer vorn. Im Unterschied zu Druckmedien, wo gedruckt eben gedruckt ist. Ich habe mein gestriges Blog über die beiden grossen B (Berlusconi und Bush) in jenen Teilen, welche das Wahlresultat betrafen, etwa 10 Mal abgeändert (mutiert, wie es meine Software nennt), und ich griff ausgiebig in die Fragezeichen-Trickkiste. Dann liess ich es als Zeitdokument so stehen.
Es herrschten in Italien nach den Parlamentswahlen 2006 geradezu amerikanische Zustände; denn auch in den USA hat man mit dem Auszählen bekanntlich seine liebe Mühe. Da klappt jeweils nichts. In Italien kam hinzu, dass bereits Wahlforscher und Hochrechner pfuschten und Verwirrung schufen. Das Ganze glich eher einer Lotterie denn einer zielstrebigen Auszählung.
Es kam mir wie beim Bahnfahren im Ferienland Italien vor. Kommt der Zug oder kommt er nicht? Am besten schläft man einmal ein paar Stunden. Vielleicht hat sich dann einiges geklärt. C’è tempo. Nichts von Tempo: Es hat Zeit!
Und wenn der Zug endlich losgefahren ist, bleibt er auf offener Strecke stehen. Ein Erdrutsch. In Italien? Romano Prodi schien am Dienstagmorgen mit einem hauchdünnen Vorsprung (mit 49,8 gegenüber 49,7 % vor Berlusconi) als Sieger dazustehen – bloss 25 000 Stimmen sollen ausschlaggebend gewesen sein. Aber im Senat lag das Berlusconi-Lager mit 155 zu 154 Sitzen um 1 Sitz vor dem Mitte-rechts-Bündnis „Casa della Libertá (Haus der Freiheiten) von Silvio Berlusconi. Und dazu sind noch 6 Senatssitze durch die im Ausland abgegebenen Stimmen zu verteilen. Um regieren zu können, muss der Gewählte im Abgeordnetenhaus und im Senat über die Mehrheit verfügen.
Da ist somit alles wenig klar, und möglicherweise wird es zu Nachzählungen kommen – Berlusconi ist nicht einer, der so schnell aufgibt. Er hat bereits eine gründliche Überprüfung des Wahlergebnisses gefordert. Und dazu lagen noch Berichte in der Luft, wonach eine halbe Million Stimmen annulliert worden sein sollen. Merkwürdig. Das amtliche „Endergebnis“ ist zweifellos ein vorläufiges. Und falls es definitiv werden sollte, sind politisch unruhige Zeiten zu erwarten, wie sie Italien früher immer kannte. Das Land litt darunter, war mehr mit Machtgerangel statt mit dem Problemelösen beschäftigt.
Italien ist politisch so gespalten, dass eine grosse Koalition nach deutschem Muster nicht zu erwarten ist. Und Neuwahlen sind ebenfalls denkbar, welche die Phase der Lethargie verlängern könnte, was bei den Berlusconi-Hinterlassenschaften verheerend wäre. Auch ein Dolcefarniente kann zum Albtraum werden.
La bella Italia. Ein Wunderland, über das man sich manchmal schon wundert.
Nachtrag
Am heutigen Dienstagabend, 11. April 2006, stellte das Innenministerium in Rom das Wahlresultat klar: Im Senat hat Prodis Bündnis 158 Sitze gewonnen, das Berlusconi-Lager kommt auf 156. In der Abgeordnetenkammer erreichte Prodi 348 Sitze, Berlusconi 281. Damit heisst der Wahlsieger Romano Prodi. Noch ausstehende Stimmen könnten daran nichts mehr ändern.
Berlusconi hat seine Niederlage noch nicht eingestanden; er will nachzählen lassen. Doch steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, dass George W. Bush in ihm zwar keinen Freund verloren hat, aber sein Freund, ein Politclown mit Taschenspielertricks von gestern, muss Macht abgeben. Der gewählte Prodi (66) steht den Weltmachtplänen der Bush-Gang skeptisch gegenüber, und er hat den Abzug der italienischen Truppen aus dem Irak bereits angekündigt. Er wird sich vermehrt nach Brüssel ausrichten. Ob Prodi, der in seinem hoch verschuldeten Land ein schwieriges Erbe antritt, in Zukunft noch in die USA einreisen darf, wird sich weisen. Aber Italien darf endlich ein wenig aufatmen und mag die neue Links-Koalition ebenso zerbrechlich wie der Friede auf dieser von der Kriegsmacht USA beherrschten Erde sein.
Hinweis auf ein weiteres Blog über die Wahlen in Italien
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