BLOG vom: 16.04.2006
Vom Osterfest und der „Pas-cha“ aus dem alten Russland
Autorin: Rita Lorenzetti
Ostern hat für mich viele Gesichter. Da ist das Osternest aus der Kindheit mit den im Zwiebelschalen-Sud gekochten Eiern. Dann der Schokolade-Osterhase und das Ei aus Blech mit seinem zuckersüssen Inhalt und der Abbildung der Familie Hase auf dem Deckel. Zu Ostern gehörten auch Moos, erste Blumen, Waldspaziergänge und das heitere Licht durch den noch unbelaubten Wald. Dann auch das Osterlicht aus der Kirche und später, viele Jahre lang, Ostergeschichten aus dem alten Russland. Solange sein Volk durch den eisernen Vorhang von uns getrennt war, empfand ich es spannend, wenigstens die Geschichten seiner Dichter lesen zu können.
Vor nicht langer Zeit hat mich dieses österliche Russland wieder eingeholt. Eine Kundin brachte ihre hölzerne Form für den traditionellen Topfen-Kuchen, eine dem Osterfest vorbehaltene Quarkspeise mit dem Namen „Pas-cha“, zur Renovation in unsere Werkstatt. Eine Form aus ausgewaschenem Holz, geschmückt mit einem eingekerbten Blattmotiv, die als Grundmasse 2 kg Topfen fassen kann. Wenn die „Pas-cha“ hergestellt ist, trägt sie das Dekorationselement auf der Oberfläche, genau so wie unsere Butter-Mödeli die ihren präsentieren. Und die Geschichte dazu durften wir auch noch erfahren.
Ihr Grossvater, ein Vertreter der Textilindustrie aus Wald im Zürcher Oberland, wanderte nach Russland aus, fand dort seine Frau, heiratete, wurde Vater, konnte eine gute Existenz aufbauen. Die russische Revolution aber machte alles zunichte. Er musste heimkehren. Das Bürger-Asyl in Wald ZH nahm die Familie auf. Auf die Flucht nahm Grossmutter ihren Samovar und die hölzerne Topfen-Form und ihre Tischwäsche mit. Diese für sie wichtigen Gegenstände überlebten bis heute und werden von der Enkelin sorgsam gehütet. Die „Pas-cha“-Form ist jetzt mehr als 100-jährig.
Seitdem wir das Osterfest im Haus dieser Frau und mit ihrem Freundeskreis feiern durften, gehört ein Hauch altes Russland weiterhin zu unseren Osterfesten, denn alle Erfahrung sammelt sich zu einem Ganzen, dem Gefühl oder Wissen, was dieses Fest ist. Wir durften damals im Haus versteckte Ostereier suchen und die köstliche „Pas-cha“ kosten. Dazu wurde Tee aus dem Samovar der Grossmutter ausgeschenkt und wir benutzten ihre Servietten. Da fühlte ich dann Bezüge zu meinen Vorfahren. Haben sie diese Flüchtlinge aus Russland gekannt? Auch meine Familie stammt aus dem Dorf Wald, wie ich im Blog vom 25. Februar 2006 erzählt habe.
Ostern hat viele Ebenen. Dieses Fest gehört zum Frühling und zur Auseinandersetzung mit dem Winter. Frühling ist aber manchmal noch gar kein Frühling. Es überfallen uns Nässe, Kälte und Schnee, wenn wir schon glaubten, die wärmere Jahreszeit sei angekommen. Da bewundere ich dann die Widerstandskraft der schon gekeimten Samen. Sie trotzen dem Frost und setzen sich durch. Kein Wunder, dass auf der Ebene der Transzendenz die Auferstehung das zentrale Thema dieses Festtages ist. An Ostern feiern wir das Leben und die Freude am Leben.
Zu einem Festtag gehören Speisen, die nicht alltäglich sind. An Ostern ist das Lamm oft Mittelpunkt. In meinem Elternhaus gab es nur den selbst gemachten Hackbraten und in ihm versteckt gekochte Eier. Auch eine Art von Osternest. Seitdem ich verheiratet und von der italienischen Mentalität beeinflusst bin, gehört die Colomba, das Hefegebäck in Taubenform, auf unseren Tisch. Wir trinken dazu den Vinsanto, nachdem wir in der Osternacht das Haus mit Weihrauch ausgeräuchert haben. Zur Colomba lese ich in einer Publikation von „Globus Delicatessa“, sie sei die feinste Art, Frieden zu geniessen. Verschiedene Legenden würden sich um die Entstehung des traditionellen Osterkuchens ranken und alle handelten vom Frieden.
Der Inhalt unserer Feste bleibt sich immer gleich. Wir, die wir sie feiern, bekränzen sie aber mit dem persönlichen Verständnis und der eigenen Fantasie und gestalten damit die Familien-Kultur. Niemand lebt alle Facetten aus, darum sieht Ostern für alle etwas anders aus. Ich bin zum Beispiel noch nie im Stau auf der Autobahn Richtung Tessin stecken geblieben, weil ich kein Auto besitze. Ich stelle mir vor, dass die Geduld für das Nadelöhr in den Süden für viele Reisende Bestandteil der Osterferien ist und möglicherweise als wohltuend empfunden wird. Da gehören dann alle zusammen, können nicht weglaufen, sich nicht anders beschäftigen. Sie haben Zeit füreinander.
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24. 12. 2004: „Weihnachtsbräuche (I): Süsser die Glocken nie klingen“
25. 12. 2004: „Weihnachtsbräuche (II): Das Küssen unterm Mistelzweig“
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