Textatelier
BLOG vom: 04.05.2006

Vom glokalen „Boten Naef“ bis zum globalen Kühne & Nagel

Autor: Walter Hess
 
Die Strasse von CH-9127 St. Peterzell SG im Toggenburg hinauf nach Wald-Schönengrund (einem Weiler in der gleichen Gemeinde) ist für Velofahrer etwas mühsam. Das war während der Zeit des Sekundarschulbesuchs mein Schulweg. Am Morgen war das kein Problem: Wir rasten mit übersetzter Geschwindigkeit ins Neckertal hinunter. Und der Polizist Paul Stöckli (gestorben 1988), der uns auf seinem Töff, einer Motosacoche, die damals schon ein Oldtimer war, mit aufgedrehtem Gas verfolgte, konnte nicht mithalten. Wir hatten die Velos längst in den Ständer gestellt, als er endlich beim Schulhaus neben der grossen katholischen Kirche im reformierten St. Peterzell eintraf, um uns die verdienten Leviten zu lesen, ohne uns irgendwie zu kriminalisieren. Ein einfühlsamer, korrekter Polizist mit Sinn für das Wesentliche. Seine Tochter mit den beiden langen Zöpfen, Margrit Stöckli, war eine strebsame Klassenkameradin. Wir alle mochten einander gut. Was mag aus ihr geworden sein?
 
Abends dann, wenn wir die Velos müde bergan stiessen, näherte sich gelegentlich der „Bot Naef“ mit seinem alten Saurer-Lastwagen von hinten. Wir stiegen in den Sattel, und der Bote („Bot“, Camionneur, Spediteur) Gottlieb Naef, ein älterer, menschenfreundlicher Chauffeur, winkte ab, weil er wusste, dass wir uns an seinem Lastwagen festhalten und uns von ihm hinaufziehen lassen wollten. Das war ja verboten, und er wollte jede Verantwortung von sich weisen. Doch, auf unserer Höhe angekommen, schaltete er in einen niedrigeren Gang, fuhr etwas langsamer, und wir klammerten uns an einen Blachenriemen oder sonst einen Halter am Heck des Saurers. Und der Bot Naef tat, als ob er nichts bemerke.
 
Seither habe ich eine gute Meinung von Spediteuren. Und diese Sympathie hat selbst bei meinem Besuch der Generalversammlung von Kühne & Nagel International AG im Seedamm-Plaza Hotel in CH-8808 Pfäffikon SZ am Dienstag, 2. Mai 2006, keine Schlagseite erhalten. Da ich mich ja, wie alle Nutzer wissen, mit allen Aspekten der Globalisierung befasse, hat mich auch das weltweite Speditionsgewerbe zu interessieren. Und alle meine Vorahnungen über das Anschwellen der Transportbedürfnisse wurden von K + N nicht nur bestätigt, sondern übertroffen. Da reiht sich ein Erfolgsjahr ans andere. Im Jahr 2005 ergab sich eine Umsatzsteigerung um 21,5 %, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass Kühne & Nagel überproportional wächst, also das Wachstum des internationalen Güteraustauschs, wie es sich infolge von Zollsenkungen und des verstärkten Abbaus von Handelshemmnissen einstellt, noch übertrifft. Und auch ins Jahr 2006 ist das Unternehmen wiederum fulminant gestartet; auch See- und Luftfracht konnten weiter zulegen (im 1. Quartal 2006 stieg der Gesamtumsatz um 41,7 % auf 4,291 Milliarden CHF).
 
Die Töne an der GV glichen jenen während der wirtschaftseuphorischen Jahre am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Und selbst von der Verwaltung und der Geschäftsleitung (Verwaltungsratspräsident: Klaus-Michael Kühne, Schindellegi; Vorsitzender: Klaus Herms, Finanzchef: Gerard van Kesteren) wurde selbstironisch eingeworfen, es sei schon fast langweilig, konstant mit zweistelligen Umsatzsteigerungen aufwarten zu müssen ... Nahezu verdreifacht hat sich im 1. Quartal 2006 der Umsatz in der Kontraktlogistik, von 303,7 auf 909,8 Mio. CHF. Mit dem Erwerb der ACR Logistics-Gruppe sei man in neue Dimensionen vorgestossen, sagte K+N-Finanzchef Gerard van Kesteren, ein Quantensprung. Obschon die Dimensionen unterschiedlich sind, eines haben Kühne & Nagel einerseits und das Textatelier.com anderseits gemeinsam: Beide sind schuldenfrei.
 
Vom umweltpolitischen Standpunkt aus sind Ausweitungen im Gütertransportgewerbe verhängnisvoll – der Energieverbrauch wächst mit, und das Klima leidet. Wir alle stehen in der Schuld der Natur. Doch der Trost besteht darin, dass da wenigstens ein Schweizer Unternehmen blüht, das „die Wettbewerbstätigkeit umweltfreundlicher erhöhen“ will und versucht, mit „bahnbrechend, intermodalen Diensten“ möglichst viele Tonnagen auf die Schiene zu bringen. Dem Güteraustausch in Europa auf dem Lande wird gerade eine hohe Priorität eingeräumt; dieser Tage wurde der Geschäftsbereich Güterlogistik der Oldenburger Speditionsfirma F. W. Deus übernommen (Kerngeschäfte: Umzugs- und Möbellogistik): Haus-zu-Haus-Transporte. Weltweit werden von K + N Lösungen angestrebt, die gleichermassen ökologisch und ökonomisch wegweisend sind, etwa durch die optimale Auslastung von Verkehrsmitteln, die Bündelung der Warenströme an logistischen Knotenpunkten und des Einsatzes kombinierter Verkehre unter Nutzung von Bahn und Binnenschiff.
 
Beim Unternehmen Kühne & Nagel mit dem Hauptsitz Schindellegi SZ (Gemeinde CH-8835-Feusisberg), das in mehr als 100 Ländern (mit 750 Niederlassungen) tätig ist, sind die Bereiche Qualität „Sicherheit, Gesundheit und Umwelt“ in ein „QSHE“ genanntes Managementsystem integriert – und so ist das Unternehmen denn mit anerkannten Qualitätssiegeln ausstaffiert. Die weltweit über 40 000 Mitarbeiter haben alle Aspekte der Ressourcenschonung zu beachten. Sie werden gefördert und gefordert, und die berufliche Entwicklung wird unterstützt. Die Vergütung ist erfolgsabhängig. Und so kennt das Unternehmen, wie an der GV gesagt wurde, unter ihren Mitarbeitern „praktisch keine Fluktuation“. Das Führungsmodell nennt sich „The Glocal Networker“, also der glokale (regionalisierte) Netzwerker. Wer noch einmal gewisse Paralellen zum Textatelier.com erkennen möchte, mag das bitte ungeniert tun ...
 
Dem riesigen Güteraustausch – K + N ist übrigens der weltweit grösste Seefracht-Transporteur, was in der Schweiz kaum bekannt ist – steht also nur ein kleiner Personalaustausch gegenüber. Schindellegi hat da schon ein gutes Aushängeschild, das ein kühnes Verhalten an den Tag legt und in dieser globalisierenden Welt Nägel mit Köpfen macht. Aber dennoch hält sich meine Globalisierungs-Begeisterung in sehr, sehr engen Grenzen. Ich wollte dies hier nur anmerken, um aufzuzeigen, wie sich die Zeiten und Transport-Dimensionen zwischen dem Boten Naef und K + N doch sehr verändert haben.
 
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