BLOG vom: 26.05.2006
Einer spricht Klartext: Wenn wir Günter Grass nicht hätten!
Autor: Walter Hess
„Die Freiheit des Menschen zeigt sich
an der Freiheit des Wortes und der Literatur.“
Horst Köhler, deutscher Bundespräsident am PEN-Kongress 2006
Das ist gerade einmal eine Wohltat, wenn einer wie der deutsche Schriftsteller Günter Grass im Klartext ein paar unbequeme, in den Systemmedien unerlaubte angemessen scharfe kritische Wahrheiten in die Welt hinaustrommelt: Die „Verbrechen der USA“ seien „systematisch, konstant, infam und unbarmherzig“, sagte er am 23. Mai 2006 am 72. internationalen P.E.N.-Kongress in Berlin. Das war kein Blech.
Gleichgültig, ob Iran, Nordkorea oder Syrien zu Mächten des Bösen ernannt würden, „dümmer und gefährlicher kann Politik nicht sein“, stellte der Literaturnobelpreisträger fest. Sogar die Wiederholung eines Kriegsverbrechens, der Einsatz von Nuklearwaffen, werde angedroht. „Doch alle Welt hört weg und gibt sich ohnmächtig.“ Die Zuhörer quittierten das stehend mit donnerndem Applaus.
Die Welt hört weg. Damit bezeichnete Grass zweifellos das Verhalten der Medien (und vielleicht auch der Literaten) gegenüber „der wie zwangsläufig kriminell handelnden Grossmacht USA“ und der britischen Regierung. „Wann immer ihren Lügen Zugkraft mangelt, spannen sie Gott ins Geschirr. Ob Bush oder Blair, die Heuchelei ist ihnen ins Gesicht geschrieben.“ Das ist echter Neokonservativismus. Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad war in seinem unbeantworteten Brief an George W. Bush übrigens zur gleichen Erkenntnis gelangt.
Die Heuchler glichen jenen Priestern und Missionaren, „die seit alters her Waffen segneten und mit der Bibel den Tod in ferne Länder trugen“, fügte Grass bei. Tony Blair habe die Komplizenschaft mit den USA nicht aufgekündigt, selbst angesichts aufgedeckter Lügen und „der Schande offenkundiger Folterpraxis“, fügte Grass bei. Damit werde „des Britischen Empires Tradition, die gnadenlose Kolonialherrschaft“, fortgeschrieben.
Allerdings muss man dazu der Vollständigkeit halber beifügen, dass dies die übrigen westlichen Staaten auch nicht taten und weiterhin in Demutshaltung am Altar der weltführenden Kriegs- und Schurkennation stehen und ihre Liebesdienste anbieten. Am bitteren Ende, wenn vielleicht auch die heutige Geschichte aufgearbeitet wird, werden hoffentlich auch die Mitläufer und damit Mittäter zur Rechenschaft gezogen werden.
Grass listete die schändliche politische US-Politik seit dem Ende des 2. Weltkriegs auf und rief dazu in Erinnerung, dass die USA Militärdiktaturen in Indonesien, Griechenland, Brasilien und Chile unterstützt haben. In diesen Ländern habe es hunderttausende von Toten gegeben, die alle der amerikanischen Aussenpolitik zuzuschreiben seien. Allerdings scheine das niemand zu interessieren. Geradezu buchhalterisch sei der Westen bemüht, die Opfer von Terroranschlägen aufzulisten, aber niemand zähle die Leichen nach amerikanischen Bomben- und Raketenangriffen. Im Deutschlandradio Kultur hatte Grass einen Tag vorher ausgeführt, die USA hätten Personen herangezogen und ausgebildet, die sie heute als Terroristen verfolgten. Als Beispiele nannte er unter anderem den Chef des Terrornetzwerks El Kaida, Bin Laden. Grass vor den 450 P.E.N.-Mitgliedern: „Wir (gemeint war der Westen) sind mit die Ursache dieses Terrorismus. Diese Einsicht fehlt allerorten.“
In der Ansprache des deutschen Bundespräsidenten, Horst Köhler, kamen die Schriftsteller nicht ungeschoren davon. Er liess auf diplomatische Art durchblicken, dass sie mit wenigen Ausnahmen dem Opportunismus verfallen und nicht wagen, gegen den Strom zu schwimmen. Und oft kommt es noch schlimmer. Köhler: „Noch jedes Herrscherlob eines Diktators ist von einem Dichter verfasst worden.“ Auch Grass hatte die Rolle der Schriftsteller überdacht: „Selbst wenn wir meinen, der literarischen Avantgarde anzugehören, hinken wir dennoch dem Geschehen hintendrein, freilich unermüdlich, denn was geschah und geschieht, sich mörderisch auslebt, entkommt uns nicht. Was die Historiker abzubuchen gewillt sind, bleibt uns gegenwärtig.“ Und da möchte man schon bitten, dass man darüber aus der Feder der „Leichenfledderer“ (Grass-Ausdruck für die Literaten) auch gern etwas lesen würde, nicht nur bei Harold Pinter und Noam Chomsky. Grass beschwor in seiner Rede die Allgegenwart des Kriegs, der auch dann noch waltet, wenn er verräterisch in Normalisierung oder Schlimmeres umbenannt wird. „Wir Schriftsteller waren immer dabei, ob schweigend oder protestierend. Geschrieben wurde allemal: dafür und dagegen.“ Schriftsteller seien verpflichtet, ihre Stimme zu erheben und nicht nur über die eigene Befindlichkeit zu schreiben.
Ja, es gibt nichts, das für ein System verheerender wäre als das Einbinden von Medien, Literatur, Philosophie, Jurisprudenz, Geschichtswissenschaft und der Wissenschaft überhaupt: Die Kriminalität erhält unter solchen Voraussetzungen Oberhand; denn die moralischen Instanzen fehlen. Es produziert Ungerechtigkeit, Unruhen, ein Klima der Repressionen (Unterdrückung), Terrorismus sowie Krieg und erstickt in seinen eigenen Exkrementen, die ständig gemehrt statt weggeschaufelt werden.
Wenn wenigstens noch ein paar unangepasste alte Herren wie Günter Grass (78) aus dem Bett der embedded Angepassten steigen und sich noch auf die Barrikaden wagen, ist das ein Strohhalm, der ein bisschen Hoffnung und Freude rechtfertigt. Schliesslich könnte sich das Mitläufertum auch einmal neu ausrichten und sich von dort, wo sich Dummheit und Heuchelei paaren, abwenden.
Man gestatte mir das etwas weit hergeholte Wunschdenken.
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