Textatelier
BLOG vom: 28.06.2006

WM-Euphorie: So hat mich noch kein Mann beglückt ...

Autor: Heinz Scholz
 
Die WM-Euphorie in Deutschland und auch bis am Montagabend, 26. Juni 2006, auch in der Schweiz kennt beziehungsweise kannte keine Grenzen: Überall fröhliche, tanzende und singende (manchmal grölende) Fans. „Dank des Fussballwahnsinns korrigiert das Ausland sein Bild von der ‚Nation der Nörgler’“, wie Spiegel online am 25. Juni 2006 mit Bezug auf Deutschland berichtete. Sogar die Engländer und Niederländer sind voll des Lobes. Das heisst ja was, da die Niederländer beim Thema Fussball auf den grossen Nachbarn nicht gut zu sprechen sind.
 
In den englischen Zeitungen sind keine „Scherz-Repertoire-Plattitüden über humorlose und platt walzende Deutsche mit Wehrmachtshelmen“ zu lesen, sondern sie freuen sich über ein gastfreundliches, beschwingtes Deutschland. Ein Brite lobt im Internet die „grossartigen Menschen, schöne Landschaften, moderne Städte sowie Bier und Essen in Deutschland.“
 
Ein anderer las früher immer in britischen Zeitungen, der Deutsche sei ernst und könne nicht feiern. Nun sei es an der Zeit, die Klischees über das Land zu revidieren, meinte er.
 
Jetzt feiern die Deutschen mit den Engländern gemeinsam. Die Zeitungen bringen jetzt Fotos von deutschen und englischen Fans oder sogar Lederhosen tragende Engländer, die deutsche Polizisten umarmen. Wer hätte das gedacht! Vielleicht essen die Engländer jetzt noch Sauerkraut (die Deutschen werden ja „Krauts“ genannt).
 
Auch andere Nationen kommen aus dem Staunen nicht heraus. Die Gäste sind besonders angetan von der Sicherheit, Freundlichkeit und Stimmung. Auch aus der Schweiz kommt Lob (das habe ich schon lange nicht mehr gehört!). Die Medien stellten fest, dass das WM-Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ zutrifft (dieses Motto galt leider nicht für Bruno, den abgeschossenen Bären in Bayern).
 
Die „Neue Zürcher Zeitung“ schrieb schon kurz nach der Eröffnung Folgendes: Das Fussballfest „löst manchen Knoten und verbindet die Angehörigen einer Nation, die in letzter Zeit oft in Trübsal zu versinken drohte. Plötzlich werden Energien und Wir-Gefühle spürbar, die man kaum mehr für möglich gehalten hatte. Hat die ‚Weltmacht Fussball gar jenen ,Ruck durch Deutschland’ ausgelöst, auf den man in normalen Zeiten so lange vergeblich wartete?“
Der „Blick“ machte eine „deutsche Wende“ aus: „Gelassenheit statt Grössenwahn.“
 
Es gab auch Krawallmacher
Bisher verlief alles relativ ruhig. Aus der Reihe fielen etliche alkoholumsäuselte Briten, Holländer und Deutsche. Insgesamt wurden zeitweise 1000 Personen festgenommen (fast ausschliesslich Engländer).
 
Erfreulicherweise gab es keine Übergriffe gegen WM-Touristen, vorzugsweise aus afrikanischen Staaten. Der Rechtsextremismus hatte bisher bei der WM keine Chance.
 
Besonders die Hamburger atmeten auf, als die US-Boys ausschieden und nach Hause fahren durften. Amerikaner können sich nirgends mehr sicher fühlen. In Hamburg war zeitweise Ausnahmezustand. Die Anwohner im Hamburger WM-Quartier haben sich gefühlt wie in einem Land, das sich am Rande eines Bürgerkriegs befindet. Sie durften nicht einmal die Mülleimer raus stellen, die Gullydeckel wurden zugeschweisst, Sprengstoff-Suchhunde eingesetzt, Suchkameras montiert und AWACS-Aufklärer flogen herum. Man hätte meinen können, George W. Bush habe im Quartier der US-Amerikaner genächtigt und die Spieler motiviert. Aber der hat ja bekanntlich keine Ahnung (auch) von Fussball.
 
Es gibt auch eine hässliche Seite des Fussballsports, das darf nicht verschwiegen werden: Im Achtelfinalspiel zwischen den Niederländern und Portugal (0:1) gab es viele brutale Fouls. Der russische Schiedsrichter Walentin Iwanow zückte 8 Mal die gelbe und 4 Mal die Kombination Gelb-Rot (also mussten 4 Mann vom Platz). Eine solche Kartenflut hat man noch nie bei einem Spiel gesehen. Dazu einige Pressestimmen:
 
„Público“ (Portugal) „Unglaublich! Mit 9 Spielern hielt Portugal in der Schlacht von Nürnberg stand.“
„Volkskrant“ (Niederlande): „Die Niederlande wurden ausgeschaltet, aber es wäre besser gewesen, wenn die Fifa auch Portugal nach Hause geschickt hätte. Beide Länder bereiteten in einer makabren Parodie auf den Fussball dem Sport eine Schande.“
„La Repubblica“ (Italien): „Hier gab es wirklich alles zu sehen, ausser ein Fussballspiel.“
 
Nun ein Situationsbericht aus meinem Wohnort Schopfheim D.
 
In Schopfheim war die Hölle los
Nach dem Spiel Deutschland–Schweden (2:0) war hier die Hölle los. Es formierte sich ein Autokorso, überall ein Gehupe und Gegröle aus den fahrenden Vehikeln. Riesige Fahnen wurden mitgeführt, ein Auto war sogar mit 3 Fahnen ausgestattet. Ein Fan hing sogar halb aus dem Seitenfenster und brüllte seine Freude hinaus. Ein etwa 12-jähriger Junge aus der Nachbarschaft fuhr mit seinem Fahrrad durch die Statthalterstrasse, schwenkte eine Deutschlandfahne und sang: „Ich liebe deutsche Land. Ich liebe deutsche Land“ (er sang so, und nicht „Ich liebe deutsches Land“). Aber auch Erwachsene fuhren auf Rädern mit riesigen Fahnen herum.
 
Ein Auto in den Farben Schwarz-Rot-Gold lackiert fuhr ebenfalls vorbei. Überall ein Hupkonzert, so dass sich unsere Katze ängstlich in eine Ecke verzog. 2 Stunden fuhren die verrückten Fans herum. An den Strassenrändern standen Fans in Festtagslaune, die sich euphorisch umarmten, tanzten und sangen. Viele Fans hatten bemalte Gesichter, volle Masken, bunte Schals und trugen die verrücktesten Kostüme. Einer zeigte sich siegestrunken mit einem Wikingerhelm. So etwas hat Schopfheim noch nie erlebt, nicht einmal bei Fasnachtsumzügen.
 
Als die Italiener kürzlich gewannen, war ein ähnliches Herumgefahre mit Fahnen und Gehupe im Gange. 2 Italiener-Mädchen aus der Nachbarschaft rannten mit einer aufgespannten Fahne durch die Statthalterstrasse. Ich beobachtete nach dem Spiel denselben Jungen, der „Ich liebe deutsche Land“ gesungen hat. Nun lief er mit einem Fussball unter dem Arm und brüllte: „Italia, Italia.“ Es war wohl das Kind eines Deutschen und einer Italienerin, oder umgekehrt. Also eine multikulturelle Verbindung, die solche „begeisternde“ Früchte trug.
 
Und überall sieht man in Schopfheim aus den Fenstern italienische und deutsche Fahnen hängen.
 
Die Fahnen werden weiterhin wie verrückt gekauft. Es gab zwischenzeitlich sogar Nachschubprobleme. In der Schweiz soll es ähnlich gewesen sein. Als ich kürzlich den Bahnhof in Frick AG wegen einer Auskunft aufsuchte, entdeckte ich im gegenüberliegenden Geschäft sogar einen „Regiestuhl“ in den deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold. Ich will damit nicht sagen, dass die Schweizer so einen Stuhl kaufen würden. Aber man kann ja nie wissen.
 
Türken jubeln mit den Deutschen
Der bisherige Höhepunkt der Flaggenbegeisterung wurde aus Hannover gemeldet. Dort wurde ein mexikanisches Fanmobil mit 3 Meter hohen Fahnenstangen gesichtet. Wie Spiegel online berichtete, war das Gefährt in den mexikanischen Nationalfarben lackiert, an Heck und Front waren die Fahnenstangen befestigt. Die Fans mussten die riesigen Stangen abmontieren. Grundsätzlich ist eine Beflaggung von Fahrzeugen erlaubt, die Verkehrssicherheit darf jedoch nicht beeinträchtigt werden. Unzulässig ist auch eine Beflaggung, wenn dadurch die Sicht des Fahrers eingeschränkt ist. Notfalls kann ja der Beifahrer den Weg beschreiben.
 
In Berlin-Kreuzberg, das von vielen Türken bewohnt ist und auch Klein-Istanbul genannt wird, fuhren bald mehr Türken als Deutsche in Autokorsos mit türkischen und deutschen Fahnen herum. Die Türken unterstützen die Deutschen. In einer Berliner Kneipe sagte ein Türke zu Katja Bauer, einer Mitarbeiterin der „Badischen Zeitung“: „Alle Türken hier wünschen sich, dass Deutschland weiterkommt“, dann fügte er noch hinzu: „Wissen Sie, wir leben doch hier. Es ist auch unser Land.“
 
„Die spinnen, die Schweizer!“
„Überall rot-weiss, wohin man in der Schweiz auch blickt. Der Schnee schmilzt im Alpenfrühling, zum Vorschein kommen aber nicht grüne Wiesen, sondern die Nationalfarben. Berg und Tal sind erfüllt von euphorischer WM-Begeisterung, die seit Wochen in den Zeitungen aufgebaut wurde: Der Fussball rollte mühelos von den populären Sportseiten aus bis in die letzten Winkel der ehrwürdigen Feuilletons“, schreibt Roger Ehret über die Schweizer. Eine Irin, die in einem Schweizer Pharmabetrieb arbeitet, war über die Begeisterungsfähigkeit der Schweizer ganz perplex. Sie meinte: „Die spinnen, die Schweizer!“
 
Als die Schweizer gegen die Ukraine ausgeschieden waren, bedankte sich „Blick“ (www.blick.ch) am 27. Juni 2006 bei Trainer Köbi Kuhn und den 23 „WM-Helden“. „Ein ganzes Land verneigt sich. Danke, danke, danke.“ Dann wurde noch bemerkt, dass bei der WM „der Nationalstolz so spürbar war wie nie zuvor“.
 
So hat mich noch kein Mann beglückt
Auch in Lörrach herrschte ausgelassene Partystimmung. Im Biergarten „Lichtblick“, der bei deutschen WM-Spielen von zwischen 1000 und 1700 Gästen heimgesucht wird, wurden WM-Gassenhauer gesungen.
 
Kathrin Ganter konnte einen Seitenhieb auf Männer und Frauen in der Zeitung „Der Sonntag“ vom 25. Juni 2006 nicht zurückhalten. Sie schrieb: „Ach ja, sie waren auch da: Hübsche junge Mädchen, die zwar von Fussball so viel Ahnung haben wie Lukas Podolski von Quantenphysik, aber von der allgemeinen Partylaune oder von dem massenhaft ausgeschütteten Testosteron der männlichen Fans angezogen wurden.“
 
Und in Freiburg i. Br. war es genauso. Eine der vielen jungen Frauen schrie nach den Toren von Lukas Podolski im Spiel gegen Schweden euphorisch aus: „So sehr hat mich noch kein Mann beglückt.“
 
Kurz vor der Verlängerung des Spiels Schweiz gegen Ukraine, das die Eidgenossen erst im Elfmeterschiessen verloren, wurden weibliche Fans im Fernsehen gezeigt, die ein Plakat mit der Aufschrift „Alex schenk uns eine Freinacht!“ hielten. Sie meinten damit den Stürmerstar der Schweizer Alex Frei.
 
In München sollen 100 000, davon 20 000 Schweden, auf der Fan-Meile gewesen sein. In Berlin waren es 750 000, die auf Grossbildschirmen das Spiel Deutschland gegen Schweden verfolgten. Auch andere Städte meldeten Rekordzahlen. Insgesamt sollen in unserem Land über 3 Millionen auf den Strassen gefeiert haben.
 
So viel Massenbewegungen hatte bisher nur der Papst bei seinen Reisen ausgelöst. Und so mancher Potentat wird vor Neid erblassen und sich manchmal so eine Begeisterung bei Staatsempfängen wünschen.
 
Vitamin T ist nicht in Obst
Wir alle kennen den angelsächsischen Spruch „One apple a day keeps the doctor away“. Diesen Spruch habe ich auch in diversen Publikationen über Äpfel erwähnt und empfohlen, täglich viel Obst zu essen. Und wir wissen alle, dass in jedem Apfel eine Portion Vitamin C ist. Als Vitaminkundiger wusste ich bisher nicht, dass es das Vitamin T gibt. Seit der Fussball-WM wissen das jetzt alle, dass „Tore die beste Medizin“ sind. Dies behaupteten der Bundesfussballtrainer und der Mannschaftsarzt. Und die müssen es ja wissen.
 
Dazu nähere Erläuterungen: Schiesst nämlich ein Stürmer keine Tore, dann ist er gefrustet und wird krank, zumindest im Kopf. Aber die Mannschaft half unserem Stürmer Lukas Podolski auf die Sprünge. Gegen Ecuador und Schweden war er am Ziel seiner Wünsche, er schoss 3 Tore. Auch die Fans profitieren von der gesunden Medizin, da bei ihnen die Glückshormone nur so fliessen. „In Sekundenbruchteilen werden die Lebensgeister geweckt, die Immunabwehr gestärkt, Herz- und Kreislauf belebt und wir pusten den Kopf von Sorgen frei. Der füllt sich schon von ganz alleine wieder, keine Sorge“, schreibt hup in der „Badischen Zeitung“ vom 26. Juni 2006.
 
Dazu meine eigenen Beobachtungen: Als die Deutschen im Polenspiel 5 Grosschancen versiebten und kurz vor Schluss doch noch das 1:0 fiel, sprang ich auf und schrie meinen aufgestauten Stress (Frust) heraus. Das war wie eine Befreiung.
 
Als die „Azzurri“ (die Blauen = Italiener) 30 Sekunden vor Schluss der Begegnung gegen Australien einen Elfmeter zugesprochen bekamen und dann verwandelten, hörte ich ein explosionsartiges Gebrüll aus den umliegenden Häusern.
 
Man könnte so ein Verhalten mit einem Vulkanausbruch vergleichen. Nach dem Ausbruch stellte sich ein Wohlbefinden und eine Zufriedenheit ein.
 
Wer nichts mit Fussball am Hut hat, kann das bestimmt nicht verstehen. Er wird dann eben ohne Vitamin T anderweitig sein Blut in Wallung bringen und eine Portion Glückshormone ausschütten.
 
Die Fussball-WM ist ein Ereignis, das viele vereint, euphorische Gefühle erzeugt und die schrecklichen Dinge auf der Welt vorübergehend vergessen lässt. Nach der WM wird wieder der graue Alltag einkehren und die Euphorie nachlassen, davon bin ich überzeugt.
 
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