BLOG vom: 20.07.2006
Wo der Käse und das Geschichtsbewusstsein reifen: Greyerz
Autor: Walter Hess
Ich mag den Greyerzerkäse (Gruyère). Und ebenso gefällt mir die Landschaft der Freiburger Voralpen, die ihn heute mit Hilfe von Hochleistungs-Kühen und -Käsern hervorbringt. Die mittelalterliche Kleinstadt Greyerz, die längst von den Touristen erobert worden ist, und das grandiose Schloss befinden sich auf einem felsigen Hügel, der aus einer landschaftlichen Mulde emporwächst. Sie sind von einem Kranz aus Bergen eingefasst, die nirgends erdrückend wirken. Vielleicht wäre der Vergleich dieser landschaftlichen Pfanne mit einem Caquelon zulässig, in dem man den Gruyèrekäse zusammen mit Knoblauch, Weisswein und Gewürzen zu einem Fondue schmilzt, wenn die Ränder etwas steiler wären. Der Eindruck, sich in einem gut abgeschirmten Refugium abseits der grossen Heerstrassen zu befinden, ist berechtigt. Hier fühlt man sich in Sicherheit, kann entspannt geniessen.
Das Fondue soll in dieser Region erfunden worden sein, und es wird denn auch von Gaststätten in Greyerz selbst im Hochsommer im Gartenrestaurant angeboten; wer will, kann auf Raclette ausweichen. Und da habe ich immer gemeint, es müsse draussen kalt und ungemütlich sein, damit das wärmende Fondue gut schmecke. Man lernt nie aus.
Hinter dem Chavonne-Tor
Der Besucher kann mit dem Auto ein Stück weit den Schlosshügel empor fahren, sich für einen der grossen Gratis-Parkplätze entscheiden und dann als Fussgänger zum Städtchen wandern, ein paar Minuten braucht es nur. Man betritt Greyerz durch das Chavonne-Tor, hinter dem sich eine breit ausladende, sich allmählich erhebende Strasse befindet. Die wilde (und dennoch geordnete) Kopfsteinpflästerung (Pflasterung) wird gerade erneuert. Sie verlangt nach robustem Schuhwerk; spitzige Schuhteile könnten sich in den Fugen verirren. Immerhin sind es etwa 3500 Quadratmeter Boden, die mit polierten, abgeplatteten Steinen mit ihrem Naturschliff belegt sind. Solche von malerischen, teils gotischen Gebäuden gesäumten gepflästerte Böden setzen sich bis ins Schlossareal und ins Schloss selber hinein fort (z. B. in die dortige Küche).
Der dominante Schlosskomplex scheint zuoberst auf dem Felsen die herrliche Rundsicht zu geniessen, wie schon seit Jahrhunderten. Keine einschränkenden Bauordnungen hatten seine Grösse beschränkt, sondern die abfallenden Felsen: Ein Bauwerk aus Stein und manchmal meterdicken Schutzmauern mit Schiessscharten und Wachttürmen, das nie durch Feuer zerstört worden ist.
Rundgang durchs Schloss Greyerz
Natürlich wurde das Schloss nicht als Touristenattraktion erstellt, sondern als Festung. Erstens kann man von oben überblicken, was sich rund um unten im Tal abspielt, und zweitens ist der Verteidigungskampf von oben nach unten Erfolg versprechender als umgekehrt, weil man dann die Schwerkraft auf seiner Seite hat.
Wer einen Rundgang durch das hervorragend erhaltene und einwandfrei gepflegte Schloss unternimmt, dessen Erbauung auf das späte 13. Jahrhundert zurückgeht, begegnet vielen Gegenständen wie Rüstungen, Stichwaffen und Gemälden, die auf eine kriegerische Vergangenheit und fürchterliche Gemetzel nach handwerklicher Manier von Mann zu Mann hinweisen.
Vom 11. bis zum 16. Jahrhundert residierten hier nacheinander 19 Grafen von Greyerz. Sie nannten das Kranich-Symbol ihr Eigen, bis der letzte von ihnen, Michael (Michel), 1554 Konkurs anmelden musste. Der Kranich (Grue), auf den der Name Greyerz vielleicht teilweise zurückgeht, ist das Symbol des Glücks und der Langlebigkeit. Manchmal verlieren solche Symbole ihre Wirkung offensichtlich. Die Gläubiger des Prinzen und Grafen Michael von Greyerz, die Städte Freiburg und Bern, teilten die Grafschaft unter sich auf. Der verarmte Adlige versuchte es in seiner Not noch mit der alchimistischen Goldherstellung, was aber angeblich auch nicht so richtig gelingen wollte. Das Unterfangen ist ja zugegebenermassen auch sehr schwierig. Zwischen 1555 und 1798 schauten Freiburger Landvögte von hier aus zum Rechten, und dann kamen Präfekten (Oberamtmänner) in die Schlossanlage, bis diese 1849 an die reiche Genfer Familie Bovy und später (1861) ans Haus Balland überging, die hier eine standesgemässe Sommerresidenz hatten und die Anlage gut pflegten. 1938 kaufte der Kanton Freiburg das Schloss und richtete hier ein Museum ein. Es gehört seither der Öffentlichkeit.
Für 6.50 CHF Eintritt (Kinder CHF 2.−) können das Schloss und die dauerhaften oder wechselnden Ausstellungen besucht werden. Sie reichen thematisch bis zur phantastischen Kunst, blühender Fantasie entsprungen, Traumlandschaften, die es sonst nirgends gibt. Bis am 29. 10. 2006 ist schamanische Kunst aus dem Himalaya (Nepal) zu sehen, das Schaffen also von Heilern mit magischen Kräften, die sich zwischen den Welten bewegen, Vor allem Kleinskulpturen sind ausgestellt. Der Fotograf Christian Dupré hatte einen wichtigen Anteil am Aufbau dieser Ausstellung.
Im Schloss erinnern viele Trophäen und Bilder an die Schlacht bei Murten, also an die Zeit von Karl dem Kühnen und seinen Burgunderkriegen, bei dem wir Eidgenossen uns ganz besonders tapfer geschlagen haben ... Im Frühjahr 1476, kurze Zeit vor jener Schlacht, wüteten und plünderten in Greyerz 500 savoyische und burgundische Reiter. Eine Greyerzer Truppe unter dem Befehl von Graf Ludwig, der auf eidgenössischer Seite auch an den Burgunderkriegen mitwirkte, besiegte zusammen mit den furchtlosen Greyerzer Mannen die frechen Kerle. Und dem berühmten kühnen Karl erging es nicht anders; auch er unterlag den Eidgenossen. Etwa 10 000 Burgunder wurden erschlagen; die Eidgenossen und ihre Helfer verloren kaum 1000 Mann. Ich weiss das aus dem Geschichtsunterricht während der Primarschulzeit genau und könnte noch heute auf die Frage, was denn dieser Karl als seinerzeit gefürchtetster Feldherr Europas alles verloren habe, die Bestnote 6 mit Verdacht auf Hochbegabung erzielen: „Karl der Kühne verlor in Grandson das Gut, in Murten den Mut und in Nancy das Blut.“ Kurz: alles. Solche Lektionen waren die Höhepunkte des Geschichtsunterrichts und wir Kinder von damals waren bestärkt in der Erkenntnis, im genau richtigen Land das Licht der Welt erblickt zu haben.
Die Zeitenläufe laufen manchmal in merkwürdige Richtungen. Statt sich von neoliberalen Plünderern und Invasionen fremder Mächte zu wehren, würden die heutigen Neu-Eidgenossen wahrscheinlich bilaterale Verträge aushandeln und den Eintritt in einen grösseren Staatenverbund so lange offenlassen, bis die Volksmehrheit der politischen und medialen Gehirnwäsche erlegen ist. Mit der Tapferkeit und dem Verteidigen der Unabhängigkeit hat es inzwischen etwas zu hapern begonnen.
Schlachtfelder mit Hellebarden
Doch kehren wir aus der Gegenwart sofort wieder in die historischen Dimensionen des Schlosses Gruyère zurück: Beim Studium eines Schlachtgemäldes mit kämpfenden Rittern und Fussvolk, ganzen Wäldern aus Hellebardenspitzen (unter anderem zum Knacken von Rüstungen) und mit Leichen übersäten Böden, ein filigranes Kunstwerk, bei dessen Entstehung dem Zeichner die Perspektiven aus den Fugen geraten waren, fragte mich meine Begleiterin Eva, was mir denn jetzt gerade so durch den Kopf gehe.
Ich schnappte etwas nach Luft, rang um eine intelligente Antwort und stotterte sinngemäss eine Art Belehrung mit Weltbezug, die ich mir spontan zusammenreimte: Die Menschen haben mit bescheidenen Mitteln wunderbare Werke geschaffen wie dieses Schloss Greyerz. Aber viele andere Kulturdenkmäler wurden von ihnen zerstört – und die Zerstörungsmanie dauert bis heute an – allein das US-Atomwaffenpotenzial genügte, um die ganze Erde zu zerstören. Bei ihren flächenhaften Bombardierungen mit ferngelenkten Waffen nehmen die vor allem von den Briten unterstützten Amerikaner keine Rücksicht auf kulturhistorische Werte; Israel eifert ihnen gerade nach; es möchte die umliegenden Völker aushungern.
Tempel (wie in Vietnam), Städte (wie Hamburg und Dresden), unersetzliche kulturelle Einrichtungen wie die grandiose Bibliothek in Bagdad wurden zerstört oder geplündert – manchmal scheint es, dass die eigene Kulturlosigkeit gerade zur Antriebskraft für solche irrsinnigen Zerstörungen ist – auf dass die anderen auch nichts mehr haben und das eigene Banausentum weniger auffällt. Jedenfalls: Das Zerstören (Bombardieren) wird besonders heute mit grosser Inbrunst aus geringfügigen Anlässen betrieben; selbst eine Nation wie Israel lässt keine Gelegenheit aus, um in ihrem Umfeld lebensnotigwendige Anlagen kaputtzubomben und den Hass gegen sich selber zu schüren – die traurige Geschichte hat den nötigen Lerneffekt nicht erzielt. Die Welt schaut zu und greift sich an den Kopf, falls sie überhaupt noch zu einer Bewegung fähig ist. Soweit meine Antwort mit aktuellen Bezügen.
Meine Frau weiss, dass ich selbst vor bildlichen Darstellungen von Kriegen und Folterszenen eine ausgesprochene Abscheu habe und ich auch christliche Kirchen, welche das Morden zelebrierend verherrlichen, entweder kaum betrete oder möglichst bald wieder verlasse. Ich spüre darin einen muffigen Geruch, dem ich entfliehen will, finde keine Erbauung. Ich mag das alles nicht mehr sehen.
Hier, im Schloss Greyerz, war dies weniger der Fall. Und obschon der kulturhistorische Teil erfreulicherweise bei weitem überwiegt, zog es mich doch Richtung Greyerzersee, dessen Blau durch Schiessscharten und Fenster zu erkennen war. Ich wollte in der Natur durchatmen und in Ruhe über die Gegensätze Aufbauen und Zerstören philosophieren können. Zerstörungen sind nur eine Folge davon, dass unersättliche oder menschlich unreife Menschen an die Macht gelangen, die keine Proportionen kennen und unendliches Leid, Tod und Verwüstung in Kauf nehmen in der irrigen Meinung, zu Ruhm und Ansehen zu gelangen und ihrem Land einen Gefallen zu tun. Das Gegenteil ist der Fall.
*
Die Greyerzer Welt ist diesbezüglich noch glimpflich davon gekommen. Sie ist eine der charaktervollsten landschaftlichen Enklaven unseres Landes Schweiz. Wenn die Tage wieder kühler geworden sein werden, werde ich mein nächstes Fondue mit guten Erinnerungen an diese hügelige, gebirgige und waldreiche Landschaft mit ihrem langgestreckten, fast bulimischen See und dem wuchtigen Schloss auf dem Hügel geniessen und den martialischen Teil ausklammern.
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