Textatelier
BLOG vom: 23.07.2006

Liebesreigen im Sommer: Besuch von fliegenden Ameisen

Autor: Walter Hess
 
Jedes Jahr, irgendwann im zeitigen Sommer, selbst wenn wir alle Fenster und Türen geschlossen halten, kommen sie zu uns ins Haus und bilden in einem der Wirtergärten ganze Teppiche. Bei den höchst willkommenen Gästen handelt es sich um fliegende Ameisen, die ihrer Flügel wegen silbrig schimmern. Wo kamen sie bloss herein? Sie sind eng beisammen, sind in ständiger, aufgeregter Bewegung, fressen nichts, hinterlassen keine Ausscheidungen. Dann öffne ich einen Fensterspalt – und plötzlich sind sie weg, alles in bester Ordnung hinterlassend. Nichts deutet mehr auf ihren Besuch hin. Ich schätze und bewundere dieses Naturschauspiel von Jahr zu Jahr, verfolge es mit zunehmender Bewunderung.
 
Ihre Feinde sind die Menschen und insbesondere die Staubsauger. Damit solch eine Feindschaft in unserem Haus gar nicht erst aufkommen kann und den fliegenden Ameisen kein Flügel gekrümmt wird, habe ich familienintern exakte Aufklärungsarbeit geleistet. Und deshalb freuen sich alle über die Flugtouristen-Invasion.
 
„Das Leben der Ameisen“
Aus der Frühzeit der wissenschaftlichen Ameisenkunde, die ungefähr ab 1875 allmählich zu einem Spezialgebiet der Biologie herangewachsen ist, stammt das in grünes Leinen gebundene, mit ein paar wie Rost aussehenden Wasserflecken dekorierte Büchlein (Band 31) aus „Teubners Naturwissenschaftlicher Bibiliothek“ (Leipzig und Berlin), von dem ich stolzer Besitzer bin: „Das Leben der Ameisen.“ Es ist 1924 erschienen. Dr. med Rudolf Brun, damals Privatdozent an der Universität Zürich, hat sich darin auch den Insektenflügeln mit besonderer Berücksichtigung der Flügellosigkeit der Ameisen-Arbeiterschaft angenommen:
 
„Bei den Ameisen ist (...) dieser Trimorphismus (Dreigestaltung, Blogatelier) in besonders typischer Weise entwickelt, − so sehr, dass hier die Unterschiede zwischen den 3 Geschlechtern auch dem Laien ohne weiteres in die Augen fallen. Während nämlich bei den Hummeln, Wespen und Bienen bekanntlich alle 3 Geschlechter geflügelt sind und sie daher – von gewissen Grössenunterschieden abgesehen – in ihrem Körperbau nicht sehr wesentlich voneinander abweichen, unterscheiden sich bei den Ameisen die Arbeiter von den Männchen und Weibchen schon auf den ersten Blick durch ihre Flügellosigkeit: All die Tausende emsiger kleiner Fussgänger, mit denen wir recht eigentlich den Begriff ‚Ameise’ verbinden, gehören ausschliesslich der Arbeiterkaste an, der gegenüber die geflügelten Geschlechtstiere nur eine kleine Minderheit im Ameisenstaate bilden, die zudem nicht einmal zum regelmässigen und dauernden Bestand der Kolonie gehören, sondern jeweilen nur während weniger Wochen des Jahres (und auch dann nur in älteren, stark bevölkerten Staaten) im Nest zu finden sind. Nur ein einziges befruchtetes Weibchen ist jahraus, jahrein neben den Arbeiterinnen im Stocke anwesend: Die Stamm-Mutter der Kolonie oder die sogenannte ‚Königin’. Seltener – bei einigen Arten immerhin gesetzmässig – kommen mehrere Königinnen in einer Kolonie vor, ein Zustand, den wir mit Wasmann als Pleometrose (auf Deutsch: Mehrmüttrigkeit) bezeichnen.“
 
Brun erklärt dann auch noch den Grund für die gewaltige numerische Überlegenheit der Arbeiter über die anderen Kasten: Diese entspricht ihrer überragend wichtigen Bedeutung für die soziale Ökonomie des Staats, ruht doch auf ihren schwachen Schultern die gesamte Arbeitslast, welche mit der Brutpflege, der Nahrungsbeschaffung, der Instandhaltung und Verteidigung des Nests usw. verbunden ist. Die Weibchen ihrerseits nehmen an all diesen Geschäften höchstens während einer kurzen Phase ihres Daseins, nämlich während der Koloniegründung, Anteil; die Männchen befassen sich überhaupt nicht damit.
 
Der berühmte Zoologe Alfred Brem (1829−1884) beschrieb die Arbeiter als „verkümmerte Weibchen mit völlig zurückgebildeten Flügeln und stark zurückgebildeten Geschlechtsorganen, die meistens nicht mehr leistungsfähig sind; wegen der fehlenden Flügelmuskeln und der verkümmerten Eierstöcke sind Brust und Hinterleib bei ihnen viel unvollkommener entwickelt als bei den fortpflanzungsfähigen Schwestern“.
 
Der Hochzeitsflug
Was wir als fliegende Ameisen in heissen Juli-Tagen (letztmals hier in Biberstein AG/CH am 20. Juli 2006) erleben dürfen, ist der Beginn des Schwärmens mit dem bedeutenden Tag des Hochzeitsflugs. Dann sind die geflügelten Männchen und Weibchen bereit, ihr Heimatnest zu verlassen. Alle Geschlechtstiere drängen ins Freie. Sogar die Arbeiterschaft wird von einer Unruhe erfasst und folgt den flugbereiten Männchen auf Grashalme oder andere Pflanzen, betrillern die Männchen mit den Fühlern und bieten ihnen noch Nahrung an. Es kann ein paar Tage dauern, bis alle Geschlechtstiere bereit sind und das Wetter für den Hochzeitsflug günstig ist.
 
Dann steigen sie im Schwarm in luftige Höhen auf, finden dort – erstaunlich genug – andere Hochzeiter, schliessen sich mit diesen zusammen und ziehen wie kleine Rauchwolken übers Land. Sie steuern gern hochgelegene Punkte an – und unser Haus am Jurahügel gehört zu ihren bevorzugten Zielen. Man kann sich vorstellen, wie stolz ich auf ihren Besuch bin! Einige Tausend kommen jedes Jahr für ein paar Stunden bei uns vorbei, vollführen ihre Liebesreigen und verlassen uns unverhofft wieder.
 
Die Begattung erfolgt meistens während des Flugs, und meistens fallen nach dieser Luftakrobatik-Nummer die Pärchen müde zu Boden, meistens weit von ihrer ursprünglichen Heimat entfernt. Man kann dafür nur Verständnis haben. Die befruchteten Weibchen entledigen sich jetzt ihrer Flügel, bespeicheln und belecken die Eier und beginnen mit der Gründung eines neuen, eigenen Staats, wenn sie nicht vorher von Vögeln, Eidechsen, Raubinsekten und anderen Liebhabern knuspriger Ameisen verzehrt werden (Quelle: „Der Jubiläums-Brehm“, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig, erschienen 1924). Die Männchen ihrerseits haben ihre Pflicht und Schuldigkeit getan, ein für allemal. Wie viele ältere Herren auch, die ihre Partnerin verloren haben, sind sie nicht in der Lage, sich selber zu verpflegen und sich aus eigener Kraft durchs Leben zu schlagen. Da es für Ameisenmännchen noch keine Alters- und Pflegeheime gibt, segnen sie bald einmal das Zeitliche.
 
Die Tugendhaften
Die Ameisen haben „ein erstaunlich hoch ausgebildetes Gemeinschaftsleben“, wie schon Alfred Brehm feststellte, und deshalb haben sie von alters her immer viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der griechische Philosoph Plutarch seinerseits sah im Ameisenleben den Spiegel aller Tugenden wie Freundschaft, Geselligkeit, Tapferkeit, Ausdauer, Enthaltsamkeit, Klugheit und Gerechtigkeit. Man kann dies auch selber immer wieder beobachten: Tiere, die nichts zu tragen haben, weichen den Beladenen aus. Ameisen jagen nicht selber, tragen aber zusammen, was sie finden, und sie sind neben dem Menschen die einzigen Geschöpfe, die ihre Toten begraben.
 
In Nord- und Mitteleuropa gibt es nur etwa 50 Ameisenarten, in den Tropen aber sind es über 4000, und sie alle haben ihre speziellen Rituale. Wir sollten uns Zeit nehmen, sie zu beobachten, von ihnen zu lernen und unser Verhalten den Insekten gegenüber zu überdenken. Dann erkennen wir auch, dass Staubsauger und Insektizide in ihrer Nähe nichts zu suchen haben. Und schon gar nicht, wenn ganze Hochzeitsgesellschaften unterwegs sind. Die Bekämpfungsstrategien wären ja mit dem Bombardement einer Hochzeitsgesellschaft im irakischen Ort Mogr el Dib durch die Amerikaner gleichzusetzen (Mai 2004). Auf dieses kriminelle, lebensverachtende Niveau wird sich kein vernunftbegabter Mensch herablassen.
 
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