BLOG vom: 02.08.2006
Nachruf auf die ethische Haltung von Micheline Calmy-Rey
Autor: Walter Hess
Der Schweizer Politiker Dick Marty, freisinniger Ständerat aus dem Kanton Tessin, welcher die Folterflüge der USA (CIA) untersuchte, hat Mitte Januar 2006 mit bemerkenswerter Offenheit und Ehrlichkeit über die gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch die Weltpolizei-Nation, welche die Lizenz zum Foltern und Töten hat, berichtet. Und gut 7 Monate später war schon wieder ein Fall von ehrlicher, offener Politik zu verzeichnen – solche Vorkommnisse scheinen sich geradezu zu häufen ...: Die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey nahm zu den Kriegsverbrechen und Massakern, die sich Israel einmal mehr im Libanon leistet, auf relativ offene Art Stellung: Das israelische Vorgehen im Libanon sei unverhältnismässig und damit eine klare Verletzung des humanitären Völkerrechts. Sie forderte im Namen der Schweiz einen sofortigen Waffenstillstand, die Einhaltung des Völkerrechts und einen humanitären Korridor zur Versorgung der Zivilbevölkerung.
Bei all der sonst allgemein üblichen diplomatischen Zurückhaltung waren dies immerhin ziemlich klare Worte. Sie fussten auf dem Umstand, dass Israel, das sehr viele libanesische Gefangene hält, wegen der Entführung von 2 israelischen Soldaten sich anmasst, grosse Teile der Infrastruktur (Strassen, Brücken, Tankstellen, Hafenanlagen, ein Spital, Wohnsiedlungen) im Nachbarland Libanon zusammenzuschlagen und am Mittelmeer eine ungeheure Gewässerverschmutzung herbeizuführen (mit der Bombardierung eines Elektrizitätswerks wurden auch 5 Heizöltanks leck geschossen). In einem blindwütigen Vergeltungsrausch wurden auch Frauen und Kinder aus der Luft auf feige Art massakriert. Hilfeleistungen an die Hunderttausenden von libanesischen Flüchtlingen werden konsequent unterbunden, um den Völkermord nachhaltiger zu machen. Das alles geschieht mit dem Segen der USA im Hintergrund, welche Waffen liefern und mit ihrem Veto die Uno lahmlegen. Diese schwächliche Organisation bewies einmal mehr, dass sie im entscheidenden Fall nicht nur nichts taugt, sondern eine US-israelische Handlanger-Organisation ist. Generalsekretär Kofi Annan forderte in naiver Art Israel auf, den Abschuss von Uno-Soldaten und das Massaker von Kana selber zu untersuchen – wie bei den USA und Israel üblich, dürfen diese Staaten ihre eigenen Kriegsverbrechen selber untersuchen und Wege finden, sich reinzuwaschen.
Die eingangs zitierten Worte von Frau Calmy-Rey sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Und man darf schon feststellen, dass sie eigentlich das Minimum dessen sagte, was von einer Politikerin, der noch nicht jeder Sinn für Gerechtigkeit ausgetrieben worden ist, in solch einer Situation gesagt werden muss. Statt sie für diese ehrlichen Worte zu loben, wurden die Ausführungen im Lichte der schweizerischen „Gesinnungsneutralität“ diskutiert, als ob man Kriegsverbrechen mit Ansätzen zu einem Völkermord gegenüber überhaupt noch neutral sein könnte. Vonseiten der Schweizerischen Volkspartei (SVP) wurde Frau Calmy sogar ein „Verrat an der schweizerischen Neutralitätspolitik“ vorgeworfen. Diese neutrale Haltung, so möchte ich beifügen, darf selbstverständlich immer dann über den Haufen geworfen werden, wenn einseitig zugunsten der Kriegsnationen USA und Israel Position bezogen wird, wie dies in den Mainstreammedien und in westlichen Regierungshäusern an der Tagesordnung ist.
Inzwischen hat die mutige Bundesrätin innerhalb des Bundesratskollegiums offenbar eine Rüge erhalten; denn die Verurteilung der israelischen Verbrechen wird als ein Angriff auf die USA betrachtet und ist bei der dortigen ausgeprägten Strafmentalität schlecht für die Geschäftsbeziehungen, die im Zeichen des Neoliberalismus über jeder Ethik stehen. Der Bundesrat hat anlässlich einer Sondersitzung vom Mittwoch, 26. Juli 2006, sogar einen Bericht zur Handhabung der Neutralität im Nahost-Konflikt verlangt, wie Jean- Philippe Jeannerat, Sprecher beim Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), bestätigt hat. Nun ist selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden, wenn man noch einmal darüber diskutiert, ob es angesichts von Kriegsverbrechen wie Völkermorden überhaupt eine Neutralität geben kann. Für mich ist nur erschreckend, dass unsere Moral inzwischen so weit heruntergewirtschaftet ist, dass darüber überhaupt diskutiert werden muss.
Die Meinung der Aussenministerin ist bekannt. Sie hat sich immer wieder für eine so genannte „aktive Neutralität“ ausgesprochen, das heisst Neutralität darf nicht mit Gleichgültigkeit gleichgesetzt werden. Laut Calmy-Rey muss gegen Menschenrechtsverletzungen die Stimme erhoben werden. An der Bundesfeier in Zürich doppelte sie nach: Sie hat sich dort noch einmal gegen eine Neutralität gewandt, die ob des Todes unschuldiger Zivilisten schweigt. Neutralität heisse nicht, sich nicht zur Einhaltung des Völkerrechts äussern zu dürfen. Sie fügte bei, dass die Schweiz als Depositärstaat der Genfer Konventionen ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setze, wenn sie etwa zur Bombardierung des südlibanesischen Dorfes Kana vom vergangenen Sonntag einfach schweigen würde. Der Einsatz für eine friedlichere und gerechtere Welt liege zudem im eigenen Interesse.
Ja, das sollte eigentlich selbstverständlich sein, und es erstaunt wirklich, dass die grundsätzliche Frage, ob die Ethik in der Politik ihren Platz habe, schon wieder diskutiert werden muss. Denn bereits im Zusammenhang mit dem neuesten Vernichtungs- und Eroberungskrieg der USA im Irak, den sie gerade verlieren, hatte das EDA einen Bericht zur Schweizer Neutralität erarbeitet. Der Bundesrat kam Ende 2005 zur Ansicht, dass keine Neudefinition nötig sei.
Laut dem bereits vorliegenden EDA-Bericht „Neutralität der Schweiz“ bedeutet Neutralität im Bereich der Staatenwelt „die Nichtbeteiligung an einem bewaffneten Konflikt zwischen anderen Staaten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem Neutralitätsrecht einerseits und der Neutralitätspolitik andererseits.“
Hier ein Auszug aus dem Bericht: „Das Neutralitätsrecht enthält diejenigen Regelungen des Völkerrechts, die zwischen dem Neutralen und den kriegsführenden Staaten im Falle eines internationalen bewaffneten Konflikts zu beachten sind. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um das Recht des Neutralen, durch den Konflikt unbehelligt zu bleiben sowie um dessen Pflicht zur Unparteilichkeit und Nichtteilnahme. In der Praxis schränken diese Regelungen die Handlungsfreiheit des Neutralen bloss geringfügig ein. Quellen des internationalen Neutralitätsrechts bilden das Völkergewohnheitsrecht sowie die Haager Neutralitätsabkommen von 1907. Das Neutralitätsrecht ist einzig in zwischenstaatlichen Konflikten anwendbar, nicht aber in rein internen Konflikten (z. B. Bürgerkriege). Ebenfalls keine Anwendung findet das Neutralitätsrecht, wenn die Vereinten Nationen zur Wahrung des internationalen Friedens und der Sicherheit gegen einen Rechtsbrecher mit Zwangsmassnahmen vorgehen (...).
Die schweizerische Neutralität kennzeichnen 3 Merkmale: Sie ist selbst gewählt, dauernd und bewaffnet. Die Schweiz erklärt somit bereits in Friedenszeiten, aus freien Stücken und in jedem künftigen bewaffneten Konflikt das Neutralitätsrecht zu beachten. Dauernd bedeutet jedoch nicht immerwährend; auf die frei gewählte Neutralität kann die Schweiz auch frei wieder verzichten. Solange sie neutral bleibt, hat sie jedoch gewisse Regeln zu respektieren. Dazu zählt unter anderem die Erfordernis, den Neutralitätsstatus bei Bedarf militärisch zu verteidigen.
Die Neutralität ist von der Schweiz nie als Selbstzweck oder gar als Ziel ihrer Aussen- und Sicherheitspolitik verstanden worden. Vielmehr stellt die Neutralität ein Mittel unter mehreren zur Gewährleistung der äusseren Sicherheit der Schweiz dar. Sie bleibt solange ein Instrument der schweizerischen Aussen- und Sicherheitspolitik, als sie zum Schutz vor äusseren Bedrohungen und Gefahren wesentlich beitragen kann. Es ist deshalb stets kritisch zu hinterfragen, ob die Neutralität tatsächlich der bestmöglichen Wahrnehmung der aussen- und sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz zu genügen vermag. Sollte sich eines Tages ein tragfähiges internationales Sicherheitsdispositiv – z. B. im Rahmen der EU – bewähren, welches der Schweiz ebenso viel Sicherheit bieten würde wie die Neutralität, so könnte zu Gunsten eines solchen Sicherheitssystems auf die Neutralität verzichtet werden.“
Ende Zitat. Es geht bei dieser Definition der Neutralität also vor allem darum, die Sicherheit der Schweiz zu gewährleisten. „Mischt Euch nicht in fremde Händel“ gilt in der Schweiz seit dem heilig gesprochenen Niklaus von der Flüe (1417−1487). Formell ist die Schweiz seit 1515 neutral; kein anderes Land in Europa hat eine derart lange Neutralitätstradition. Vor allem wichtig ist es für ein neutrales Land, keinem militärischen Bündnis wie etwa der US-beherrschten Nato beizutreten. Aber solch hehre Grundsätze sind inzwischen gelockert worden. Die Schweizer Armee macht sich immer Nato-tauglicher und verliert dadurch zunehmend Unterstützung im Volk. Die Schweiz ist einfältigerweise 1996 der Nato-Partnerschaft für den Frieden beigetreten, ohne zu merken, dass die Nato alles andere als eine Frieden stiftende Organisation ist (siehe Einsätze in Ex-Jugoslawien, insbesondere im Kosovo, in Bosnien und Herzegowina).
Die Aufweichung der Neutralitätsgrundsätze wird im erwähnten EDA-Bericht beschönigend wie folgt festgehalten: „Sowohl Inhalt als auch Tragweite der schweizerischen Neutralität waren vielfachen historischen Veränderungen unterworfen. Die Schweiz hat ihre Neutralitätspolitik immer wieder flexibel den internationalen Notwendigkeiten und den eigenen Interessen angepasst, wie z. B. die schweizerische Sanktionspolitik im 20. Jahrhundert zeigt: So nahm die Schweiz in der Zwischenkriegszeit als Mitglied des Völkerbundes an internationalen Wirtschaftssanktionen gegen Völkerrechtsbrecher teil, während sie nach 1945 unter dem Eindruck des Kalten Krieges von Sanktionen Abstand nahm. Mit der Beendigung der bipolaren Weltordnung zu Beginn der 90er-Jahre hat sich die Schweiz grundsätzlich bereit erklärt, wie auch die übrigen neutralen Staaten, nichtmilitärische Zwangsmassnahmen der internationalen Staatengemeinschaft gegen einen Rechtsbrecher zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Friedens solidarisch zu unterstützen. Die Schweiz nimmt seit 1990 regelmässig an internationalen Sanktionen teil, sofern dies der Wiederherstellung des rechtmässigen Zustandes und der Wahrung der schweizerischen Interessen dient.“
Soweit das Zitat. Wenn die Schweizer Neutralität also bedroht ist, dann durch den Globalisierungswahn unter US-Führung und das damit verbundene idiotische Mitläufertum. Die Hunderttausende von Kindern, die wegen der Irak-Sanktionen verhungern mussten, sind eines der abschreckenden Beispiele. Die heutige Schweiz lässt sich zu sehr in die Interessen des westlichen, rein auf Eigennutz bedachten Wertegemeinschaft-Klüngels einbinden. Dabei hätte diese Welt eine wirklich unabhängige Schweiz dringend nötig, eine Schweiz, die nicht das Leichentuch des Schweigens über Massaker ausbreitet, wenn dieses von „Verbündeten“ veranstaltet wird, sondern sich aufrafft, sich im Klartext für die Menschenrechte und ein moralisches Verhalten einzusetzen, von wem auch immer diese mit Füssen getreten werden mag.
Micheline Calmy-Rey war (ich wage schon nicht mehr „ist“ zu schreiben) ein Hoffnungsschimmer. Aber im Rahmen der neoliberalen Globalisierung ist das wahrscheinlich unstatthaft.
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