Textatelier
BLOG vom: 27.08.2006

Als im Botanischen Garten Bern gerade die Wegwarte blühte

Autor: Walter Hess
 
Eine einzigartige Artenfülle: Mehr als 6000 Pflanzenarten aus aller Welt sind im Botanischen Garten Bern der Universität Bern unterhalb des Kursaals und auch der Lorrainebrücke am Aareufer versammelt. Natürlich gehört die Wegwarte dazu. Am 24. August 2006 hatte diese blaublütige Pflanze (Cichorium intybus L.) aus der Familie der Korbblütengewächse (Asteraceae = Compositae) dort ihren grossen Tag. Überall im Garten, der gerade von einem Regenguss getränkt worden waren, standen Hinweistafeln mit der Wegwarten-Blüte: Der Wegwarte Verlag feierte die Vernissage für 3 Buch-Neuerscheinungen und der Verlagsgründer Fernand („Sepp“) Rausser seinen 80. Geburtstag. Zugegeben: Da kam etwas viel auf einmal zusammen. Dröseln wir die Fülle also thematisch auf
 
Der Botanische Garten Bern: Ich war zum ersten Mal dort und habe darüber gestaunt, was in jener buntscheckigen, einfühlsam angelegten Pflanzenoase am steil abfallenden Gelände, der zur Aare abfallenden Sonnenhalde auf etwa 520 m ü. M., auf dem allseits begrenzten engen Raum alles untergebracht ist und bewundert werden kann. Zauberhafte Bilder, filgrane und grossformatige. Zahllose Pflanzen, auch riesige Bäume, Gehölze aus der Gründungszeit (1858), und blühende Pölsterchen auf Tuffsteinen sind dort vereint, von denen ich noch nie gehört und die ich noch nie gesehen hatte – zum Glück sind sie alle sorgfältig beschriftet, ein Eldorado für Entdecker.
 
Dort gedeihen Pflanzen zum Beispiel aus dem Himalaya und vielen anderen asiatischen Regionen, den Rocky Mountains, dem Mittelmeerraum und den Schweizer Alpen, ferner Zier- und Nutzpflanzen (z. B. Bitterorangen, Kakao- und Kaffeebäume) wie auch herrlich duftende Heilpflanzen (nach Wirkstoff-Gruppen wie Alkaloide, Schleim, ätherische Öle, Bitter- und Scharfstoffe, Gerbstoffe und Glykoside eingeteilt). Hier wird die Bedeutung der Volks- oder Erfahrungsmedizin in Erinnerung gerufen, dieser Jahrtausende alten Erfahrungsheilkunde, die unübertrefflich ist. Auf einem Prospekt des Botanischen Gartens habe ich gelesen, das Weiterbestehen des Heilpflanzengartens sei in Frage gestellt, weil eine Gärtnerstelle zugunsten von Forschungszwecken eingespart werden musste. So sind jetzt Spenden nötig, damit dieser Sektor erhalten werden kann. Und sogar einen Bauerngarten, wie er im Kanton Bern üblich war, lockt mit seinen Buchsbaum-Umrandungen die Besucher an. Und in kurzer Distanz davon gibt es See- und Teichrosen sowie Lotosblumen. Im Palmenhaus ist die Seerose von Santa Cruz (Victoria cruziana) anzutreffen, die an überdimensionierte Kuchenbleche in Grün erinnert, eine weltberühmte Wasserpflanze, der ich nicht einmal in Amazonien begegnet bin. Man erspart sich mit einem Besuch im Berner Garten also viele Gepäckdurchsuchungen und Flugstunden, Prozeduren, die ich mir nur in unvermeidbaren Fällen antue.
 
Selbstverständlich kann dieser Garten von Welt als so genannte „Lunge der Stadt Bern“ nicht alle klimatischen Voraussetzungen gewährleisten. Und so wurden denn für tropische und subtropische Pflanzen wie Kannenpflanzen, die Flaschenplame mit den an der Spitze verdrehten Blättern, Hibiscusarten, Steppenpflanzen usw. usf., mehrere Glas-Schauhäuser mit unterschiedlicher Temperatur eingerichtet. Man fühlt sich zeitweise in einem tropischen Regenwald, obschon dieser, wie ich aus eigener Anschauung weiss, niemals so vielfältig auf engem Raum ist wie etwa das Palmen- und Farnhaus. Auch Zitronenbäume, Mandelbäumchen und dergleichen Exoten können unsere frostigen Winter im Freien nicht ertragen, müssen mit deshalb Kübeln Vorlieb nehmen und kommen im Spätherbst in die Orangierie. Wir halten das mit unseren eigenen Zitrusfrüchten und auch der Aloe-vera-Sammlung, die ein wesentlicher Bestandteil unserer Hausapotheke ist, nicht anders.
 
Wie ein modernes Patchwork-Kunstwerk mutet das Insektenhaus an – aus hohlen Halmbündeln, löchrigen Steinen wie Backsteinen, angebohrten Hölzern usf. zusammengefügt. Es ruft in Erinnerung, dass das Naturgeschehen aus lauter Vernetzungen besteht und ihm halt manchmal etwas nachgeholfen werden muss. Nach meinen Beobachtungen ist der Insektenwohnblock im Botanischen Harten nicht besonders stark besiedelt; denn dort gibt es wohl ohnehin genügend Lebensräume für die Insektenvölker. Also dient das stolze Gebäude wahrscheinlich vor allem dazu, Impulse zu geben.
 
Der BOGA, wie die Kurzform für den Botanischen Garten lautet, ist sozusagen ein biologisches Konzentrat, in dem man sein Wissen erweitern kann – innerhalb wunderbarer Düfte. Er ist das ganze Jahr über von 8 bis 17 Uhr (Oktober bis Februar) bzw. bis 17.30 (März bis September) offen, am Mittwochabend sogar bis 21 Uhr; der Eintritt ist frei. Einen eigenen Parkplatz hat der Garten nicht; doch unter dem Kursaal ganz in der Nähe ist einer.
 
Der Wegwarte-Verlag: Und nun wechseln wir zum Papier, ebenfalls einem Pflanzenrohstoff: Im Jahr 2002 hat der Meisterfotograf Fernand Rausser seinen Wegwarte Verlag, CH-3065 Bolligen BE gegründet. Bis heute sind 16 Bücher erschienen, wenn ich richtig gezählt habe. Trotz des verblüffenden Produktionstempos sind alle Bücher und Geschenkbändchen ausgesprochene Individualisten, höchst originell, was die Thematik, Inhalt und das mit graphischem Feingefühl gestaltete Erscheinungsbild betrifft.
 
Die 3 Neuerscheinungen, die gerade Marktreife erlangt haben, sind das Geschenkbändchen „Mach mal Pause!“ von Markus Traber (Text) und Fernand Rausser (Fotos), ein Büchlein zum Entspannen, sodann „86 Paradiese“ von 86 verschienen Text- und Bildautoren (jede Buchseite ist individuell gestaltet) und „Warum mein Herr?“ (Texte und Bilder) von Fernand Rausser. Dieses Buch mit seinen ergreifenden, in einem weichen und einem harten Schwarz gedruckten Aufnahmen aus dem umfangreichen Rausser-Archiv, stellt provokatorische Fragen, etwa diese:
 
„Mein Herr, eines der grossen Rätsel, das Du uns stellst, ist das Altwerden. Wenn ich Deine Konstrukte betrachte, einen Grashalm zum Beispiel, oder eine Mücke oder einen Menschen, dann staune ich. Wenn ich aber realisiere, dass all diese grossartigen Gebilde wachsen und wachsen und schliesslich zerfallen, dann begreife ich diese Schöpfung nicht. Diese Verschwendung ist absurd. Warum konstruierst Du uns nicht einfach so, dass wir gross werden bis zu einem idealen Alter, vielleicht eine halbe Ewigkeit, solang es Dir gefällt? Du lächelst, mein Herr? Du spürst es, diese Zeilen wurden von einem alten, baufälligen Mann geschrieben.“
 
Nun, so baufällig ist der alte Sepp Rausser auch wieder nicht! „Blütezeit“ steht auf einem Button, der zu Ehren des 80-Jährigen hergestellt worden war. Wie das bei Orangenbäumen der Fall ist, trägt er Blüten und Früchte zur gleichen Zeit. Und weil das Leben (laut Udo Jürgens) mit 66 anfängt, ist der Sepp jetzt gerade 14. Das trifft den Sachverhalt schon besser.
 
Doch bei seiner pausenlosen Buchproduktionen geht es ihm nicht um einen finanziellen Gewinn – im Gegenteil: „Ein Verlag ist eine Geldvernichtungsmaschine, das kann man ruhig so sagen“, zitierte ihn Rosmarie Borle im „Berner Bär“ vom 24./25. August 2006. Selbstverständlich bescheinige ich ihm aus eigener (vorausgesehener) Erfahrung, diesbezüglich vollkommen Recht zu haben. Es geht dabei mehr um ideelle Werte, vielleicht um die Verbreitung von ein paar Botschaften an einen auserlesenen Kreis von Personen, deren Verbreitung sich betagte und unabhängige Männer etwas kosten lassen, um noch letzte minime Impulse für eine hoffentlich bessere Welt zu geben. Und es genügt, wenn für sie dabei wenigstens das gute Gefühl, ein bisschen nützlich gewesen zu sein, herausschaut.
 
Die Vernissage inner- und ausserhalb des BOGA war von Treibhaus-füllenden Jodel- und Heimatgesängen von Christine Lauterburg, die sich gleich selber mit der Geige begleitete, und Markus Traber als traditionellem Berner Troubadour mit Lokalkolorit begleitet. Traber hatte übrigens auch den Begleittext zum Pausen-Büchlein geschrieben. Roland Batt amtete diskret als „Tätschmeister“ (Moderator). Die Hauptansprache vor den rund 240 Personen hielte der beliebte Fernsehmann und „Glückskette“-Leiter Roland Jeanneret, der aus dem Inhalt einer Zeitschrift vom 24. August 1926, dem Geburtstag von Sepp, auf den turbulenten Charakter des Jubilars schloss. Eugen Götz-Gee, ADD AG, Bern, sprach zur den kreativen Ideen und Hintergründen; er gestaltet, teilweise zusammen mit seinem Sohn Neil Götz, die Wegwarte-Bücher. Die 3 neuen Bücher wurden von Walter Lüdin („Warum mein Herr?“), Rosemarie Borle („86 Paradiese“) und von mir („Mach mal Pause!“) vorgestellt.
 
Frühere Produktionen und Bauch-Buch: Fernand Rausser publiziert unter anderem übers Pausieren, ist aber ein harter Arbeiter – „ein Mensch mit seinem Widerspruch“, wie es bei Konrad Ferdinand Meyer heisst.
 
Rausser als einer der bekanntesten und talentiertesten Fotografen der Schweiz hatte schon früher zahlreiche (über 40) Bücher geschaffen (damals allerdings in anderen Verlagen). Dazu gehört das Büchlein „Fett mit Sepp. Ein Loblied auf den Bauch“, das Mitte der 1970er-Jahre erschienen ist. Es ist eine parodistische Gebrauchsanleitung für Spindeldürre, die etwas an Umfang und sozusagen an Grösse gewinnen wollen. Ich habe damals das Büchlein entdeckt und gleich verschlungen: „Befreit Euch!“ rief der Autor, ein hervorragender Koch übrigens und leiblichen Genüssen sehr wohl zugetan, den zart gebauten Schlanken zu. Er riet, sich von Trockenreis-Broschüren zu verabschieden, endlich einsichtig zu werden und sich von den Vorteilen und Schönheiten des Bauchs überzeugen zu lassen. Das wurde durch vom Autor höchstpersönlich geschaffene Karikaturen untermauert, die offenbar in der Toscana, Sepps 2. Biotop, entstanden waren und klar machten, dass es um alles andere als um den Waschbrettbauch ging. Die Leibesfülle müsse endlich zu ihrem Recht kommen, verkündete er. Er riet zum Bestreichen der Speckschnitten mit Butter, zu ausgiebigen Ruhezeiten nach dem Essen – und man solle „nicht ohne Ursach’ Gänge tun“. Also wieder eine Form von Pausemachen.
 
Sepp hat seine eigene Diät nur mässig befolgt, wie ich selber feststellte, als ich ihn vor wenigen Jahren endlich persönlich kennen lernte; sein Bauchansatz hält sich in Grenzen. Er ist tatsächlich ein wegweisender Mensch in seinem Widerspruch und fotografiert das Thema Pause – ohne selber vom Müssiggang befallen zu sein. Aber er hat einen „Mut zur Courage“ (der pleonastische Ausdruck stammt von ihm), der ihn zusätzlich sympathisch und unverwechselbar macht.
 
Fernand Rausser hat mein Buch Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“ mit hervorragenden Cartoons illustriert (16 Seiten) und auch das Titelbild gezeichnet: ein fischender Einsiedler auf einem Floss mit Holzöfeli und Bett vor Wand aus Hochhausmauern. Wir unterhalten sehr gute, persönliche und verlegerische Kontakte. 2 Wegwarte-Geschenkbändchen durfte ich schreiben: Luft zum atmen sowie „Kiesel und andere edle Steine“, ebenso den Text zum Buch „Garten Schweiz. Berge, Wälder, Seen, Felder“.
 
Epilog: Die Konzentration von Naturausprägungen im Botanischen Garten Bern findet bei Sepp Rausser ihre Parallele: Die Fülle seiner Eigenschaften (er beherrscht die Bild- und Wortsprache perfekt), Ideen und Gedanken scheinen unerschöpflich zu sein. Das alles sind im Zeichen der üblichen Uniformierung Wohltaten, die aus guten Gründen über den grünen Klee beziehungsweise die blaue Wegwarte zu loben sind.
 
Hinweise auf weitere Ausflugsberichte von Walter Hess
 
Hinweis auf ein weiteres Rausser-Blog
 
Adresse des Botanischen Gartens Bern
BOGA Bern
Altenbergrain 21
CH-3013 Bern
Tel. +41 31 631 4945
Fax +41 31 631 4993
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