BLOG vom: 13.10.2006
Gletscher-Exkursion 1: Tauwetter im vereisten Aletschgebiet
Autor: Walter Hess, Biberstein CH
Den Grossen Aletschgletscher kannte ich bisher nur aus Bildberichten und Büchern. Das Gebiet Jungfrau, Aletsch, Bietschhorn ist das erste Unesco-Weltnaturerbe der Alpen, und darüber ist vieles publiziert worden.
Ich hatte den Besuch dieses Naturwunders immer wieder hinausgeschoben – wohl in der Annahme, dass mir der Gletscher und die umgebenden Berge ja nicht davonschmelzen bzw. davonlaufen würden. Doch das hat sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch geändert. Seit dem letzten Längen-Höchststand in den Jahren 1859/60 hat der Aletschgletscher bis 1997 mehr als 3 km Länge verloren (Gesamtlänge heute: etwa 23 km, Oberfläche: 86 km2). Der Gletscher fliesst (wie alles) mit einer Höchstgeschwindigkeit von etwa 200 Jahresmetern talwärts – der Neuschnee, der sich allmählich zu Eis verdichtet, sorgt für Gewicht und stösst nach. Aber dieser Vorgang genügt nicht mehr für die Bestandserhaltung der Gletschermasse: In heissen Sommern wird die Gletscherzunge bis zu 95 m kürzer. Und laut Pro-Natura-Angaben fliessen an warmen Tagen pro Sekunde bis zu 80 Kubikmeter Wasser von der Gletscherzunge aus in die Massaschlucht. Bemerkenswerterweise befindet sich der untere Teil des Gletschers unterhalb der Waldgrenze.
Der Grosse Aletschgletscher am Südhang des Jungfraumassivs im Einzugsgebiet der Rhône (Rotten) ist von 2 weiteren Gletschern begleitet: dem Mittelaletschgletscher und dem Oberaletschgletscher. Sie waren einst ein zusammenhängendes Gletschergebilde, sind heute aber getrennt, eine Folge der Klimaerwärmung auch dies.
Selbstverständlich gab es immer Klima- und Niederschlagsschwankungen, aber noch nie war der Einfluss des menschlichen Tuns mit der damit verbundenen Kohlendioxidproduktion (CO2, und auch Methan und Fluorchlorkohlenwasserstoffe spielen eine Rolle) so enorm wie heute. Noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden im Aletschji, einer Alp unterhalb der Bellalp, Kreuze aufgestellt, womit die dort lebenden Menschen das weitere Vordringen des Gletschers bannen wollten. Das scheint nachhaltig gewirkt zu haben: Es setzte eine Rückbildung ein!
Zu den natürlichen Klimaschwankungen kamen durch die Motorisierung und Industrialisierung zunehmend anthropogen inszenierte Einflüsse, die sich mit den natürlichen kumulierten. Und es leuchtet ein, dass im Treibhaus Erde das Gletschereis keine Existenzmöglichkeit hat, und mag es noch bis zu 900 m dick sein, wie im Bereich des Konkordiaplatzes des Grossen Aletschgletschers, wo 3 grosse Eisfelder (Grosser Aletschfirn von Ebnenfluh und Aletschhorn, Jungfraufirn von Jungfrau und Mönch und das Ewigschneefeld von Mönch und Fiescherhorn sowie auch der kleinere Grüneggfirn, der über die Grünhornlücke mit dem Fieschergletscher verbunden ist) zusammenfliessen. Dort hat der Gletscher seine Rekord-Mächtigkeit. Die Firnregion liefert die Nahrung für den Gletscher, weil die Niederschläge hier fast ganzjährig in Form von Schnee fallen. Die Umwandlung von Schnee in Eis mit wenig Luftblasen, das blau leuchtet, dauert hier etwa 10 Jahre – die Natur hat keine Eile. Das Gewicht bringt die Eismassen dann zum Fliessen, wie gesagt, an der Oberfläche etwas schneller, unten langsamer. Im Bereich des Aletschwalds ist der Gletscher noch 100 bis 150 m dick. Die riesigen Eismassen bewirken, dass der Gletscher eine Reaktionszeit von 25 bis 30 Jahren hat – aber dann legt das grosse Schmelzen an Tempo zu.
Ausblick vom Eggishorn
Das Eggishorn (2926 m ü. M.) bietet einen guten Überblick auf diese imposante Gletscherlandschaft. Man erreicht den Berg problemlos mit der Seilbahn vom Feriendorf Fiesch VS im Goms; die Eisenbahn (bzw. das Postauto) ist in der Nähe, und für Motorisierte, die ihren persönlichen Beitrag zur Eisschmelze leisten wollen, gibt es bei der Seilbahnstation ausreichend Parkplätze. Ich bestellte Billetts zum Eggishorn, zurück zur Mittelstation Kühboden und (nach der Wandereinlage) von der Riederalp mit einer der beiden dortigen Bahnen nach Mörel. Ich wurde sofort von der Aktion „Herbstsonne“ erfasst, erhielt noch einen Gutschein für ein einfaches Essen in einem an der Aktion beteiligten Gasthaus nach freier Wahl und bezahlte 35 CHF (mit Halbtaxabonnement 29 CHF) pro Person, was mir sehr günstig zu sein schien. Und die Herbstsonne schien an jenem 8. Oktober 2006 wirklich herrlich, gewissermassen als Zugabe.
Wir starteten um Mittag in der vollgepferchten Kabine der Seilbahn, die es seit 1963 (Baubeginn) gibt, schwebten sanft schaukelnd in die Höhe, stiegen im Kühboden in eine etwas kleinere Kabine um und waren bald am Ziel, auf dem Eggishorn (Höhe der Seilbahnstation: 2869 m ü. M.). Nach wenigen Schritten offenbarte sich uns diese alpine Bilderbuchwelt unter rein blauem Himmel.
Wie eine riesige Römerstrasse mit 2 Spuren für die Wagenräder in der Mitte lag der sanft gebogene Gletscher mit seiner oft grauen, angerauten Oberfläche vor uns. Die beiden dunklen Streifen, die den Gletscher auf seiner ganzen Länge begleiten, markieren die Mittelmoränen. Die Mittelmoräne entsteht beim Zusammenfliessen von 2 Gletschern, wobei sich je eine Seitenmoräne (am Gletscherrand abgelagerter Schutt und Sand) zu einer einzigen Moräne vereinigen. Die Mittelmoräne besteht also vor allem aus Gesteinsmaterial (so genanntem Schutt) wie auch aus Geröll, das durch die Gletscherabschmelzung allmählich an die Oberfläche findet.
Der Ausblick kann noch etwas erweitert werden, wenn man sich in einer etwa viertelstündigen Wanderung auf die höchste Erhebung des Eggishorns begibt; es sind noch 57 Höhenmeter zu überwinden. Man sieht sich inmitten eines grandiosen Panoramas, rundum Berge: Mönch, Eiger, Jungfrau, Wannenhorn, Finsteraarhorn, im Westen das Weisshorn, die Mischabelgruppe mit dem Dom, und in der Ferne entdeckt man sogar das Matterhorn. Ein Fest fürs Auge. Man ist mitten in einem gigantischen Bergkranz, ja einer Bergkrone, die ins Gletschereis eingebettet ist.
Die von Gletschern gestaltete Landschaft
Die Gletscherbewegungen bearbeiten und formen das von ihnen berührte Felsmaterial mit elementarer Kraft. Ganze Felspartien werden dabei abgeschliffen und treten nach einem Gletscherschwund als so genannte Rundhöcker an die Oberfläche. Die Schrammen zeigen, in welcher Richtung das Eis geflossen ist. Auch am Rand der Aletschgletscheroberfläche gibt es solche Schleifspuren in Form kahler Stellen, welche über den Gletscherrückgang, das heisst über das Absinken der Eisoberfläche, Auskunft geben. In solchen Gebieten und anderswo, wo die Permafrostböden tauen (Steinschlag, Hangdestabilisierungen, Murgänge, Lawinen, Hochwasser), sind die Folgen des Treibhauseffekts besonders deutlich zu erkennen; es sind Schlüsselindikatoren für unser Klimasystem mit Signalcharakter.
Schon zwischen 1980 und 1990 hat sich die Schmelzgeschwindigkeit der Alpengletscher gegenüber dem Jahrhundertmittel verdoppelt. Eigentlich müsste man Exkursionen für jene Schul-Meteorologen hierhin machen, die sich noch heute unsicher geben, ob denn die Klimaänderung etwas mit den menschlichen Aktivitäten zu tun haben könnte. Allerdings können sie die Fakten kaum noch ignorieren. Neoliberale Wissenschaftler wollen der Wirtschaft und damit auch dem Verschleiss fossiler Rohstoffe eben nicht an den Karren fahren. Man hat das schon zur Genüge erlebt.
Nachdem wir uns sattgesehen und der Ausstellung von Jörg Amsel zum Thema Wasser „Vom Gletscher – zum Meer“, eine Folge von 50 eindrücklichen, kunstvollen Farbbildern (Dauer der Ausstellung bis zum 23. April 2007) einen kurzen Besuch abgestattet hatten, gondelten wir zum Kühboden hinunter. Von dort aus folgten wir dem gelben Wanderwegweiser „Bettmeralp“, vorbei an wunderschönen Weiden mit feuerrot eingefärbten Heidelbeerbüschen, Alpenrosensträuchlein, Steinen und Ausblicken auf das Zickzack von Bergen am Horizont. Der Weg ist breit, gut unterhalten und in knapp 2 Stunden problemlos zu bewältigen. Immer wieder fliegen Seilbahngondeln über den Wanderer hinweg und werfen ihre Schatten wie grosse Vögel – das Gebiet ist mit Tragseilen reich erschlossen.
Wir liessen den Bettmeralpsee links liegen und stiegen in der Hitze des späteren Nachmittags zum Blausee hinauf, was ich unter diesen Bedingungen als ziemlich beschwerlich empfand. Der Weg ist wie eine kleine Passstrasse und erfordert trotz Ausschwemmungen keine besonderen Wandertalente. Bei dem kleinen Seelein, aus dem Grashalme wie Eiskristallnadeln leuchteten, machten wir eine Pause, führten uns hinreichend mitgeschlepptes Wasser zu und assen ein belegtes Vollkornbrötchen – im Wallis sind schwere Vollkornbrote ja schliesslich Trumpf.
Mit neuen Kräften folgten wir dem Wegweiser „Riederfurka“, hinauf ins Gebiet Hohfluh. Man umrundet grössere Steine und Pflanzenbüschel sowie Steine und hat wunderschöne Ausblicke, bis ein grüner Wegweiser bei einem Orientierungshäuschen hinunter in Richtung Grosser Aletschgletscher weist: „Aletschwald“ steht darauf und der Hiweise dass man zum Pro-Natura-Informationszentrum auf der Riederfurka finde. Man passiert ein kleines Drehtor, begibt sich vorsichtig knapp 100 Höhenmeter steil hinunter und findet sich im Aletschwald. Der Weg dreht nach links (Westen) und folgt dem Gelände in leichtem Auf und Ab.
Wunderwanderweg durch den Aletschwald
Die herbstliche Abendsonne beleuchtete dieses Aletschwald-Naturwunder, in dem Lärchen und andere Pflanzen bereits die Herbstfärbung angenommen hatten vor dem Hintergrund des Aletschgletscher-Unterteils: Kalenderbilder im Grossformat. Auf diesem Wanderweg bewegt man sich mühelos zwischen Steinen und knorrigen Bäumen wie den uralten Arven, die 600 bis 700 Jahre auf dem Buckel resp. den Ästen haben und sich auf Totholz verjüngen, und Fichten, einigen Birken, Grünerlen und Ebereschen, rostblättrigen Alpenrosen, Felsen mit grünen Flechten, an denen Nadelbäume förmlich kleben. Auch das Alpenleinkraut, der Alpensäuerling und der Bewimperte Steinbrech gedeihen hier – ein Lebensraum auch für Tiere inkl. Vogel-Raritäten und Pilze voller Kraft und Saft, der eigentlich denkbar ungünstige Lebensbedingungen bietet. Eine Müdigkeit kann vor lauter Staunen nicht mehr aufkommen.
Der Aletschwald befindet sich heute im Besitz des Schweizerischen Bunds für Naturschutz (neuer Name: Pro Natura), ist also in den besten Händen. Das Schutzgebiet umfasst heute 330 Hektaren (ursprünglich: 250 ha). Es hat sich wegen des Absinkens der Gletscheroberfläche allmählich vergrössert.
Das Pro-Natura-Zentrum Aletsch
Nach einer guten Stunde (ab dem Aufbruch beim Blauseelein) tauchten auf einer Anhöhe die Riederfurka-Gebäude mit der dominanten Villa Cassel auf – wir wären gern noch lange so weitergewandert; aber inzwischen war es Abend geworden.
Die Villa war ursprünglich ein Feriensitz eines reichen Engländers, dem Londoner Bankier Sir Ernest Cassel, der 1921 starb. Darauf wurde das filigrane Gebäude, gewissermassen ein verspieltes überriegeltes Riegelhaus, und die dazu gehörenden Bauten an die Hotelier-Familie Cathrein verkauft. Nachdem das Hotel unrentabel geworden war, ergab sich Anfang der 1970er-Jahre für den SBN die Chance, das „Hotel Villa Cassel“ zu kaufen und darin sein Informationszentrum einzurichten. Ich deckte mich hier ausgiebig mit Literatur und Prospekten ein, kompetent beraten von einer netten jungen Dame.
Nach einer halben Stunde Abstieg auf einer befahrbaren Strasse (mit steilen, neu gebauten Abkürzungen zwischen den Kurven) erreichten wir die Riederalp, ein veritables Streudorf an prächtiger Aussichtslage. Im erstbesten Gasthaus (Berggasthaus „Toni“) kehrten wir ein, um unseren Ess-Gutschein endlich loszuwerden; an Hunger bestand kein Mangel. Da wurden ein gemischter Salat, Nüdeli, Rot- und Blumenkohl und ein Schnitzel aufgetragen. Wir tranken dazu einen Johannisberger und zeigten uns zufrieden. Nach wenigen Minuten Fussmarsch erreichten wir die Gondelbahn-Station. So erreichten wir via Ried-Mörel nach wenigen Minuten Mörel im Talgrund.
Unterwegs empfahl uns ein erfahrenes, vertrauenswürdiges Ehepaar aus Biel die Übernachtung im Hotel „Aletsch“ der Familie P. Albrecht-Meichtry, das gleich mit der Seilbahnstation zusammengebaut ist – dort trifft auch die Grosskabinen-Pendelbahn aus Riederalp Mitte ein. Wir mieteten ein Zimmer für 55 CHF pro Person, schliefen tief und genossen am anderen Morgen ein reichhaltiges Frühstück mit vielen Käse-, Fleisch- und Brotsorten, Zutaten fürs Müesli und einer Kanne Kaffee.
*
Wir hatten nicht von den armen Seelen träumen müssen, die angeblich im Eis der Gletscher hausen und ihre traurigen Gesänge vom Gletscherwind weitertragen lassen. Uns ging es ja gut, und die Beinmuskeln hatten sich wieder erholt. Wir hörten auch auf der weiteren Gletscher-Exkursion, über die ich in späteren Blogs berichten werde, die erwähnten Stimmen nicht. Aber wenn sie über den Gletscherschwund geklagt hätten, wäre ihnen unser Verständnis gewiss gewesen.
Quelle
Albrecht, Laudo: „Aletsch, eine Landschaft erzählt“, Sammlung: Umweltdepartement des Kantons Wallis, Edition Pilet, Martigny und Rotten Verlags AG, Visp 1997.
Hinweise auf weitere Ausflugsberichte von Walter Hess
09.10.2006: „Goldau SZ: Im Urwald mit den riesigen Nagelfluh-Blöcken“
29.09.2006: „Thalheim–Schinznach-Dorf: Schenkenbergertal-Geschenke“
27.09.2006: „Tessin-Reise (4): Annäherungsversuch an Hermann Hesse“
08.09.2006: „Weissenstein-Ausflug: Weise gehen zu den weissen Steinen“
29.08.2006: „Brunegg: Langsam essen, Wasser trinken nicht vergessen“
25.08.2006: „Bally-Park Schönenwerd: Erholungsraum für Schuhmacher“
15.08.2006: „Auf dem Heidenweg durchs Moor zu Jean-Jacques Rousseau“
12.08.2006: „Ermitage Arlesheim BL: Landschaftsgarten für Romantiker“
24.07.2006: „Vom Staunen und Stauen: Der Eiger bleibt uns erhalten“
05.07.2006: „Kanton Jura: Ein Augenschein ganz am Rande der Welt“
12.10.2005: „Wo ein Bach Wiese heisst und das Lokale betont wird“
Hinweis auf weitere Blogs von Hess Walter
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