Textatelier
BLOG vom: 15.11.2006

Illusion durch Eintauchen: Das Bourbaki-Panorama in Luzern

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Als ich am Montagnachmittag, 6. November 2006, an der Kasse des Bourbarki-Panoramas am Löwenplatz 11 mit umgehängtem Fotoapparat das Eintrittsbillett löste (8 CHF), machte mich die freundliche Kassierin mit welschem Akzent darauf aufmerksam, das Fotografieren sei im Panorama nicht erlaubt. Eine Hausregel, die ich akzeptierte. Ich gab ihr meine Kamera in Obhut und machte mich unbeschwert auf den Weg ins eingeschneite Schweizer Grenzdorf Les Verrières im Jura (Kanton Neuenburg) – eine Etage weiter oben.
 
Dort oben erlebt man eine eindrückliche geschichtliche Szene auf einem Rundbild von 112×10 Metern. Der Besucher findet sich unvermittelt im Zentrum der Trümmer eines Teils der französischen Ostarmee, die sich frierend und halb verhungert in endlosen Kolonnen fortbewegen, in denen auch einige überladene Fuhrwerke mit Pferden am Ende ihrer Kräfte herumstehen. Aus Lautsprechern sind einzelne Schreie und Wehklagen zu vernehmen, manchmal noch ein Kanonendonner in der Ferne. Eisenbahnwagen mit Eis auf den Dächern und Stroh im Innern stehen auf dem Geleise, einer davon in Wirklichkeit. Schweizer Soldaten sammeln Gewehre ein und häufen sie auf – die Entwaffnung diente dem Selbstschutz und als Signal an die Franzosen, dass von dieser Armee keine Gefahr mehr ausgehe – oder stehen herum, vielleicht ein Hinweis auf die damals schwache, vernachlässigte Verteidigungsbereitschaft des Landes. Eine trostlose Szene am Ende des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71.
 
Die zylindrische Leinwandmalerei gewinnt an Authentizität, weil im Vorgelände Gegenstände wie der erwähnte Bahnwagen und lebensecht aussehende Puppen eine dreidimensionale Wirkung erzeugen, eine Illusion, welche die Schrecklichkeit früherer Kriege lebensnah zum Ausdruck bringt. Der Besucher muss sich auf seinem Podest bewegen, um alles zu sehen; er wird zum integrierten Bestandteil der Geschehnisse im 19. Jahrhundert. Es ist die Illusion durch Eintauchen (Immersion) – die Grenzen zwischen Bild, Raum und Betrachter gehen ineinander über, wie im digitalisierten Heute bei der „virtuellen Realität“.
 
Ein beliebtes Medium
Überall auf der Welt sind am Ende des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Panoramabilder entstanden, auch in Deutschland, China, Nordkorea, Australien und den USA. Seit 1992 gibt es die internationale Vereinigung (International Panorama Council), die sich bemüht, Panorama-Besitzer, -Betreiber, -Restauratoren, -Maler und -Forscher zusammenzuführen, damit das alte Wissen und Können rund um ein einst bedeutendes, faszinierendes Medium zu bewahren und in neue Projekte auf dem Stand der Zeit einfliessen zu lassen. Auf deren Webseite www.panoramapainting.com findet sich eine Übersicht über die wichtigsten Panoramen der Welt.
 
Wie es dazu kam
Das Bourbaki-Panorama wurde vom Genfer Kunstmaler Edouard Castres (er war als Rotkreuz-Helfer für die Bourbaki-Armee tätig und kannte die Verhältnisse aus eigener Anschauung) zusammen mit einem offensichtlich begabten Malerteam, zu dem auch Ferdinand Hodler als Hilfsarbeiter gehörte, in nur 4 Monaten meisterhaft gemalt; für Hodler war es ein Brotjob. Es hatte wie alle Panoramen den Zweck, das Volk durch eine optische Illusion zu verblüffen, es in eine unbekannte Welt zu führen und zu informieren, aber auch zu unterhalten. Panoramen bilden wie eine überdimensionierte Fotografie Momentaufnahmen im Grossformat ab. Und solche Fotografien waren damals noch nicht an der Tagesordnung, obschon die Fotografiegeschichte wahrscheinlich schon im 13. Jahrhundert mit der Camera obscura begonnen hatte und im 19. Jahrhundert bei Aufnahmen angelangt war, die als Unikate im Edeldruckverfahren hergestellt wurden. Wer ein Panorama besuchte, musste nicht mit einem Fotografierverbot belegt werden.
 
Die Allansicht (das bedeutet der aus dem Griechischen abgeleitete Begriff Panorama nämlich) schaffen heute auch Filmkameras, die sich im Kreise drehen, wobei die von einem runden Panorama erzeugte Illusion wahrscheinlich nach wie vor unübertroffen ist, auch wenn das menschliche Gesichtsfeld durch die Kopf- und Körperdrehung immer nur einen bestimmten Ausschnitt zu erfassen vermag. Den Rundumblick haben wir so wenig wie den Durchblick und den Überblick.
 
Vor allem nahmen damals Zeichner und Maler die Aufgabe des Abbildens wahr, und sie fürchteten sich regelrecht vor der langsam aufkeimenden Fotografie. Die Maler sahen voraus, dass Kunst dadurch überflüssig werden könnte: Der Historienmaler Paul Delaroche (1797−1856) rief 1839 nach der Verkündung des Fotopatents vor der Akademie der Wissenschaft in Paris aus: „La peinture est morte.“ Falsch. Es gibt sie noch heute. Ja, der Maler konnte sich neu entfalten, nachdem er vom Zwang befreit war, realistisch zu sein. Aber selbstverständlich litt das Talent zum genauen Abbilden darunter. Es gibt heute nur noch wenige wissenschaftliche Zeichner, die das können; die mit dem Textatelier.com verbundenen Künstler Sonja Burger, Sabine Hofkunst Schroer und Rolf Walter (siehe auch Bildergalerie) gehören dazu. Viele Maler benutzten fortan und benützen eine Fotografie als Malvorlage. Der 1967 geborene, in Berlin tätige Künstler Magnus von Plessen ist einer der Maler, die nach der Fotografie malen; seine Werke waren im Februar 2001 im Kunstmuseum Luzern ausgestellt.
 
Mahnmal gegen den Krieg
Das Bourbaki-Panorama zeigt selbstredend nur eine begrenzte Momentaufnahme aus dem Kriegsgeschehen von 1871 zwischen dem Frankreich Napoleons III. und Preussen. Nach Angaben von Patrick Deicher, Kurator und Konservator am Bourbaki Panorama in Luzern, dem Blogatelier gegenüber hatten kleine Teile der französischen Ostarmee jenseits der Schweizer Grenze im französischen Jura so wenig Feindberührung, dass sie beinahe unbeschadet die Grenze zur Schweiz übertreten konnten. Das Gros aber befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Deicher dementierte Angaben, wonach ein Grossteil der französischen Armee in Frankreich verblieb. Einzig eine starke Besatzung des Forts du Joux blieb zurück und leistete bis Kriegsende erfolgreich Widerstand. Einem Tei der Bourbaki-Armee gelang die Flucht ins südliche Frankreich. Es handelte sich dabei um die Freiwilligenverbände unter dem Kommando von General Giuseppe Garibaldi. Soweit die Angaben von Patrick Deicher.
 
Die Schweizer Verteidigungsbereitschaft, um die sich der weitsichtige, aus Aarau stammende General Hans Herzog (1819−1894) als Oberbefehlshaber der Grenztruppen so sehr und mit schwachem Erfolg bemüht hatte, war an einem kleinen Ort, wurde aber von den ausländischen Kriegsparteien zum Glück überschätzt. Immerhin zeigte sich die Schweiz bei der kaum zu bewältigenden Aufgabe, gut 87 000 ausgehungerte und verletzte Soldaten zu betreuen, von ihrer humanitärsten Seite; auch die Zivilbevölkerung half in vorbildlicher Weise mit, so dass die vielen Gäste während 6 Wochen versorgt und damit am Leben erhalten werden konnten. Deicher: „Eine humanitäre Meisterleistung."
 
Das Bourbaki-Panorama zeigt einen Ausschnitt aus jenen Stunden, als die Soldaten im Val de Travers ankamen, einen Moment, der zur Anklage gegen den Krieg wird. Denn hier werden keine Siege gefeiert, sondern die schmerzlichen Seiten des Kriegs augenfällig dargestellt. Würden sich heutige Maler in ähnlicher Weise der Verwüstungen und Verstümmelung von Menschen bei Bombardierungen mit Streubomben durch die Amerikaner und Israelis annehmen, hätte dies wahrscheinlich trotz der modernen Überflutung mit Bildern noch immer eine ähnliche Wirkung. Die heutigen Bilder, die über die Medien verbreitet werden dürfen, sind weitgehend zensuriert; in den USA dürfen nicht einmal die Särge für die toten Soldaten abgebildet werden. So leben wir in einer Welt der falschen Illusionen, die auf die Bedürfnisse machtgieriger Nationen, die zu Völkermorden neigen,  zugeschnitten sind.
 
Mystery-Park von damals
Die 1500 Quadratmeter Ölmalerei auf Leinwand sind 1881 in Genf entstanden. Doch nach 8 Jahren nahmen die Besucherzahlen ab. Ein wenig erinnert mich diese Anlage auch aus diesem Grund an den Mystery Park des „Trompeters der Ausserirdischen“ Erich von Däniken in Interlaken, der in diesen Tagen (vorläufig?) sein Panorama schliesst. Das Bourbaki-Panorama lief nach dem Besucherrückgang gewissermassen zum Publikum: Es wurde 1889 von Genf nach Luzern gezügelt und dort in einem eigens dafür erstellten Gebäude dem Publikum zugänglich gemacht. Diesmal hatte das Bourbaki-Panorama Erfolg; es kam über die Runden. 1926 wurde im Erdgeschoss des Panoramagebäudes die Autogarage Koch eingebaut, und zweimal wurde das monumentale Bild aus Platzmangel um insgesamt 4,5 m verkleinert. Ein Verein begann Mitte der 1970er-Jahre damit, die Schäden zu beheben, die selbst durch eindringendes Regenwasser und Taubenkot herbeigeführt worden waren. Und in den 7 Jahren bis 2003 wurde das Rundbild aufwändig restauriert. Auch das Gebäude wurde geschickt erneuert und dient im Parterre kommerziellen Zwecken, unter anderem ist dort ein Restaurant.
 
Ich warf eine Etage unter dem Panoramaraum noch einen Blick in diverse Schaufenster mit bemerkenswerten Details zum Bourbaki-Elend und nahm meine Kamera wieder in Empfang. Ob es mir gefallen habe, fragte die Dame an der Kasse. Ja, es sei schon eindrücklich, antwortete ich, und nahm mir vor, das Bourbaki-Panorama mit Hilfe von Buchstaben zu malen; die Medienwelt hält ja viele unterschiedliche Ausdrucksvarianten bereit. Was hiermit für die Nachwelt geschehen sei, wenn auch nur rudimentär.
 
Quellen
Prospekt „Bourbaki Panorama Luzern“, www.bourbakipanorama.ch
Christen, Judith (Projektleitung): „125 Jahre Bourbaki Panorama Luzern“, Zeitungsbeilage, herausgegeben vom Verlag Anzeiger Luzern AG, Rathausquai 10, CH-6002 Luzern.
 
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