Textatelier
BLOG vom: 11.12.2006

Stadt St. Gallen: Handschriften, Riesenglobus und Bratwürste

Autor: Walter Hess, Biberstein CH
 
Eine Landschaft oder eine Stadt mit einem einzigen bezeichnenden Begriff zu charakterisieren, ist in der Regel unmöglich, es sei denn, es gebe ein alles dominierendes Objekt (wie im Aletschgebiet mit seinem grossen Gletscher) oder das Seeland mit seinen Seen. Im Übrigen behilft man sich mit dem schwammigen Begriff „Vielfalt“ oder „Land (Stadt) der Gegensätze“ – das trifft immer zu, sagt aber nichts aus. Besonders schwierig ist die Charakterisierung des Kantons St. Gallen mit seiner Nähe zum Bodensee und zum Alpstein. Der Ostschweizer Kanton ist ein unregelmässiges ringförmiges Gebilde (das die beiden Appenzeller Halbkantone umschliesst), und er setzt sich aus ganz unterschiedlichen und immer typischen, selbstbewussten Regionen zusammen. Das trifft selbst auf die Kantonshauptstadt St. Gallen zu. Man kann und darf sie nicht auf das Stift (den Klosterbereich) reduzieren, auch wenn diese dominante Anlage einst ein über viele Grenzen hinaus strahlendes geistiges Zentrum von europäischer Bedeutung war.
 
Ich habe in dieser Stadt die Gewerbeschule mit Schwerpunkt Chemie besucht, deckte mich jeweils im Antiquariat Lüchinger an der Magnihalden mit Lexika und Fachliteratur ein und begab mich gleich daneben ins Kino, das damals auf Schundfilme US-amerikanischer Provenienz (insbesondere Wildwester und Gangsterfilme) spezialisiert war, auch wenn ich das nötige Schutzalter noch nicht ganz erreicht hatte. Beim Billettkauf versuchte ich, mit einer etwas tiefen Stimme zu sprechen, und der Kassier schien nichts zu bemerken. Drinnen war ich froh, dass es dunkel war. Dafür nahm ich 2 Mal 20 km hügelige Velofahrt (von Wald-Schönengrund SG aus) in Kauf – bei jedem Wetter. Der Kinobesuch war der einzige virtuelle Kontakt zur grossen Welt – auch „Der schwarze Pirat“ (Schundromane, am Kiosk gekauft) trugen zur Mehrung des Weitblicks bei. Das Geld beschaffte ich mir durch das Austragen von Zeitschriften. Und ich galt als missratener Sohn, kann mir selber aber auch im Nachhinein mit dem besten Willen keine Vorwürfe machen. Den US-Schrott habe ich mit zunehmender Reife bald einmal überwunden – und die Billigromane liessen mich immerhin zum leidenschaftlichen Leser werden, wovon ich noch heute profitiere – und inzwischen bin ich ja auch diesbezüglich etwas wählerischer geworden.
 
Kalbsbratwürste gehören dazu
Zu St. Gallen gehören aber (für mich) auch die herrlich rahmigen Kalbsbratwürste, die ich diesmal, bei unserem Besuch vom 7. Dezember 2006, in der Metzgerei Schmid (www.metzgereischmid.ch) an der St. Jakobsstrasse 48 (heute von Oscar Peter geleitet) zusammen mit Appenzeller Siedwürsten und die Cervelat-ähnlichen St. Galler Stumpen kaufte – teilweise vakuumiert. Denn ich kann mit dem besten Willen aufs Mal nicht mehr als 1 Olma-Bratwurst (zu 165 g) essen und mag sie nach dem Knacken beim Hineinbeissen (dank des dünnen Schweinsdarms) noch so sehr auf der Zunge zergehen, einen dezenten Macis-Geschmack hinterlassend. Vielleicht sind auch ein bisschen Pfeffer, Zwiebel und etwas Streuwürze mit Glutamat im Spiel, und ohne eine Prise Phosphat geht es auch nicht. Milchpulver gewährleistet die Weissfärbung. Die degustative Identifikation der Gewürzmischung ist schwierig; denn nicht die Gewürze sind das Wichtigste, sondern der Geschmack nach hauptsächlich frischem Kalbs- und Schweinefleisch (Halsspeck). Es gibt auch viele andere St. Galler Metzger, die beste Wurstqualitäten erzielen; aber ich kenne nur wenige von ihnen. Für Tipps bin ich dankbar und hoffe, dass ich diese Lücke noch auffüllen kann. Ich werde bei einem nächsten Besuch im St. Gallischen in einer anderen Metzgerei hereinschauen, vom Wunsch beseelt, das Beste noch zu übertreffen.
 
Überhaupt: Vielleicht hat es mit Erinnerungen zu tun, dass ich die urchige Ostschweizer Gastronomie so sehr schätze. Und so lud ich meine Frau ins Speiserestaurant „Schwarzer Adler“ am Marktplatz 12 in St. Gallen ein, wo die Gasflammen in der Küche brannten und im kleinen, 16 Plätze aufweisenden, mit Holz ausgekleideten Restaurant im 1. Stock 3 Menus angeboten wurden, alles frisch und hausgemacht: Hörnli und Apfelmus (traditionell platziert man das hier in einem grossen Becher, mit Apfelschnitzen dekoriertes Apfelmus auf den butterigen Teigwaren). Eva entschloss sich für eine frische, saftige Pouletbrust zu Serviettenknödeln, und ich freute mich über den hausgemachten Hackbraten mit Marsalasauce und gebratenen Rosmarinkartoffeln. Der empfohlene Hauswein Caroso (1999) aus Montepulciano d’Abruzzo war kraftvoll, passend zu einem königlichen Gericht wie einem Hackbraten aus eigener Küche. Der Wirt, Thomas Scherraus, erwies sich als quirliger Gästebetreuer, gesprächig und zugänglich, wie die St. Galler eben sind. Er fragte angesichts der leeren Teller nicht, ob es gut gewesen sei, sondern: „Isch es fein gsii?“ – zwischen gut und fein ist schon ein Unterschied, besonders wenn das feinnnn speziell betont wird. Als wir das aus Überzeugung bejahten, fügte er bei: „Da haben wir wieder einmal Glück gehabt.“ Eine Etage weiter oben schauten wir uns noch den einzigen Zunftsaal der Stadt St. Gallen mit den bekannten Familienwappen an: Strässle, Burkart, Thörig, Schnyder, Doessegger, Spörri usw.
 
Überwältigende Stiftsbibliothek
Ich will aber nicht verhehlen, dass ein Besuch der Stiftsbibliothek im Westflügel des Klostergevierts der Hauptanlass unserer St.-Gallen-Reise war (www.stiftsbibliothek.ch). Im Barocksaal war kurz vor uns gerade der grosse Erd- und Himmelsglobus angekommen, der wahrscheinlich in Augsburg entstanden war und 1595 von Fürstabt Bernhard Müller (1594−1630) erworben worden ist. Es handelt sich um einen 2,33 m hohen Globus mit einem Kugeldurchmesser von 1,21 m. Er wurde im Toggenburgerkrieg von 1712, dem letzten Konfessionskrieg in der Alten Eidgenossenschaft, von den Zürchern mitgenommen, nachdem der Fürstabt unterlegen war – ähnlich den Plünderungen von wertvollstem Kulturgut durch die Kriegsnation USA bei der Zertrümmerung von Bagdad.
 
Die Sieger im alten St. Gallen, Zürich und Bern, taten sich an den Kulturgütern gütlich, offenbar ein alter Brauch. Ein guter Teil dieser Güter wurde 1718 zurückerstattet; doch viele Handschriften blieben in Zürich, was einen jahrhundertelangen Kulturgüterstreit auslöste, der erst im Frühling 2006 beendet worden ist. Die Kompromisslösung: 40 Handschriften aus der Zentralbibliothek Zürich, die seit dem frühen Mittelalter in der Klosterbibliothek St. Gallen entstanden sind oder hier gesammelt wurden und herausragende Zeugnisse der Schreib-, Mal- sowie Buchkunst und Wissenschaft für St. Gallen und den Bodenseeraum darstellen, kehrten als Leihgaben auf unbestimmte Zeit an den Ursprungsort zurück; das Leiheverhältnis kann frühestens im Jahr 2044 aufgelöst werden.
 
In mehreren Vitrinen sind als Sonderausstellung „Von der Limmat zurück an die Steinach“ etwa 20 der bedeutendsten, nach Zürich verschleppten Handschriften aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit zu bewundern; sie sind durch hauseigene Schriften ergänzt. Die Qualität des Pergaments und der Farben (oft Gold- und Silber) sind hervorragend; zum guten Zustand trug der Umstand bei, dass die Handschriften nur wenig, das heisst ausschliesslich bei besonderen Gelegenheiten, verwendet worden sind. Die Darstellung ist manchmal einfach, manchmal opulent, die Büchlein gelegentlich im Kleinformat und entzückend, dann wieder grösser im Format. Den Reiz einer Miniatur hat ein handgeschriebenes Gebetsbuch, das von einem Brauereibesitzer in den USA für 80 000 USD zurückgekauft werden konnte; weshalb es ausgewandert war, weiss man nicht.
 
Der knarrende, phantasievoll gestaltete Fussboden aus Tannenholz, in den 4 grosse Sterne und rankenartige Gebilde aus Nussbaumholz eingelassen sind, liefert die passenden Töne, wenn sich der Besucher in der Bibliothek bewegt. Wer nicht nach St. Gallen reisen möchte, kann im Internet einige Werke der besten Schönschreiber durchblättern, auf der erwähnten Webseite der Stiftsbibliothek; aber das beschwingte Raumgefühl mit den wellenartigen Seitenteilen, die Stuckaturen sowie Gewölbebilder (von Kunstmaler Josef Wannermacher 1762/63 geschaffen) wie der Darstellung des Konzils von Chalcedon im Jahr 451 in der Höhe und das Bodenknarren erlebt er dann nicht.
 
Dabei ist der zweistöckige Barocksaal, eine fünfjochige Wandpfeilerhalle mit Galerie in Holzausstattung und dem ältesten Buchbestand der Schweiz, allein schon eine Wucht, umwerfend (was wegen der Filzpantoffeln, die die Besucher überzustreifen haben, noch leichter als üblich möglich ist ...). Die Bibliothek hinter Gittern und durch gelbliche Tüllvorhänge auch vor Tageslicht geschützt, ist nach Themen geordnet, wobei das A den Bibeln in toten Sprachen (hebräisch, lateinisch) und lebenden Sprachen gehört. Und hinter einem Holztürchen gibt es ein in die Bibliothek integriertes Verzeichnis, das grob über den Buchbestand Auskunft gibt. Die Galerie, die über eine verborgene Wendeltreppe erreicht werden könnte, ist für Besucher unzugänglich, ebenso wie das Allerheiligtum mit den Originalhandschriften ein Stockwerk weiter oben – im Barocksaal gibt es ausschliesslich gedruckte Bücher, die aber imposant genug sind.
 
Büchernarren
Einem Menschen, der eine grosse Zuneigung zu Büchern hat, sagte man früher Büchernarr, eine aussterbende Spezies. Ich gehöre dazu, und möglicherweise ist auch die eigene Verlagsgründung diesem Buchnarrentum zuzuordnen – Bücher nicht nur auszuwählen, zu kaufen, zu lesen, zu einer grossen Bibliothek anwachsen zu lassen, sondern auch selber zu schreiben und ihre technische Entstehung in allen Phasen mitzuerleben, ist ein lustvolles Tun, nachhaltiger noch als der Verzehr einer Rostbratwurst. Vor diesem Hintergrund mögen die über diese Zeilen geneigte Leserin und der ebenso geneigte Leser vielleicht erahnen, wie überwältigt ich von dieser Stiftsbibliothek war: Darin möchte ich leben, lesen, mich inspirieren und berauschen lassen, vor allem im ausserreligiösen Bereich, etwa im „Kollektaneenband“ von Gall Kemli (einem gelehrten Mönch, 1417 bis um 1481), der in einer gutgelaunten Stunde Wein und Wasser verglich – die unterschiedliche Schreibweise von Trinken steht im Originaltext so: 
Trinnck ich win, so verdirb ich,
drinck ich wasser, so stirb ich
mach ich besser, ich drinck win und verderb
dann ich drink wasser und sterb. 
In solch einem inspirativen Umfeld möchte ich immer wieder staunen über das Suchen nach Erkenntnis, das Denken und Darstellen von Sachverhalten, über die kunstvollen Schriften, die Initialen, diese kunstvoll verzierten, verschnörkelten Anfangsbuchstaben, die an und für sich schon Kunstwerke sind. Was den Buchbestand im eigenen Haus betrifft, habe ich mich zwar nicht zu beklagen: Selbst Korridore, Treppenhaus und Estrich sind voll davon. Und an gutem, lebenserhaltendem Wasser fehlt es hier ebenfalls nicht. An Wasser sterben nicht einmal Mönche.
 
Das Verstaubte daran
Von den 30 000 Büchern der Stiftsbibliothek St. Gallen, die manchmal auf 2 Reihen angeordnet sind (wie in meiner eigenen Bibliothek auch) werden jährlich jeweils im November ein Drittel abgestaubt – mit Hilfe von sanften, mit Filtern versehenen Staubsaugern (für den Fall, dass sich ein unersetzliches Papierfetzchen lösen sollte), so dass das einzelne Buch jeweils alle 3 Jahre einer Reinigung unterzogen wird. „Ist Staub ein Konservierungsmittel?“ fragte ich einen Fachexperten, der gerade an der Kasse war. „Bedingt“, lautete seine Antwort, wenn im Staub saure Partikel seien, wirke er sich schädigend aus. Also eine Frage der Staub-Qualität. Wie ich vom Fachpersonal ebenfalls erfahren habe, werden die Ledereinbände nicht speziell behandelt wie etwa eingefettet – das sei eben noch Qualitätsleder, sagte man mir. Der Schutz vor grellem Licht ist eine dazu gehörende Massnahme – selbst das Fotografieren ist nicht erlaubt. Der Barocksaal ist nicht klimatisiert; doch werden Luftfeuchtigkeit und Temperatur überwacht.
 
Augenschein im Lapidarium
Wahrscheinlich wäre es die richtige Reihenfolge gewesen, wenn wir zuerst das Lapidarium, ein barockes Kellergewölbe (Lapis = Stein) im westlichen Konventflügel, besucht hätten, weil man sich dort in einer geweisselten Umgebung bei karolingischen und ottonischen Werkstücken sowie Überresten aus vorbarocken, spät- und nachmittelalterlichen Restposten in Stein über die Baugeschichte der Klosteranlage und auch über die Schriftenmalerei informieren und einstimmen lassen kann. Dort befindet sich die permanente Tafelbildausstellung „Die Kultur der Abtei St. Gallen“. Von irgend einem Nebenraum her ertönten einlullende gregorianische Gesänge. Das wäre der ideale Einstieg für alle weiteren Besuche im Klosterbereich gewesen, wie ich nachträglich erkannte. Die wunderschön dokumentierte Thematik „Schriftlichkeit und Schreiber“ und „Buchkunst“ haben mich sofort in ihren Bann gezogen – bis dann um 17 Uhr die Besuchszeit zu Ende war – sonst wäre ich vielleicht noch immer dort.
 
Es reichte noch, um einen Blick in die Stiftskirche St. Gallus und Otmar zu werfen, ein langgestreckter, symmetrischer Bau mit zentraler Rotunde (kreisrunder Gebäudeteil), geschweiftem Giebel und Mansarddach (auch Mansartdach geschrieben: die Dachflächen sind durch ein Gesims gebrochen, und die unteren Teile sind steiler als die oberen). An einem Seitenaltar war bereits ein Weihnachtsengel mit Goldschweif gelandet, und unweit davon waren von Besuchern weit über hundert kleine Kerzen wohl meist im Gedenken an leidende Menschen angezündet worden. Wir taten es ihnen gleich, dachten an einen lieben, jüngeren Verwandten, der in bedrohlichem Zustand im Spital liegt und sandten ihm herzliche, aufrichtige Genesungswünsche zu.
 
Draussen war der Weihnachtsmarkt – das profane Leben hatte uns wieder. Und in diesem entheiligten Biotop erinnerte ich mich daran, dass die „Sangaller“ auch eine typische Gebäck-Kultur haben – weit über die Büürli (faustgrosse knusprige Brötchen) hinaus. In der Feinbäckerei Gschwend beim Marktplatz erstand ich mir noch ein St.- Gallerbrot, 2 kleine Birnenweggli und eine Marzipankartoffel. Solch süsse Erdäpfel hatte es in der Ostschweiz schon vor Jahrzehnten gegeben. Die Kartoffelhaut besteht aus einer dünnen, vielleicht mit etwas Kaffee eingefärbten Marzipanschicht. Die 2., etwas dickere Haut ist eine zarte Biskuitschicht, die eine zarte Marzipanfüllung umgibt.
 
Es war höchste Zeit, die Heimfahrt anzutreten und sich aus den Fängen dieser einzigartigen Stadt zu befreien. Man muss sich förmlich losreissen.
 
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