BLOG vom: 25.12.2006
Die Flucht ins Virtuelle: Auf ins 2. Leben dank Linden!
Autor: Emil Baschnonga, London
Auf der langen Fahrt durch die Lüneburger Heide – siehe Blog vom 15. Dezember 2006 „Lübeck in der Sackgasse: Selbst das Marzipan verpasst“ – erfuhr ich von meinem Kollegen erstmals von dieser 3-dimensionalen Online-Scheinwelt, wo jedermann von seinem langweiligen 1. Leben ins 2. übersteigen kann, wo er genau das sein kann, was er nicht ist. Mein Kumpan schien begeistert davon zu sein und meinte, damit lasse sich viel Geld mit Werbung verdienen – und fügte verhalten hinzu, „und auch die ‚Avatare’ müssen schliesslich ‚virtuell’ essen.“ Ich verstand den Wink, dass unsere Lebensmittel-Beratungspraxis mithalten sollte. Sonst verstand ich kein Wort von dem, was er mir sagte, aber meine Neugier war genügend gereizt, um mehr von dieser künstlichen Linden-Welt zu erfahren.
Wie man zum Avatar wird
Der 1. Schritt, um ins 2. Leben umzusteigen, bedingt, dass ich mich zum Avatar verwandle. Ich bestimme meine künftige Körpergrösse, Gewicht, Alter, Hautfarbe – notabene viel vorteilhaftere und bessere Eigenschaften als jene in meinem gegenwärtigen Leben. Mit einem kleinen Aufgeld kriege ich sogar Geschlechtsorgane und kann mich – und das kostet auch extra – am virtuellen Sex beteiligen. Nach Lust und Laune kann ich mich frisieren und einkleiden.
Es soll weltweit bereits 1,5 Millionen Avatare geben, mit einem Durchschnittsalter von 32 Jahren. Wen wundert es: Sie sind durchwegs „sexy“ (Frauen) oder muskulös (Männer). Sie kaufen imaginäres Land, worauf sie ihre Traumhäuser bauen mit allem Drum und Dran wie Läden, Unterhaltungsstätten usf., die allen Avataren zugänglich sind.
Der Avatar kann sich mit anderen Avataren unterhalten – d. h. sie texten miteinander, können zusammen ein Geschäft aufbauen, etwa ein Kasino einrichten. Fürs letztere wird er in Linden-Dollar bezahlt, die zum gegenwärtigen Wechselkurs von Linden $ 170 = $ 1 in harte und fassbare Währung wechselbar sind.
Für wenig Geld kann sich der Avatar einen Helikopter kaufen (L$ 800), eine Insel (L$ 100). Mit anderen Worten: Alles ist käuflich, genau wie in unserer eigenen verpfuschten Welt, nur spottbillig und somit jedermann zugänglich.
Der Linden-Hintergrund
Sie haben es erraten, lieber Leser, liebe Leserin, diese Welt entstand in Amerika, von Linden Lab, San Fransiso, gegründet. So haben wir den 2. „American dream“ in einer virtuellen Welt verwirklicht. Andere Mitspieler, die Geschäfte wittern, halten wacker mit, worunter eBay, Amazon, sogar Reuters, Adidas. Auch Toyota bietet auf einer Insel dem Avatar die Möglichkeit, das Scion xB-Auto auszuprobieren. Hinzu kommen IBM und Dell und tagtäglich andere „Geschäftlimacher“.
„Got the drift?“ (Wissen Sie, worauf das abzielt?) Ich kann mir das wohl vorstellen, obschon ich schwer verstehen kann, warum ein vernünftiger Mensch seinem 1. Leben entfliehen will, es sei denn, dieses sei so himmeltraurig, dass die Wirklichkeitsflucht der einzige Ausweg ist.
Warum ich nichts von Linden wissen will
Vielleicht kann mich jemand eines Besseren belehren – und hoffentlich liest mein werter Geschäftskollege dieses Blog nicht … Über die Weihnachtszeit habe ich die Gelegenheit, mich mit meinen 2 Söhnen über Linden zu unterhalten. Ich bin gespannt, was sie dazu zu sagen haben.
Wirklich, ich baue mir meine Luftschlösser lieber selbst, lasse mich von Märchen bezaubern, unterhalte meine eigenen Träume nachtsüber im Bett, wie in vielen meiner Blogs nachlesbar ist. Die Lindenwelt ist für mich nichts als Schein und Trug. Auf eine solche Flucht von meinem Selbst bin ich nicht angewiesen. Die wirkliche Welt, mit allen ihren Mängeln, ist mir ungleich lieber. Punktum.
Hinweis auf ein weiteres Blog über die Flucht in Traumwelten
02.05.2005: Predigten und monotone Gebete: bewährte SchlafmittelHinweis auf weitere Blogs von Baschnonga Emil
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