Textatelier
BLOG vom: 27.12.2006

Wilhelm Schmid, magischer Realist: Lust am Herben, Derben

Autor: Walter Hess, Biberstein AG
 
„Wenn man die Namen von Toten ausspricht, leben sie weiter“, lautet eine altägyptische Weisheit. Und Maler leben weiter, wenn man ihr Wirken mit einer Ausstellung in Erinnerung ruft. Die Bedeutung dieser Aussage habe ich dieser Tage am Beispiel von Wilhelm Schmid (1892−1971) erfahren, dem zurzeit (16. Dezember 2006 bis 11. März 2007) eine Ausstellung im Kunstmuseum CH-4603 Olten (Kirchgasse 8, www.kunstmuseumolten.ch) gewidmet ist.
 
Ich habe den Maler und seine Frau im Herbst 1968 im Tessiner Dörfchen Brè (Brè-sopra-Lugano) besucht. Damals war ich als Redaktor am „Aargauer Tagblatt“ tätig. Weil ihr Mann ja schliesslich aus dem aargauischen Remigen (Bezirk Brugg) stammte, bat mich Maria Schmid, geborene Metz, die jüdisch-stämmige Ehefrau des Malers, inständig, sie doch einmal in ihrem Heim zu besuchen und darüber ausführlich zu berichten. Maria Schmid, eine ehemalige Kammersängerin mit dem Künstlernamen Maria Alba, war von der Kunst ihres Mannes vollkommen überzeugt, bewunderte und besang sein Talent ohne jede Einschränkung („Wilhelm Schmid ist als Künstler wie als Gelehrter ein Auserwählter“) und war deshalb die beste Promotorin ihres Mannes, der sich lieber in den Sphären seiner Kunst bewegte als sich um Werbungs- und Verkaufsangelegenheiten zu kümmern. Irdische Managementaufgaben und Konzessionen ans Publikum waren weniger seine Sache.
 
Besuch in Brè
Jedenfalls liess ich mich erweichen, reiste ins Tessin und besuchte das Maler-Ehepaar Schmid in seinem Heim hoch oberhalb von Lugano, wo es sich nach Umwegen über Paris (7 Jahre), Berlin und Potsdam (17 Jahre) fest niedergelassen hatte. Die beiden wohnten in 2 aneinander gebauten typischen Tessiner Rohsteinhäusern, die über Bruchsteinplasterungen zu erreichen und inwendig sukzessive erneuert worden waren. Sie waren in eine verwinkelte Galerie unvorstellbaren Ausmasses verwandelt worden: Bilder, Bilder, Bilder an den Wänden und zu Kolonnen geschichtet am Boden neben und auf chinesischen Teppichen – ein Labyrinth auf mehreren Etagen bis in den Estrich hinauf, das durch enge Treppenhäuser verbunden war und von einer ununterbrochenen und gewaltigen Schaffenskraft des Meisters zeugte. Auch gab es dort fernöstliches und europäisches Porzellan. Und der damals 76-jährige Künstler, dessen durchaus vertretbarer Bauchansatz den Hang zu einem Geniessertum verriet, arbeitete unentwegt weiter, trotz abnehmendem Augenlicht. Er lebte intensiv.
 
In der ganzseitigen Reportage auf der Titelseite des „Aargauer Kuriers“ aus dem AT-Haus vom 22. Oktober 1968, der damals in einer Auflage von 130 000 Exemplaren erschien und im ganzen Aargau verteilt wurde, formulierte ich meine Eindrücke so: „Im Atelier hinter der Dachzinne, von wo aus tief unten das Blau des Luganersees und ringsum stolze Berge zu sehen sind, ist derzeit ein grossflächiges Gemälde für das Remiger Schulhaus im Entstehen begriffen. Ähnlich wie im Sprichwörter-Bild von Pieter Brueghel dem Älteren, einem berühmten Maler der niederländischen Renaissance aus dem 16. Jahrhundert, sind hier mosaikartig die wesentlichsten Etappen der Geschichte der Menschheit und der Technik festgehalten.“ Die Reportage ist auf 2 Seiten des Katalogs „Wilhelm Schmid“ (Universum) reproduziert; ich habe diesen Katalog im Kunstmuseum Olten käuflich erworben und war überrascht, mich darin  selber lesen zu können.
 
Das Remiger Wandbild
Am 18. Dezember 2006 bin ich nach Remigen, einer kleinen Gemeinde am Fusse des Geissbergs, gefahren, wo ich im Eingangsbereich des Schulhauses das bereits betagte fertige Wandbild erstmals gesehen habe. Es war seinerzeit im Auftrag der Stiftung Pro Argovia und der Gemeinde Remigen gemalt worden und befindet sich seit dem 28. September 1970 dort. Als Schutzmassnahme gegen Vandalentum ist es mit einer spiegelnden Glasscheibe abgedeckt und von einem einfachen Holzrahmen umgeben, und wegen des Glases treten immer störende Lichtreflexe auf.
 
Das Bild gehört wahrscheinlich nicht zu den Höhepunkten in Schmids Schaffen. Es ist ein etwas wirres Patchwork, ein zusammengestückeltes Mosaik, dessen Elemente manchmal fast beziehungslos nebeneinander stehen. Der untere (vordere) Teil dieses Grossformatbildes ist von kräftigen bäuerlichen Elementen geprägt, zweifellos Erinnerungen des Malers an seine Heimatgemeinde Remigen, in der er seine Jugendjahre verbracht hat. Unten rechts nagt ein Hase aus dem Rüebliland Aargau an einer Karotte (Rüebli). Im oberen (hinteren) Teil sind Symbole aus der grossen weiten Welt wie der Eiffelturm, ein griechischer Tempel und ein Hochhaus-Büschel zu sehen, Stationen aus dem Leben des Künstlers markierend. Das Bild hat also eindeutig autobiografische Züge.
 
Hier, in seiner Herkunftsgemeinde Remigen, einem heute rund 1000 Einwohner zählenden Bauerndorf (mit viel Rebbau) und der Kirche aus dem 11. oder 12. Jahrhundert mit dem angeblich ältesten Uhrwerk der Schweiz, wollte das Ehepaar Schmid, das kinderlos geblieben war, ein Museum eröffnen. Dazu kam es aber nicht. Die Nutzung ihres Doppelhauses in Brè für permanente Ausstellungszwecke war die zweifellos gegebene Lösung nach dem Tod von Wilhelm Schmid am 1. Dezember 1971.
 
Ich habe mich auf der Gemeindekanzlei Remigen nach dem Schicksal des Hauses erkundigt, in dem Schmid aufgewachsen war; doch waren da keine Akten mehr aufzutreiben. Niemand wusste Bescheid. In der weiten Ebene zwischen Bruggerberg und Geissberg, die früher „Hof Rein“ genannt worden ist, haben sich die Schmid-Spuren somit verloren.
 
Aus dem erwähnten „Hof Rein“ wurden die 5 Gemeinden Remigen, Rüfenach, Stilli, Villigen und Lauffohr, das heute zu Brugg gehört. Und wohl bald einmal wird dort niemand mehr wissen, was es mit dem Gemälde im Schulhaus Remigen auf sich hat. Vielleicht ist Wilhelm Schmid schon heute ein beinahe vergessener Künstler, dem das Kunstmuseum Olten eine letzte Ehre erweist; es wäre schön, wenn ich mich täuschen würde. Die kunsthistorische Bedeutung des Malers aber wird bleiben.
 
Unbeschönigt
Es ist zweifellos so, dass die Malerei von Wilhelm Schmid beim Betrachter oft eher starke Nerven denn Feingefühl voraussetzt. Sein so genannter „magischer Realismus“ sticht manchmal brutal ins Herz des Betrachters, wie etwa das Gemälde „Das Duell“ mit den festlich gekleideten, kopflosen, puppenartigen Gestalten beweist. Diese sozusagen virtuell untermauerte Art des Realismus verschmilzt die Wirklichkeit mit einer magischen Realität, mit Halluzinationen, Träumen, Vorstellungen und schafft damit eine neue und besonders eindrückliche virtuelle „Realität“, wozu auch Elemente aus Klassik und Romantik beitragen.
 
Das für mich bezeichnende Beispiel dafür ist das umstrittene Grossbild „Heliand“, eine Abwandlung des „letzten Abendmahls“, dem berühmten Gemälde von Leonardo Da Vinci, das 1494 bis 1498 entstanden ist und das Jesus mit den 12 Aposteln zeigt, unmittelbar nach der Feststellung Jesu: „Einer von euch wird mich verraten.“
 
Beim Schmidschen Abendmahl ist die perspektivische Tiefe stark verkürzt, wodurch sein Werk plakativer und eindringlicher wirkt als jenes von Da Vinci mit dessen Anwendung der Zentralperspektive. Das war eine meisterhafte Schmid-Lösung; denn schon Da Vinci stellte in „Die Perspektive bei Wandmalereien“ (im Codex Madrid.II 15v) fest: „...ein Auge, das eine Wandmalerei betrachtet, versetzt sich immer in die Mitte des Bildes. Für sich ist die Perspektive, die eine gerade Wand bietet, falsch, wenn sie nicht den Standort des betrachtenden Auges korrigiert, indem er die Wand perspektivisch verkürzt zeigt.“
 
Vor dem Bild, das im Kunstmuseum Olten eine ganze Wand füllt, ist in der richtigen Distanz eine Sitzbank für Betrachter aufgestellt worden. Ich setzte mich darauf und liess dieses Werk längere Zeit auf mich wirken. Der Maler hat die Apostel durch 12 kräftige Bauern ersetzt. Sie haben kantige Köpfe und Schnurrbärte, tragen eine einheitliche Festtagstracht (Sonntagsstaat), zu der das weisse Hemd und die Halsmasche gehören. Schmid zeigt sie in ernster Laune beim Schlemmen. Ich habe in der folgenden Nacht davon geträumt. Da die bäurischen Typen, abgesehen von den schlaumeierischen, fahlen, manchmal mit Grün oder Rot durchsetzten Visagen, gewisse Ähnlichkeiten haben, kann sich der Betrachter an den überall vorhandenen Bauerspezialitäten wie Trauben, Brot, Gemüse, Wein, Würste und einem ganzen, angeschnittenen Emmentalerkäse sowie den Most- und Weinkrügen gütlich tun. Der Bauer im Zentrum, offensichtlich das Oberhaupt der ehrenwerten Gesellschaft beim Abendmahl, bricht ein längliches Brot entzwei.
 
Natürlich kann dieses Gemälde religiöse Gefühle verletzen, da man es ja auch als Karikatur wahrnehmen kann, wenn man will. Der damalige christlichdemokratische Schweizer Bundesrat Philipp Etter liess das Bild 1946 aus dem Eidgenössischen Kunstsalon in Bern entfernen, weil er, zweifellos aus guten Gründen, kirchliche Kritik befürchtete. Das Gemälde erregte viel Aufsehen und Anstoss. Heute darf man es wohl bedenkenlos zeigen, ja, eine Schmid-Ausstellung ohne dieses grosse Bauern-Fressen wäre unvollständig.
 
Ich habe lange über das Bild nachgedacht und, ehrlich gesagt, nicht herausgefunden, worum es dem Maler hier eigentlich ging; und ich bedaure es, ihn bei meinem 68er-Besuch in Brè nicht gefragt zu haben, zu gross und zu verwirrend waren die Bilderflut und damit die Eindrücke damals. Vielleicht wollte er nichts aussagen, sondern, von Da Vinci inspiriert, einfach eine bäuerliche Abendmahl-Szene malen, bei der es nicht um Verrat, sondern schlicht und ergreifend um die Lust am Zuschlagen bei Tische geht.
 
Solche Motive rund um die Ernährung finden sich bei Schmid am Laufmeter. Bei meiner Reportage im „Kurier“ habe ich deshalb das berühmte Bild „Metzgete in Remigen“ (häusliches Schlachten eines Schweins) als Aufmacher eingesetzt; Schmid hat verschiedene Metzgete-Szenen gemalt. Auf einem Holztisch liegt ein Schwein, aus dessen Halsschlagader in einem dicken Strahl Blut in einen Kessel fliesst. Der mit Messern bewaffnete Metzger im Zentrum hat die Sache im Griff, Bäuerinnen, die wie Nonnen aussehen, helfen ihm dabei, und im Hintergrund sind das Kirchlein Remigen und der Mond (vielleicht ist es die Sonne) zu sehen. Blut fliesst auch in anderen von Schmid gemalten Bildern, der gegen die Nekropsien (Leichenschauen) offensichtlich nichts einzuwenden hatte. Auch getötete Menschen oder eine geschlachtete und gerupfte Weihnachtsgans dienten ihm als Motiv, immer verstärkt durch seinen magischen nordischen Realismus. Selbst „Landjäger“ (Rauchwürste) in einer Schale waren ihm ein Gemälde wert.
 
Aber auch pflanzliche und architektonische, expressionistische Motive mit manchmal kuriosen Perspektivlosigkeiten finden sich in Schmids Œuvre; er hatte seine Berufskarriere als Bauzeichner begonnen. Als solcher arbeitete er ab 1912 bei Bruno Paul und als Atelierchef bei Paul Renner in Berlin, beide waren bekannte Architekten der Moderne. Er baute eine Villa für die Familie Metz in Potsdam und heiratete 1918 deren Tochter Maria, die gelegentlich selber zum Model für den Meister wurde (Öl auf Holz: „Maria Schmid im braunen Kleid“), besonders nachdem sie in durchaus nicht unvorteilhafter Art an Gewicht zugelegt hatte. Das Üppige, Herbe, Einfache und Unverbrauchte, dem Schmid zugetan war, kommt deshalb auch hier wunderbar zur Geltung.
 
Erinnerungen
Meine persönlichen Erlebnisse habe ich nach dem Zusammensein mit dem Ehepaar Schmid 1968 wie folgt festgehalten: „Die Vitalität und geistige Frische Wildhelm Schmids überstrahlt seine sympathische Bescheidenheit erst, wenn man bei einem Glas Wein mit ihm ins Gespräch kommt. Zwischen Bücher- und Zeitungsbergen in der Wohnstube – auch sie ist eine Art Galerie – findet er sich gerne bereit, aus seinem reichen und erfüllten Leben zu erzählen. Dabei erfährt man Einzelheiten über seine Tätigkeiten als Architekt, die er bis 1916 ausübte, und über sein ‚Etappenhaus’, das er 1923 in Potsdam zu bauen begann. Er erzählt, wie er 1936, als ,Kulturbolschewist’ und ,entarteter Künstler’ verfemt, das nationalsozialistische Deutschland verlassen und in der Schweiz neu beginnen musste. Er erzählt, wie es ihm gelang, einen sehr wertvollen Kuppelofen in die Schweiz zu retten, und wie er oberhalb des Luganersees seinen Lebensraum neu aufzubauen begann. Er hatte das Dörfchen Brè bei einem Spaziergang von Gandria aus entdeckt, bei dem er in ein Dornenfeld geraten war, sich dadurch aber nicht zur Umkehr bewegen liess.
 
Bemerkenswert ist auch die Geschichte seiner Häuser (in Brè). In einem Teil des Doppelhauses war ein Mord begangen worden, und es hatte danach während Jahren leer gestanden. Schliesslich konnte es für sage und schreibe 600 Franken erworben werden. Und die Verkäuferin gab sich Mühe, diesen Handel abzuschliessen. Das anschliessende Gebäude konnte später für 500 Franken zugekauft werden. So wechselten in Wilhelm Schmids Leben die schweren Schicksalsstunden und die Tage des Glücks und Erfolgs.“
 
Dem Kunstschaffen von Wilhelm Schmid kommt man näher, wenn man seine Lebensgeschichte und seine Lebensumstände kennt – und sein persönliches Naturell. Dass in einem seiner Häuser vor seiner Zeit ein Mord begangen worden war, hat ihn zweifellos nicht erschüttert, sondern eher inspiriert, denn ähnliche Szenen gibt es ja auch in seinen Malereien (Beispiele: Das 1916 entstandene Gemälde: „Der erhängte Pierrot“ und die Zeichnungen „Kreuzigungsszenen“) zur Genüge. Ich habe mich in diesem Zusammenhang an den Schriftsteller Hermann Burger, einen meiner ehemaligen AT-Redaktionskollegen, erinnert, der fürs Leben gern im Pfarrhaus auf dem Kirchberg (Gemeinde Küttigen AG) in unmittelbarer Nähe des Friedhofs lebte. Diese Umgebung war für ihn anregend.
 
Inspirationen finden sich überall, wie gerade die Besuche von Kunstmuseen lehren. Es braucht dann bloss noch den Willen, die Kraft und die Begabung zur schöpferischen Umsetzung.
 
Hinweis
Museo Wilhelm Schmid
Contrada Prò 22
6979   Brè s/Lugano
 
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