BLOG vom: 30.12.2006
Die einsame Zahnbürste: So schreibt man ein Märchen
Autor: Emil Baschnonga, London
„Schreib doch wieder einmal ein Märchen …“ Das sagte eine innere Stimme zu mir. Ich habe einige Märchen für mich geschrieben, einfach zum Gaudium. So richtig gross und vernünftig bin ich – trotz meines Alters – nicht geworden. Ich gebe meiner Stimme nach und suche nach einem Stichwort fürs Märchen. Heute heisst es provisorisch:
Die Zahnbürste
Sie war eine edle Zahnbürste mit echten Schweinsborsten und stand im leeren Wasserglas auf dem Sims im Badezimmer eines Mannes, der schon seit Jahren ein Kunstgebiss trug. Weil er sie nicht mehr brauchte, wurde diese Zahnbürste trübselig und träumte von vergangenen Zeiten, als sie noch täglich einmal benutzt wurde. Sie erinnerte sich an den erfrischenden Duft der Zahnpasta. Diese Tube Zahnpasta stand neben ihr im Wasserglas und war längst ausgetrocknet.
Das ist ein viel versprechender Ansatz zu einem Märchen, denke ich, und ich überlege mir, wie es weiter gehen soll. Du darfst das Wasserglas nicht vergessen, kommt mir in den Sinn. Also denn:
Das Wasserglas, worin Zahnbürste und Zahnpasta standen, war arg verstaubt und hatte seit langem keinen Tropfen Wasser genossen.
Gerecht ist gerecht: Der Titel muss ergänzt werden, bevor es richtig losgehen kann, also definitiv:
„Die Zahnbürste, die Zahnpasta und das Wasserglas.“
Heute war es das 1. Mal, dass sie miteinander ins Gespräch kamen. Nachdenklich fuhr sich die Zahnbürste über die Borsten und fragte: „Was können, sollen wir tun, um diesem miserablen Dasein zu entfliehen?“
„Ohne Beine kommen wir nicht vom Fleck“, brummte die Zahnpasta zwar vernehmlich, doch missmutig durch ihren Deckel.
„Wenn ihr mir versprecht, mich mitzunehmen, verrate ich euch, wie wir alle gemeinsam vorwärts kommen“, sagte das Glas.
Also denn rückten die Zahnbürste und die Zahnpasta, wie vom Glas empfohlen, vorsichtig zu- und aneinander, bis von ihrem Übergewicht das Glas – autsch! – zur Seite kippte. Zum Glück war ihm nichts geschehen.
Es dauerte ein Weilchen, bis sich die Zahnbürste und die Zahnpasta einigten. Letztere wollte nicht auf dem Deckel gehen; erstere bestand kratzbürstig darauf, dass sie nicht auf ihren Borsten gehen wolle.
Damit ich hier nicht den Faden, und damit die Leser, verliere, muss ich genauer beschreiben, was ich meine. Die Zahnbürste wie auch die Tube Zahnpasta überragen den Glasrand. Wird das Glas auf den Kopf gestellt, ruht es auf dem Bürstenstil einerseits und auf der Tube anderseits, die zu Beinen werden, worauf sich die Geschichte fortbewegt.
Nach einigen Turnübungen gelang es dem Paar, das Glas über ihre Köpfe, also über Deckel und Borsten, zu stülpen. Die 1. Gehversuche gelangen ebenfalls.
Ohne Kaugummi, der sich auch auf dem Sims langweilte, wäre dem Trio der Abstieg vom Sims auf den Boden des Badezimmers nimmer gelungen. Lange kaute der Kaugummi, bis er weich und elastisch wurde und das Glas mitsamt der Bürste und der Pasta lassoartig umschlingen konnte. Ein Ende des Gummis klebte am Fenstersims. Mutig sprangen die Flüchtlinge über Bord. Elastisch zog sich der Gummi in die Länge und wurde zur Rettungsleine. Sanft landeten sie allesamt auf dem Boden – ausser dem Kaugummi, der oben am Sims kleben blieb. „Und ihr lässt mich einfach so hängen“, zeterte und wetterte er, als das Paar das Glas drehte und sich so aus der Umstrickung befreite. „Bleib dort wo du bist, denn wenn wir zurückkommen, kannst du uns hoch hissen“, spotteten sie und watschelten vergnügt weiter. Ihr unordentlicher Besitzer, der Mann mit dem künstlichen Gebiss, hatte die Türe offen gelassen, und zu Dritt entkamen sie ungehindert.
Doch ihre Freude war von kurzer Dauer. „Juhe! So ein tolles Gewitter habe ich noch nie erlebt!“ jubelte das Glas und liess sich genüsslich von der Regenflut fortrollen. Bürste und Pasta rollten ihm nach.
Die Zahnpasta öffnete dabei die Deckelluke und fühlte sich für wenige Augenblicke so geschmeidig und wohl wie einst als junge Zahnpasta in der Drogerie. Doch die Tube sog Wasser auf, viel zu viel auf einmal. Die Pasta verflüssigte sich und floss aus. Bloss die tote Tubenhülle blieb zurück. Basta!
Der Zahnbürste erging es nicht viel besser. Ihre Borsten verfingen sich bald zwischen den Ritzen des Rinnsteins, und sie konnte nicht mehr weiter schwimmen und ertrank jämmerlich.
Auch die Lebensfreude des Glases zerbarst kurz darauf im Wasserwirbel beim Dolendeckel.
Das kann doch nicht wahr sein, selbst im Märchen nicht! Aber ich kann die leidige Geschichte nicht ändern. Die meisten Märchen haben ein gutes Ende. Wenn nicht, muss ihm die Moral beispringen. Umsonst grüble ich. Ich konnte die Moral nicht finden.
So ist es halt im Leben, und so lasse ich hier die Geschichte aufseufzend fahren.
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