BLOG vom: 22.02.2007
Kurs über den Rebenschnitt: Aug' in Auge mit den Zapfen
Autor: Walter Hess, Biberstein CH
Ein ausgesprochener Fan von Christoph Kolumbus (1451–1506) war ich meiner Lebtag nie: Man stelle sich vor, was den amerikanischen Ureinwohnern und dann uns Europäern und schliesslich dem Rest der Welt alles erspart geblieben wäre, wenn dieser italienisch-stämmige Seefahrer in spanischen Diensten Amerika nicht entdeckt hätte. Wie friedlich doch unsere Welt wäre! Wir wären sogar von der Reblaus verschont geblieben.
Doch es hat nicht sollen sein. Und die erwähnte Reblaus ist nicht einmal das grösste der Übel, das uns von dort drüben ereicht hat. Kulturzerfall, Hormonfleisch, Gentechnologie, Kriegsfolgen, Erpressungen und dergleichen gehören dazu, und das allergrösste aller Übel ist in diesem Zusammenhang, dass wir so tun, als ob das alles unabwendbar sei – wie die berühmte Reblaus (Daktulosphaira vitifoliae). Sie ist als kurzrüsslige Variante (es gibt auch eine weniger gefährliche Art mit langem Rüssel) in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach Europa eingeschleppt worden. Sie hat in unseren mit der edlen Europäerrebe (Vitis vinifera), die wahrscheinlich aus dem vorderen Orient stammt, bepflanzten Weingärten ein ähnliches Massaker angerichtet wie es die Amerikaner überall hinterlassen, wo sie aufgetaucht sind.
Fast alle unsere Tafel- und Weintrauben mit dem manchmal zarten Muskatduft gehören der Art Vitis vinifera an. Man kann sie genussvoll frisch oder als Trockenfrüchte verzehren oder aber als Traubensaft beziehungsweise Wein durch die Kehle rinnen lassen. Wie Dr. Hermann Zulauf in seinem 1977 erschienenen Büchlein „Das Rebspalier“ (Wirz Verlag, Aarau) schrieb, gab es zwar auch in Asien und in Amerika Vitis-Arten, die aber weniger gute Eigenschaften haben (so etwa Vitis rupestris, Vitis riparia und Vitis berlanderi); man kann sie bestenfalls als Kreuzungspartner gebrauchen.
Die Art Vitis labrusca ihrerseits, die im Osten der USA heimisch ist, wird nur im Blattbereich von der Reblaus befallen, nicht aber an der Wurzel. Dafür hat sie einen für viele Menschen eher unangenehmen Geschmack, der an den Duft in einem Fuchsbau (waren Sie auch schon darin?) oder an ein nasses Fuchsfell erinnert, und darauf ist der Begriff „Fox-Ton (Foxton)“ zurückzuführen – Fuchston. In der Schweiz wird dieser Begriff höchstens bei professionellen Weindegustationen verwendet; das Volk vergleicht den „Ton“, der eher ein Duft ist, mit Katzenurin (Mundart: Chatzeseich, Chatzeseikeler-Geschmack). Und es ist nicht jedermanns Sache, Trauben zu essen oder Weine zu trinken, die an das Aroma jenes Reviers erinnern, dessen Grenzen von einem Kater markiert worden sind. Ich selber stehe diesen Americano-Trauben (auch Isabella im Tessin, Magliasina, Catoba) allerdings positiver gegenüber, weil ich ihren Duft als urtümlich-kräftig empfinde und er mich eher an ein synthetisches Erdbeer- oder an ein Sanddornaroma erinnert, leicht mit Azeton vermischt.
Nachdem die Reblaus die ausseramerikanische Rebenwelt auf den Kopf gestellt hatte, rafften sich findige Köpfe zu einer Lösung auf, um die Europäerreben trotz der Reblausinvasionen doch noch über die Runden zu bringen: Sie pfropften deren Triebe auf Amerikaner-Unterlagen auf und nannten diese Tätigkeit etwas gewagt „veredeln“. Inzwischen haben wir fast ausschliesslich solche veredelten Edelreben auf amerikanischen Unterlagen. Und selbst Americano-Reben werden oft noch „veredelt“, obschon dies reblaus-technisch unnötig wäre; aber inzwischen sind die Unterlagen (der Wurzelbereich mit einem kurzen Stielansatz) an die unterschiedlichen Bodenverhältnisse angepasst worden – es gibt sie also in Variationen. Zwar finden sich alle Europäer- und Amerikanerreben bezüglich Wasserbeschaffung in fast jedem Boden zurecht (sie verlängern einfach die Wurzeln bis zur Quelle), aber in Bezug auf die Bodenstruktur und die Bodenchemie (Kalkböden) sind sie schon anspruchsvoller. Zudem gibt es auch die wuchskräftige Hybridrebe (nicht in ganz zutreffender Weise PD = Porteur direct oder Direktträger genannt), eine Kreuzung aus Europäern und Amerikanern. Die Direktträger heissen nicht so, weil sie auch ohne Unterlage gut wachsen würden, das tun alle Reben, vielmehr weil sie nicht nur am letztjährigen Holz tragen wie die Europäer, sondern auch direkt aus dem alten Holz.
Warum ich all dies im heutigen Tagebuchblatt festhalte? Weil ich am 17. Februar 2007 in der Baumschule Zulauf in CH-5107 Schinznach-Dorf AG am Kurs „Rebenschnitt an Wänden und Pergolen“ teilgenommen habe, den der Baumschulbesitzer (in 4. Generation) und „Pflanzendoktor“ Hermann Zulauf persönlich erteilte. Meine Motivation: Vor Jahren habe ich an der idealen Südlage und auch an einer Ostwand Gelbe Muskatellertrauben und auch einen Seibel Direktträger gepflanzt, die wie wild wuchern, uns (und die Wespen) gelegentlich mit zuckersüssen beziehungsweise Beeren mit Fox-Ton beschenken, wenn nicht gerade der falsche Mehltau (Plasmopara viticola) die Beeren mit einem mehligen Oberflächenbelag überzieht und zum Schrumpfen bringt. Das Bezeichnende daran ist, dass auch dieser Falsche Mehltau aus Amerika bei uns eingeschleppt wurde. Ich möchte jetzt nicht erneut ausfällig werden. Aber ich sehe mich immer wieder bestätigt.
Meine Frau hatte mich an den besagten Kurs abgeordnet, weil sie das Gefühl hatte, mein Einsatz im Interesse der Rebengesundheit und auch meine Schnitttechnik würden zu wünschen übriglassen. Sie hatte einst eine Ausbildung als Coiffeuse absolviert und überträgt ihr diesbezügliches Können (Scheren-Akrobatik) gern auf Pflanzen, die dann mit ganz unterschiedlichen Frisuren die Umgebung beleben, zum Glück aber doch immer wieder ihre eigenen Massstäbe und Formen ausbilden. Ich habe bereits vor vielen Jahren an einem mehrtägigen Baumschnittkurs teilgenommen – mit mässigem Erfolg zwar. Jedenfalls bin ich bei jener Gelegenheit nicht mit einem speziellen Ehrendiplom ausgezeichnet worden. Zunächst verstand ich die Baumschnittsprache nicht: Wenn der Kursleiter sagte, man müsse in einer bestimmten Situation etwas länger schneiden, wusste ich nicht, ob dies bedeutete, man müsse während längerer Zeit schneiden, oder ob die abgeschnittenen Astteile länger als normal sein müssten beziehungsweise aber ob das, was am Baum stehen blieb, länger als üblich sein müsse. Das Schneiden hat ja immer mit Einkürzen zu tun. Für alle anderen Teilnehmer war das Fachchinesisch offenbar auf Anhieb klar, so dass ich nicht zu fragen wagte – aus Angst, mich zu blamieren. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass die letztere Version gilt: Länger schneiden heisst mehr stehen lassen. Man mag daraus bitte auf meine Lernfähigkeit schliessen.
Und auf diese Weise habe ich nun einige Einsichten in Bezug auf die Behandlung meiner struben (verwilderten) Rebspaliere und den dazu nötigen Begleitumständen gewonnen. So muss die gerundete Rebschere auf die Rechts- beziehungsweise Linkshändigkeit des Schnitttechnikers abgestimmt sein, damit der Scheren-Amboss gegen den abzuschneidenden Astteil drückt und nicht das stehenbleibende Gehölz quetscht und verwundet wird. Und zudem sollte der Schnitt in einer derartigen Schräglage angelegt werden, dass der austretende Saft (reines Wasser mit wenig Nährstoffen, den ich jeweils zur Erfrischung der Augen verwende) nicht über eine Knospe tropft. Die Cordons (kräftige senkrechte oder waagrechte Triebe als wichtigste Äste) können nicht jedes Jahr beliebig verlängert werden: Wenn sie im vorangegangenen Jahr nicht mindestens so dick wie ein durchschnittlicher kleiner Finger wurden, müssen sie (meistens auf ½ Meter) zurückgenommen werden; wird aber Daumendicke erreicht, darfs auch einmal etwas mehr sein.
Hermann Zulauf empfahl den waagrechten Cordon als beste Spalierform (Thomery-Spalier), wobei der Zwischenraum zwischen den Cordons etwa 1 m beträgt. In der Champagne ist mir einmal der Cordon-de-Royat-Schnitt erklärt worden, bei dem sich die Weinbauern mit einem einzigen langen Ast begnügen. Die Reben sollten immer möglichst südlich (lichtseitig) gepflanzt werden. Man zwingt sie dann, entgegen ihres eigenen Triebs, auf die Gegenseite zu wachsen, und daraus ergibt sich ein gleichmässiger Bestand an Tragruten, Blättern und Traubenbeeren. Und das klassische Rebspalier hat am Ende eine geometrische Ordnung. Meine private Spezialität ist allerdings eher das zwanglose wilde Spalier, ein Bio-Design also, an dem die Natur wesentlich mitgestaltet und das mir natürlich die Kritik von Systemikern einträgt.
Über den professionellen Zapfen-, Strecker- oder Bogenschnitt, den Umgang mit Trieben und Reservetrieben und Geiztrieben, die besonders Mehltau-anfällig sein sollen, möchte ich mich hier nicht besonders detailliert auslassen, denn davon verstehe ich noch immer zu wenig. Ich zitiere deshalb, der eigenen Not gehorchend, den Pflanzenspezialisten Zulauf: „Haben wir es mit einer Sorte zu tun, deren Basisaugen bereits fruchtbar sind oder mindestens die zweituntersten, erhalten wir direkt auf den dem Zapfen entspringenden Trieben Trauben (...) Aus dem oberen der beiden Zapfenaugen entspringt die so genannte Tragrute, welche uns die Trauben bringt, aus dem unteren die so genannte Ersatzrute, an welcher wir nie mehr als eine Traube belassen sollten. Im folgenden Winter schneiden wir den nun zweijährigen Zapfen zwischen den beiden Ruten durch, wobei die jetzt abgetragene Tragrute wegfällt. Die Ersatzrute wird bis auf 2 Augen eingekürzt und bildet nun den neuen Zapfen. Dasselbe Spiel wiederholt sich alljährlich.“
Für uns Anfänger: Mit den Zapfen sind nicht etwa die altehrwürdigen Weinflaschenverschlüsse, sondern die auf 2 Augen gekürzten Triebe, an dem sich die fruchttragenden Triebe bilden, gemeint. Bei den Direktträgern muss man den Augen weniger Sorge tragen, denn bei ihnen provoziert jede Störung provisorische Austriebe aus schlafenden Augen, wohingegen die Europäer nie aus altem Holz tragen.
Und wie sagte Hermann Zulauf noch? „Natur ist Natur. Da sind Sachen dahinter, die wir nie verstehen werden.“
Für mich klang dies einigermassen trostreich.
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