BLOG vom: 26.02.2007
Aareuferweg Wildegg–Schinznach: Holderbanks schöne Seite
Autor: Walter Hess, Biberstein CH
Fast vor jeder Haustür gibt es bald einmal einen Freizeitpark, der zwar nicht als solcher bezeichnet ist, sondern einfach entdeckt werden muss. Bei mir ist vor dem Haus die Aare und im Rücken der Jura mit der Gisliflue.
Der Aarerundgang Biberstein–Rupperswil ist der für uns übliche Ausgang (siehe Blog vom 13.01.2007: Auf dem Damm, am Hang: Aareweg Biberstein–Rupperswil). Und manchmal starten wir in Rupperswil–Auenstein, wandern nach Wildegg und kehren dann am anderen Aareufer zurück (Blog vom 19.02.2007 Neben der Zementfabrik: Aareuferwege Rupperswil–Wildegg). Und am Sonntag, 18.02.2007, sind wir bei der 1970 erstellten Aare-Brücke Wildegg–Au (1,5 km östlich von Auenstein AG) gestartet und bis zur nächsten grossen Aarebrücke zwischen Schinznach Bad und Schinznach Dorf gewandert – und am anderen Aareufer zurück. Von diesem Aarerundgang hatte ich mir nicht allzu viel erwartet, wurde dann aber doch ausserordentlich positiv überrascht. Für die 2 × etwa 3,5 km lange Strecke brauchten wir weit mehr als 3 Stunden, weil ich immer wieder auf Attraktionen stiess, die mich zum Anhalten und gründlicheren Erforschen zwangen.
Wir deponierten den Prius bei der Wildegger ARA (Kläranlage), in der Nähe der Aarebrücke. Daneben fliessen die Bünz und der Aabach, die sich nur etwa 200 m vorher zur Bünz vereinigt haben, ins Wildegger Aareknie. Die Bünz kommt aus dem Freiamt; sie entspringt am Lindenberg oberhalb von Beinwil (Freiamt, nicht zu verwechseln mit Beinwil am See). Der Aabach seinerseits ist eigentlich der Hallwilersee-Auslauf; er verlässt den See zwischen Boniswil und Seengen (Bezirk Lenzburg). Der Ursprung des Aabachs ist der Baldeggersee, der sein Wasser aus verschiedenen kleineren Bächen bezieht.
Der organisch gerundete rechte Winkel, den die Aare bei Wildegg hinlegt, ist geologisch von grossem Interesse. Die Aare floss ja vor Wildegg in der West-Ost-Richtung, und dort dreht sie sich unversehens um 90 Grad nach Norden. Sie durchstösst nicht weniger als 3 Juraketten, 2 zwischen Wildegg und Holderbank und eine im Raum Schinznach Dorf–Schinznach Bad. Da diese Durchbrüche weit und offen (und also keine Klusen) sind, nimmt man sie kaum wahr. Im Buch „Auenstein“ (1985) begründet der Geologe Gerhard Ammann dieses Phänomen damit, dass das Aarequertal zu Beginn Jurafaltung als „Schwächezone in der Erdkruste“ vorhanden gewesen sein könnte, längs der dann die Aare eben das werdende Gebirge queren könnte. So haben also auch Schwächephasen gelegentlich bemerkenswerte Auswirkungen, geben dem Geschehen eine andere Richtung.
An der Einmündungsstelle belebten 2 Ponyreiter mit einem Hund das Bild. Den Hintergrund bildete die Aare. Hat man die Kurve hinter sich, stellt man fest, dass die Aare flussabwärts zunehmend an Breite gewinnt, obschon die Perspektive dem entgegenwirkt. Wir folgten dem rechten Aareufer in der Fliessrichtung und warfen gelegentlich einen Blick zurück auf das stolze Schloss Wildegg. Nach etwa 200 m weist eine Tafel auf den hölzernen Gassmann-Steg (Baujahr: 1982) hin, der landeinwärts führt und ein Bächlein überquert. Diese kleine Brücke mit dem Geländer, über die der Wanderweg führt, liegt noch in der Gemeinde Möriken-Wildegg. Sie überquert den etwas müde wirkenden Mühlebach, der beim Gasthof Bären von der Bünz abgeleitet wurde; seine Aufgabe war, die Turbinen in der Mühle anzutreiben. Der Name des Stegs geht auf Ernst Gassmann zurück, der in den 70er- bis in die frühen 80er-Jahre als Ingenieur bei den NOK in Baden für den baulichen Zustand der Laufkraftwerke verantwortlich war und vor wenigen Jahren verstorben ist. Der Steg wurde kurz vor der Pensionierung von Ernst Gassmann erstellt bzw. erneuert. Diese Auskunft verdanke ich Hansjakob Keller von den NOK und Simon Läuchli, Gemeindeammann in Holderbank.
Im Gebiet Langmatt, zwischen ARA und der Zementfabrik Holderbank, gibt es Biberspuren in jeder Menge: kürzlich oder vor längerer Zeit angenagte, in der von den Bibern festgelegten Fallrichtung taillierte und geknickte mächtige Silberweiden – hier wird also eine harte, geduldige Holzfällerarbeit nach ökologischen Prinzipien geleistet. Und wenn die Silberweiden liegen bleiben dürfen, können sie weiterhin beste Dienste im Interesse des Naturhaushalts leisten, indem sie zu einem Dickicht werden und manch einen Unterschlupf bieten. Die Aargauer wissen das und haben Verständnis für die Arbeitsleistungen der Biber; in diesem Kanton hat sich ein ausgesprochenes Umweltbewusstsein entwickelt. Der Lohn davon zeichnet sich überall ab.
Ein nettes Erlebnis war die Begegnung mit einer familiär anmutenden Gruppe, die uns entgegenkam: An der Spitze führten Kinder 3 friedlich daher trottende Lamas, Murphy, Willy und Amigo, an der Leine. Diese Tiere werden auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt, wie mir die Betreuerin, Uschi Waser aus Holderbank, sagte (www.lamaevents.ch ). Die gutmütigen, weissen und braunen Schwielensohler aus der Familie der Kamele (Rasse: Vicunja) spuckten mich nicht an, fühlten sich also nicht bedroht. Sie strahlten Gelassenheit und die Botschaft „Kopf hoch!“ aus. So hat Holderbank also auch in zoologischen Belangen einiges zu bieten. Das Lamagehege ist oben an der Hauptstrasse.
Angrenzend an den nachfolgenden Schachen scheinen dann unterhalb des bewaldeten Kestenbergs („Chestenberg“), das Endglied der 2. Jurakette, die ehemaligen Zementfabriken Holderbank mit Förderbandkanälen mit der Landschaft verankert zu sein. Und der Name Holderbank, der aus den althochdeutschen Wörtern holuntar (Holunder) und wang (Abhang) zusammengesetzt ist und also „Holunder-Abhang“ bedeutet, wurde wegen dieser Zementindustrie weltberühmt, auch wenn daraus inzwischen nur noch das „Hol“ in Holcim Ltd. übrig geblieben ist; die Holcim ist aus der von Ernst Schmidheiny präsidierten Finanzgesellschaft Holderbank Financière Glarus AG, bzw. im Mai 2001 aus HCB „Holderbank“ Cement und Beton, herausgewachsen. Der Konzern beschäftigt heute allein in der Schweiz rund 1200 Mitarbeiter; weltweit (das heisst in etwa 70 Ländern) sind es rund 60 000 Personen, die sich mit der Gewinnung oder Produktion von Zement, Kies, Sand und Beton befassen.
Auf der kommunalen Webseite www.holderbank.ch kann nachgelesen werden, wie in den Gebäuden einer 1835 gegründeten und später wieder eingegangenen Baumwollfabrik die Fabrikation von hydraulischem Kalk aufgenommen wurde, die Grundlage der 1912 gegründeten Aargauischen Portlandcementfabrik. Das Holderbanker Unternehmen wurde zum Stammwerk einer Reihe von Fabriken im Ausland, die den Namen Holderbank in alle Kontinente getragen haben. Hier, in Holderbank, begann also eine stolze Industriegeschichte.
Und offenbar war Holderbank, das heute etwa 850 Einwohner zählt und eigentlich nichts mehr von dem zementindustriellen Riesenerfolg hat, schon immer als Industriestandort begehrt: Noch vor dem Zweiten Weltkrieg entstand eine Tonwarenfabrik, die Dachziegel und Ziegelsteine herstellte. Dazu kam 1956 ein Unternehmen, das sich auf die Fabrikation von Dichtungsmaterial spezialisiert hat. Viele tausend Tonnen Holderbanker Ton wurden für die Abdichtung des Schwergewichtsdammes beim Stausee auf der Göscheneralp abgebaut. Tonmehl wird manchmal auch als Futterzusatz und als Basismaterial für kosmetische Produkte verwendet. Ende 1974 hat die Tonwarenfabrik ihren Betrieb eingestellt, und 1975 begann auch noch die Zementfabrik ihren Betrieb in Holderbank schrittweise zu reduzieren. Die Zementfabrikation wurde nach Rekingen AG verlagert. Die Holderbanker Finanzen litten. Immerhin hat sich 1988 ein grosser Industriebetrieb auf dem Holderbanker Industriegelände angesiedelt, und zwar die Firma Gipsunion AG, später FIXIT.
An der Dezember-Gemeindeversammlung 1988 haben die Stimmbürger von Holderbank beschlossen, das Steinbruchareal von der Cementfabrik Holderbank, Rekingen, zu kaufen. Ab Juli 1990 wurde diese gähnende Leere mit Aushub- und Ausbruchmaterial aus dem Bözbergtunnel aufgefüllt, eine sinnvolle Lösung. Holderbank ist eine naturschutzbewusste Gemeinde. Die ehemaligen Abbauflächen wie insbesondere im alten, fossilienreichen Steinbruch werden zur Förderung der Artenvielfalt genützt, wie die „Schümel-Naturschutzstiftung“ schreibt. Der Materialabbau im Steinbruch Schümel hat eine 1150 m lange und 150 m breite Kerbe quer zum Aaretal in den Chestenberg-Wald gefressen – und das mitten im Dorf, das dadurch zweigeteilt ist. Der Kalksteinabbau wurde um 1980 eingestellt. Eine umfassende Dokumentation bietet die Webseite der Gemeinde Holderbank an. Einige Angaben dazu verdanke ich zudem dem Holderbanker Gemeindeammann Simon Läuchli, der mich in verdankenswerter Weise bei meinen Recherchen tatkräftig unterstützt hat.
Bei der Wanderung auf dem Aareweg erkennt man die Spuren der Zement- und Tonwarenproduktion noch überall; man erhält gewissermassen eine industriegeschichtliche Lektion – und eine geologische dazu: Ein Wegweiser weist zum Gesteinspfad der Holcim, den ich demnächst erkunden will; er scheint mir ein spezielles Blog wert zu sein. Und imposant ist ein mit einer halbrunden Metallhaube abgedecktes Förderband über die Aare, ebenfalls ein Industriedenkmal, das auch als Fussgängerüberquerung dient; der schmale Gehweg neben der Förderanlage besteht aus Holzbrettern. Es handelt sich um die einzige Möglichkeit zur Aareüberquerung zwischen den Strassenbrücken in Wildegg und in Schinznach, es sei denn, man habe ein Boot zur Verfügung (ein Anlegesteg ist auf der Nordseite der Schinznacher Brücke).
Heutzutage bieten unterschiedliche Unternehmen und Betriebe, insbesondere auch solche aus der Autobranche aus den verschiedenen Wirtschaftssektoren in Holderbank rund 650 Arbeitsplätze an. Das Strassendorf Holderbank sieht von der Aare her angenehmer aus als im Kantonsstrassenumfeld, wo die Zweckmässigkeit und der Motorfahrzeugverkehr das Bild beherrschen. Allerdings trennt die SBB-Linie Aarau–Brugg den nördlichen Dorfteil von Holderbank von der aufgestauten und hier schätzungsweise gut 200 m breiten Aare ab. Holderbank bemühte sich lange vergebens um einen eigenen Bahnhof und muss sich mit der 1999 eingerichteten Haltestelle zufrieden geben.
Das weiter aareabwärts liegende Kanalkraftwerk Wildegg–Brugg, zwischen 1949 und 1953 entstanden, staut die Aare auf einer Länge von etwa 8 km auf. Man befindet sich bei Holderbank also an einem Stausee, der mich an den Aufstau der Aare oberhalb des Kraftwerks Rupperswil–Auenstein erinnerte. Die Wasserhöhe ist reguliert, der Wasserlauf zwischen den Dämmen träge, gebremst, wobei hier, oberhalb von Schinznach Bad, die östliche Terrassenkante das natürliche Ufer bildet. Auf dem beidseitig abgelagerten Sand und Schwemmgut bildet sich ein Röhrichtsaum aus Schilf, Rohrkolben und Wasserschwaden. Enten und Tauchvögel nutzen den Stausee gern als Rastgebiet.
Auch wir rasteten auf einer Sitzbank vor einer verlandeten Zone mit Schilf und angeschwemmten Hölzern und genossen das friedliche Landschaftsbild. Ein offenbar junger Heimbewohner aus Staufen AG hatte hier sein dickes Buch vergessen, von dem viele Seiten mit einem Namen und einer Telefonnummer mit grossen, zackigen Buchstaben und Zahlen beschriftet waren. Offenbar hatte ihn das beruhigende Naturerleben vom Handystress abgelenkt.
Bis zur zweigeteilten Brücke in Schinznach (für Fussgänger/Velofahrer und Motorfahrzeuge) war es nicht mehr weit. Wir wechselten bei dieser Gelegenheit die Aareseite und kehrten auf dem linksufrigen Aaredammweg, dem bewaldeten, fast geradlinigen Ufer folgend, nach Wildegg zurück. Unter bzw. neben der Brücke wartete ein Schwimmbad auf noch wärmere Tage, und etwas weiter oben fischte ein junges Pärchen mit Rute und Angel. Ob ich ein Kilo Felchen kaufen könne, fragte ich, doch war noch kein einziger Fisch an die Angel gegangen. Selbst die Fische sind hier mit einer besonderen Intelligenz gesegnet. Sie müssen sich vor passionierten Fischern in Acht nehmen: In der Nähe hatte ein solcher auf 2 Sitzbänken ein Plakat angebracht: „Guten Tag, lieber Naturfreund! Haben Sie früher geangelt. Suche auf diesem Weg noch alte gebrauchte Fischereiartikel jeglicher Art. Steht bei Ihnen noch etwas im Keller?“ Der Fischer hat sich mit einem kapitalen Hecht auf dem kleinen Plakat abgebildet.
Man spürt hier die menschlich herbeigeführten Landschaftsveränderungen auf Schritt und Tritt. Denn die Aare fliesst mehrere Meter über der westlich angrenzenden Talebene „Nidermatt“ vor den Dörfern Schinznach Dorf und Veltheim. Es handelt sich hier um einen Teil des Auenschutzgebiets Wildegg–Brugg, das vom Ökologen Heiner Keller (ANL AG, Aarau), Autor des Buchs „Bözberg West“, betreut wird. Auf der Naturama-Webseite heisst es dazu u.a.: „In der Zeit vor 1900 floss die Aare ungebändigt in ihrem natürlichen Bett. Der Fluss wies zahlreiche Arme ohne eigentliches Hauptgerinne auf und nahm bei Hochwasser eine Breite von rund 500 m ein. Der Verlauf der einzelnen Arme veränderte sich immer wieder. Riesige Geschiebemengen (Kies, Sand) wurden vom Fluss transportiert und umgelagert. Im Rahmen des Auenschutzparkes sind Massnahmen vorgesehen, die zu einem gebietstypischeren Landschaftsbild führen. Es sollen Lebensräume auentypischer Pflanzen und Tiere erhalten, gefördert, ausgedehnt und verbunden werden, um so den Erlebnisreichtum der Landschaft für Besucher zu erhöhen. Die Standortattraktivität für Natur und Naherholung in der Region soll verbessert werden.
Nur im Bereich der Alten Aare und in den angrenzenden Wäldern sind die für Auen lebensnotwendigen Wasserstandsschwankungen und Überschwemmungen noch möglich. Dieses ‚Auenkerngebiet’ soll durch Verbreiterung des Flussbettes, Verlängerung der Fliessstrecken und mehr Restwasser in einen natürlicheren Zustand versetzt werden. Auflandungen, Ufererosionen und die Bildung von Kiesinseln werden gefördert. Gestaltungsmassnahmen wie neue Gewässer oder Verzicht auf Nutzungen in den Anschlussflächen haben zum Ziel, Auenwälder flächenhaft zu vergrössern.“
Unterhalb des Damms sieht man einen Grundwasser führenden Bach (Giessen), dessen Geradlinigkeit mit einigen Steinbrocken (Tiefensteiner Granit aus dem Schwarzwald) belebt wurde. Das Auengebiet Wildegg–Brugg umfasst 314 Hektaren, der Stausee ist darin inbegriffen. Es ist eine Mischung aus anthropogenen (durch den Menschen verursachten) und natürlichen Einflüssen. Wir Anthropogenies sind nun dabei, der Natur wieder vermehrt zu ihrem Recht zu verhelfen, wie dieser Aarerundgang zwischen Wildegg und Schinznach zum Ausdruck brachte, eine verheissungsvolle Erscheinung und typisch aargauisch.
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