BLOG vom: 26.03.2007
Aargauer Irrtum: Dem Modetrend Gemeindefusionen erlegen
Autor: Walter Hess, Biberstein CH
Der einzigartige Kanton Aargau bezieht einen Teil seines Charmes aus der Existenz der vielen eigenständigen und charakteristischen Kleinstädte. Er ist keine Einheit, sondern lebt von der Vielgestaltigkeit. Das erhöht seine Faszination. Selbst die Hauptstadt Aarau ist, um den Worten des Historikers Charles Tschopp (1899–1982) zu folgen, „nicht der natürliche Kristallkeim, an den sich das übrige ankristallisiert hätte“. Unter diesen Voraussetzungen durften die Ergebnisse geschichtlich bedingter Aufteilungen in den Berner Aargau (mit Aarau, Brugg, Lenzburg und Zofingen), die Freien Ämter (mit Bremgarten und Muri), die damalige Grafschaft Baden (mit Baden und Zurzach) und ins ehemals österreichische Fricktal (mit Laufenburg und Rheinfelden) ihre Eigenheiten behalten. Ich erlebe noch heute eine andere Welt, wenn ich ins Fricktal, diese ehemals bäuerlich geprägte und heute industrialisierte Grenzregion am Rhein, oder aber ins Freiamt mit den vielen religiösen Attributen fahre, nicht allein der anderen Landschaftsformen wegen. Ich empfinde diese Unterschiede als wohltuend, bereichernd. Sie haben etwas zu erzählen.
Die geschichtlich unterschiedliche Herkunft der verschiedenen Aargauer Kantonsteile ist im politischen und geistigen Leben nach wie vor spürbar, und etwas Besseres kann gar nicht sein. Offenbar war und ist es auch allen Aargauern unter diesen Verhältnissen so wohl, dass laut Tschopp in seinem Buch „Der Aargau. Eine Landeskunde“ in diesem Kanton „nirgends das geringste Gefühl einer Argovia irredenta“ besteht, das heisst, es gibt keine Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Kantonsteile, kein Wunsch zu einer Rückkehr an ehemalige Mutterländer. Tschopp, einer der besten Aargau-Kenner, schreibt in seinem 1961 im Sauerländer Verlag erschienenen Aargau-Buch zu diesem Verschmelzungsprozess bildkräftig mit Bezug zur Erdgeschichte ferner: „Wenn ich an den Aargau denke, betrachte ich gern und voll Hoffnung einen prächtigen Stein aus schwarzem Kalk, den ich im Gerölle der Aare gesammelt und zu Hause auf den Arbeitstisch gelegt habe. Er stammt aus einem Felsen der Alpen, der vor Jahrmillionen durch gewaltigste Kräfte tausendfach zerrissen worden ist. Doch die verschiedenen Systeme älterer und jüngerer Spalten sind durch neue, weisse Kalkausscheidungen ausgefüllt und nur um so fester verbunden worden. Was einmal Riss und sozusagen schmerzliche Wunde gewesen ist, darf ich heute als reizvolle Zeichnung bewundern.“
Gemeindeabschaffung als „Reform“ im Angebot
Der Historiker und Schriftsteller Tschopp hatte das Aargauer Wesen erfasst, und dasselbe würde man selbstverständlich auch von jedem Regierungsrat noch ein paar Jahrzehnte nach Tschopp erwarten. Doch inzwischen hat sich die Weltseuche der Globalisierung breit gemacht, und viele Politiker haben Angst, etwas zu verpassen oder gar als hinterwäldlerisch zu gelten, wenn sie nicht auf diesen Zug aufspringen. Dabei wäre es gescheiter, auf den Schienen Barrikaden zu errichten und dieses alles niederwalzende Gefährt zur Umkehr zu zwingen.
Doch die Fusionitis mit ihren gleichmacherischen Bestrebungen auf dem Weg zur Zentralverwaltung scheint jetzt auch das Regierungsgebäude in Aarau erfasst zu haben, in dem bisher so viel Sinn für die Schönheiten des Aargaus aufgekeimt war. Ich konnte es kaum glauben, als ich in der aus dem Fusionsprodukt „Aargauer Zeitung“ AZ, hervorgegangen aus dem Aargauer Tagblatt und dem Badener Tagblatt, erfahren musste, der Aargauer Regierungsrat strebe mit dem Projekt Gemeindereform 2 Zentrumsstädte mit nationaler Ausstrahlung an. Durch die Zusammenlegung von umliegenden Gemeinden sollen Aarau und Baden auf 50 000 bis 60 000 Einwohner wachsen (Aarau hat gerade rund 15 700 und Baden rund 16 500). Diese Gemeindereform Aargau (GeRAG) sei ein „staatspolitisch zentrales Projekt“, habe Landammann Kurt Wernli am 16. März 2007 vor den Medien gesagt. Oberstes Ziel sei, die Gemeinden bei der Optimierung der Aufgabenerfüllung zu unterstützen – das in solchen Zusammenhängen übliche Managementgeschwafel. Das sei zwar nicht spektakulär, müsse aber im Zentrum der staatlichen Tätigkeit stehen, sagte Wernli noch.
Natürlich ist ein solcher Nonsens spektakulär. Denn dabei geht es um nichts weniger als den Auftakt zur Abschaffung der Gemeindeautonomie mit dem entsprechenden Demokratieabbau, um die Beschädigung des Verankertseins im eigenen engen Wohnbereich, um die Heranziehung des manipulierbaren Weltbürgers und um die Vermassung im Rahmen der im Entstehen begriffenen Einheitswelt. Selbstverständlich wird das alles heruntergespielt; die Folgen sind bei dem einzig möglichen salamitaktischen Vorgehen nur allmählich hinterher zu erkennen – wenn es zu spät ist.
Nach meinem Empfinden ist die Haltung des Sozialdemokraten und Landammanns Wernli, der im selbstständigen Windisch bei der Kleinstadt Brugg wohnt (eine Fusion wird gerade vorbereitet), ein unzulässiger Übergriff auf die Gemeindeautonomie, abgestützt auf die sozialistische Gleichmacherei. Bei der Gewaltentrennung hat der Regierungsrat doch keine Gemeindezusammenschlüsse zu verordnen, aus denen, wie Wernli durchblicken liess, auch Annannexionen werden können. Der Kanton will Gemeindezusammenschlüsse laut AZ tatsächlich nicht nur verlangen, sondern auch initiieren und finanziell unterstützen. Der Grosse Rat soll jedoch als „ultima ratio“ die Fusion von Gemeinden auch anordnen können. Das hätte ja gerade noch gefehlt.
Wachstumsstreben am falschen Ort
Kurt Wernli (1942) will das angeblich aus lauter Güte initiieren und fördern, „damit Gemeinden ihr Entwicklungspotenzial besser nutzen können“. Da geht es also, wie man sieht, um das übliche neoliberale Wachstumsstreben, und genau das brauchen Gemeinden nicht. Wernli verhehlte die Unterwerfung unter vermeintliche Globalisierungszwänge ehrlicherweise nicht: 2 Zentrumsstädte mit nationaler Ausstrahlung seien nicht nur aus kantonaler Sicht, sondern auch aufgrund der globalen Wirtschaftsentwicklung sinnvoll, gab er bekannt. Er würde mir persönlich mehr Freude bereiten, wenn er sich um ein qualitatives Wachstum bemühen würde. Zusammenballungen von Gemeinden zu wachsenden politischen Kombinaten nach Luzerner oder gar Glarner Vorbild, wo die Gemeindefusion überstürzt an einer Landsgemeinde beschlossen wurde, bevor die Leute Gelegenheit hatten, in Ruhe nachzudenken. Diese Form von Mitläufertum müsste bei all den vorliegenden katastrophalen Erfahrungen mit der Fusionitis auf allen Ebenen, insbesondere in der Wirtschaft, überwunden sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich auf die Webseite www.chance21.ch hinweisen, auf der sich weitsichtige Globalisierungs- und Gemeindefusionsgegner aus dem Raume Luzern mit treffenden Argumenten gegen das krankhafte Fusionsfieber zur Wehr setzen. Zum Beispiel mit dem Anklang an den Begriff Sumud: „Sumud – das ist ein arabisches Wort für Standhaftigkeit. Es bedeutet aber noch viel mehr und ein deutsches Wort dafür ist schwierig zu finden… Sumud ist das Eigene, vor Ort Gewachsene, das Stärke und Halt einer lokalen Gemeinschaft ausmacht: Verwurzelung, Nähe, Mitwirkung, Dorfgemeinschaft, Beständigkeit, Beharrungsvermögen, Selbstbewusstsein, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit, Musse, Langsamkeit, Ruhe, Tradition, Werte. Auf Sumud beruhen Vielfalt und Reichtum unseres Planeten.“
Die Organisation Chance21 habe ich im Blog vom 5.12.2005 Chance21: Intellektuelle Kämpfer gegen die Einheitswelt vorgestellt. Hoffentlich gibts davon bald eine schlagkräftige Filiale im Aargau.
Gemeinden als Biotop für Lebensqualität
Die Idee aus dem Aargauer Regierungsgebäude in der kommenden Megacity Aarau steht unter anderem vollkommen quer zu den Bestrebungen der Gesundheitsförderung Schweiz und dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium. Darin gibt es einen „Projektbereich Lebensqualität in Gemeinden“. Dazu heisst es: „Vorhandene Stärken und Ressourcen der Bevölkerung wie auch ihre Bedürfnisse sind am klarsten auf lokaler Ebene zu erkennen, dort wo man lebt. Mit dem Projekt ‚Lebensqualität in Gemeinden’ setzt die Gesundheitsförderung Schweiz auf jener Ebene ein Konzept um, wo aufgrund der föderalistischen Ordnung viele Entscheidungen getroffen werden, die die Rahmenbedingungen der Gesundheit und der Lebensqualität bestimmen.“ Es ist dann noch von der komplexer gewordenen und von Partikularinteressen geprägten Gesellschaft die Rede, welche sinngemäss die Wiederbelebung individueller Ressourcen auf der dazu passenden strukturellen Ebene sehr gut gebrauchen könnte. Doch im Aargau soll genau das Gegenteil gefördert werden: Vermassung und Anonymität – und das kann schon krank machen.
Die Förderung der Landflucht
Der sich weltweit erfüllende Traum der Oberglobalisierer sind die Megastädte – immer mehr Menschen wandern vom Land in die grossen Siedlungsräume ab, was auch durch die selbst in der Schweiz politisch vorangetriebene Abschaffung der kleinräumigen Landwirtschaft gefördert wird: Landflucht. Die CVP-Bundesrätin Doris Leuthard wirkt als Beschleunigerin bei diesem Prozess (sie würde wohl am liebsten nur noch monsanto-taugliche, globalisierte Grossbauern zulassen) und wollte dieser Tage gerade auch noch das bäuerliche Bodenrecht und das Pachtrecht in den Dienst der Kleinbauernvertreibung stellen (Förderung der „Bodenmobilität“); sie wurde aber in ihrem verhängnisvollen, trendigen Reformeifer vorerst vom Ständerat zurückgepfiffen, der sonst in Sachen Bauernvernichtung auch nicht eben zimperlich ist.
Solche Prozesse laufen global im kleinen und im grossen Stil. Die Folge sind wachsende Städte bis hin zu den ausufernden Megacitys mit ihren unlösbaren (auch sozialen) Problemen, obschon die geförderte Verstädterung mit der planlosen Wucherung (die Schweizer Raumplanung wird meistens in die Ecke gestellt) zielt haargenau in der falschen Richtung und müsste bekämpft statt gefördert werden. Die bekannten Resultate: Arbeitslosigkeit, Verelendung, Naturentfremdung, dicke Luft im wörtlichen und übertragenen Sinn, Gesundheitszerstörung, Anonymität, Sinnentleerung auf der einen und vergammelnde ländliche Gebiete auf der anderen Seite. Zudem ist diese politisch geförderte Flucht in die Städte auch mit enormen lokalen Kulturverlusten verbunden. Das Vakuum füllt dann mit Hilfe der Mainstreammedien der US-amerikanische massentaugliche Unterhaltungsschrott aus beim entsprechenden Bildungszerfall. Dafür sind die Menschen im Vermassungsprozess dann um so leichter manipulierbar.
Das projektierte Aargauer Modell
Bis dahin ist viel Kleinarbeit nötig, wie das Aargauer Beispiel zeigt. Zum euphemistisch zur „Gemeindereform“ heruntergespielten Globalisierungsbeitrag gehört vorerst die zunehmende Verkleinerung der Zahl der im Aargau noch bestehenden 229 Gemeinden. Vorerst sollen 2 Zentrumsstädte gebildet werden: Gross-Aarau aus der Fusion mit Suhr, Rohr, Buchs, Gränichen, Erlinsbach, Unter- und Oberentfelden sowie allenfalls Küttigen. Ich wohne in Biberstein (Nachbargemeinde von Küttigen und Rohr AG) und würde der ersten Phase dieses Globalisierungsprojekts offenbar gerade noch mit knapper Not entgehen. Unser derzeitiger Gemeindeammann Peter Frei betont bei jeder Gelegenheit der Bibersteiner Wunsch nach Eigenständigkeit. Man kann schliesslich nicht Frei heissen und gegen die Frei-heit sein. Und auch unsere Bibersteiner Biber an der Aare brauchen und nutzen ihre Freiräume. Sie lassen sich nicht globalisieren. Sie machen und fällen, was sie wollen, und das ist gut so.
Die Zentrumsstadt Baden ihrerseits soll aus den Zusammenschlüssen von Ennetbaden, Neuenhof, Wettingen sowie Ober- und Untersiggenthal hervorgehen. Dies seien jedoch keine Projektziele, sondern Visionen für die längerfristige Entwicklung, räumte der derzeitige Landammann ein, um das Volk nicht allzu sehr zu brüskieren.
Aber die Fusionitis soll umfassend sein: „Deutlich stärken“ möchte Wernli deshalb auch die Zentrumsgemeinden Brugg, Frick, Lenzburg, Muri, Reinach/Menziken, Rheinfelden, Wohlen, Zofingen und Bad Zurzach. Und im ländlichen Raum sollen sich die kleinen Gemeinden zu starken Landgemeinden vereinen, wohl damit sie dann umso eleganter in grössere Systeme eingebunden werden können. Der fusionseuphorische Landammann will die Zusammenschlüsse sogar mit Bonbons versüssen: Um die Strukturreform zu forcieren, erhalten 2 fusionswillige Gemeinden vom Kanton ab sofort einen Pauschalbeitrag an die Projektkosten von 60 000 statt wie bisher 30 000 Franken. Für jede weitere beteiligte Gemeinde wird der Betrag um 30 000 Franken erhöht, ein jämmerliches Angebot für die Abschaffung der Mitbestimmungsrechte im engsten Lebensraum.
Das sind unverhohlene Attacken auf die Gemeindeautonomie, und ich hoffe sehr, dass es im Aargau keine einzige Gemeinde gibt, die darauf hereinfällt und sich aufgibt. Natürlich kann man Gemeindeverwaltungen jederzeit rationalisieren und personell verschlanken; solche Rationalisierungseffekte sind auch durch freiwillige Zusammenarbeit in bestimmten Verwaltungsbereichen jederzeit möglich. Es spricht zum Beispiel nichts dagegen, wenn kleine Gemeinden ihre Steuerverwaltungen zusammenlegen, wenn das aus organisatorischen Gründen vorteilhaft ist. Dafür braucht es keine Abschaffung der Gemeindeautonomie. Und wenn Gemeinden aus eigenem Antrieb partout fusionieren wollen, sollen sie es halt tun.
*
Ich hoffe nun sehr, dass der Grosse Rat des Kantons Aargau (Kantonsparlament) den Zwangsfusionierungs-Unsinn im Keime zerstört und damit die Aargauer Tradition der Vielgestaltigkeit durch diese verwirrte Zeit hindurch rettet. Warum eigentlich will man die schön verheilten Risse und Wunden, die zu einem kunstvollen Gebilde wurden, wieder aufkratzen? Weil der Zeitgeist manchmal jede Vernunft überlagert und niemand weiss, was Sumud bedeutet.
Literatur zum Thema
Hess, Walter: „Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“ (ISBN 3-9523015-0-7), Verlag Textatelier.com, CH-5023 Biberstein 2005. (ISBN 3-9523015-0-7).
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