Textatelier
BLOG vom: 07.07.2007

Tessin-Reise (8): Mendrisiotto – Trichter in Richtung Italien

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Ganz im Süden des Schweizer Kantons Tessin beendet das Mendrisiotto die Schweiz; es ist die ehemalige Landvogtei Mendris. Währenddem es in der Talebene zwischen Luganersee, Mendrisio und Chiasso mit den ausgedehnten Bahngeleise- und Zollanlagen zischt, nervös brodelt und die Verkehrsströme wie in einen Trichter einmünden, ist in kleiner Entfernung beidseits davon eine beschauliche Stille vorhanden (wie bereits im Blog „Tessin-Reise 6“ über das Muggiotal dargelegt). Vor lauter Bergen, Seen und Seitentälern weiter nördlich, im Herzen des Südkantons, wurde dieses Randgebiet vom Tourismus weitgehend übersehen; es ist in manchen Tessin-Beschreibungen meist nur eine Randnotiz wert.
 
Doch gerade diese gemilderte Berührtheit macht den Reiz des Mendrisiottos aus. Bei unserer Exkursion vom 28. Juni 2007 im westlichen Teil des Bezirks Mendrisio, im Circolo di Riva San Vitale (total rund 7000 Einwohner), umfassend die Gemeinden Arzo, Besazio, Capolago (Beginn der Zahnradbahn auf den Monte Generoso), Meride, Rancate, Riva San Vitale (am Lago di Lugano mit der berühmten Kuppelkirche) und Tremona, hatte ich das Gefühl, wir seien die einzigen touristischen Elemente hier. Die Ausnahme bildete eine etwa 50 Kinder umfassende Schulklasse aus Italien, die in Meride erwartungsfreudig aus einem Reisecar herausquoll und dessen Lehrer mit einer Trillerpfeife für jene Ordnung sorgte, die nach einer Phase der pädagogischen Verluderung mit all den Folgen dank Bundesrat Christoph Blocher jetzt auch endlich wieder in die Schweizer Bildungsanstalten und Familien einziehen soll.
 
Vielleicht empfanden die Kinder das Gebiet nicht als Ausland, denn im Mendrisiotto hat Italien bereits begonnen. Doch es gibt viele Anzeichen, die darauf hindeuten, dass man sich gern zur Eidgenossenschaft zählt, die wohl mildeste Form von moderner Vogtei, die man sich denken kann. Das Schweizerkreuz taucht hier und dort auf. Die Geschichte wirkt auch in dieser Gegend nach: Nachdem sich die Schweizer und der französische Ritterkönig Franz I., der mit dem Sieg über die Schweizer in der Schlacht bei Marignano (1515) zum Herzogtum Mailand gekommen war, nach dem Frieden von Freiburg über alle Tessiner Vogteien bald einmal einig waren, brauchte es viele Ränkespiele, Streitereien und Interpretationen, bis auch das Mendrisiotto („Mendris und Balerna“) den Eidgenossen zugesprochen wurde. Aus der Untertanenzeit ist hier kaum noch etwas vorhanden; Burgen, Schlösser und Wehrtürme sind verschwunden; vielleicht wollte man nicht mehr daran erinnert werden und liess sie zerfallen.
 
Rancate
Wir hatten am Rande von Mendrisio übernachtet und wechselten, die engen Strassen und Paläste im Zentrum links liegen lassend, die Talseite über Autobahn und ausufernden Eisenbahnstränge ins nahe Rancate. Mendrisio ist, abgesehen vom alten Ortskern, ein Konglomerat des Fortschritts, das man normalerweise durchfährt, ungeduldig und nervös, wenn der Zoll in Chiasso seine Schlange bis hier hinschickt, oder, in umgekehrter Richtung, ist man froh, die Grenze und die Formalitäten hinter sich zu haben. Aber wahrscheinlich tut man der Kleinstadt Unrecht, wenn man sie mit Missachtung straft. Vielleicht schaue ich mir die verträumten Winkel, die in Würde gealtert sind, später einmal genau an. Es soll sie noch geben.
 
In Rancate ist mehr Raum, mehr und bessere Luft, wenn nicht gerade der bräunliche Wind aus den oberitalienischen Industriezentren heranweht. Bei der Entstehung dieses Dorfs mit den engen Gassen und den Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert wurde die bei der Befriedigung der fussgängerischen Zirkulationsbedürfnisse eingesparte Fläche zugunsten eines ausladenden Kirchplatzes eingesetzt, für die Piazza. An der Fassade der katholischen, einschiffigen Pfarrkirche Santo Stefano, die den leicht abfallenden Platz unten abschliesst, steht DOM, und als solchen habe ich dieses schlanke, barocke Bauwerk auch empfunden, selbst wenn es sich beim „Dom“ um eine Abkürzung von Dominus (Gott) handeln sollte.
 
Gleich neben der rosafarbenen Kirche, im ehemaligen Pfarrhaus, ist die kantonale Gemäldesammlung, die „Pinacoteca cantonale Giovanni Züst“, eine Schenkung, die laut dem aus Basel stammenden Stifter Giovanni Züst (1887–1976), Inhaber der Transportfirma Züst Bachmaier in Chiasso, dazu dient, „sowohl das Kulturgut der Gemeinde Rancate als auch des ganzen Kantons Tessin auszuweiten“ (1965). Sie ist also lokal verankert, greift aber über den ganzen Kanton und sogar bis in die Lombardei aus. Weil sich Züst mit kompetenten Beratern umgab, hat die Kunstsammlung einen grossen Stellenwert. Besonders markant vertreten ist der aus Tremona stammende Maler Antonio Rinaldi (1816–1875), von dem rund 100 Bilder und mehr als 250 Zeichnungen vorhanden sind. Zudem besitzt die Pinakothek Züst die meisten Werke von Giusepe Antonio Petrini aus Carona (1677–1758/9), einer der Hauptvertreter des Settecento in der nahen Lombardei (Quelle: Marangela Agliati Ruggia).
 
Uns verlockte der Hügel, der auf der Landeskarte 1:25 000 mit Neo bezeichnet ist und an dem Reben wachsen, die zusammen mit jenen bis Tremona den angeblich besten Wein des Mendrisiotto liefern, zu einem Spaziergang. Der Weg ist hier zum Teil ein Reblehrpfad. Uralte Baumriesen und auch Zypressen markieren das Bild ebenso wie Landhäuser, in denen man residiert und nicht nur wohnt – ein bisschen Toskana. Hier sterben Gehöfte und Bauten nicht an Zweckentfremdung; hier ist Leben, von hier aus blickt man bedächtig auf die Unruhe von Mendrisio herab. Die vielfarbige Architektur bis zu den Kirchen mit ihren grazilen Glockentürmen ist in die Landschaft einbezogen, an sie angepasst.
 
Arzo
Über Besazio erreichten wir nach einer kurzen Autofahrt Arzo. Auf der Webseite www.mendrisio-turismo.ch steht dazu: „Heute spielt die Landwirtschaft eine geringere Rolle als früher, wobei industrielle Aktivitäten an Bedeutung zugenommen haben. Dies besonders im Bekleidungssektor und im traditionellen Marmorbereich, der dieser Ortschaft auch schon früher Ruhm und Reichtum bescherte. Arzo war die Heimat von Stein- und Bildhauern wie den Rossi, die im 17. Jahrhundert an den Domen von Mailand und Turin gearbeitet haben. Der letzte, angesehene Spross der Bildhauerfamilie aus dem Dorf ist Remo Rossi.“
 
Weil die Bekleidungsindustrie hier offensichtlich eine Rolle spielt, gab ich Evas Drängen nach, im „Factory Outlet“ van Laack wieder einmal auf Hosensuche zu gehen. Wir fanden, von einer netten Verkäuferin durchs Textilienlabyrinth geschleust, auf Anhieb eine hellbraune Baumwollhose mit etwas Stretch im Bund, das die wechselnden Dimensionen meines Bauchs mitmachen würde, und selbst die Hosenbeine hatten für einmal die richtige Länge, so dass das Kürzen ausnahmsweise entfiel. Obschon der Preis (134,90 CHF) nach Evas fachkundigem Urteil etwas hoch geraten war, schlug ich sofort zu, um einen Grund für den Besuch weiterer Kleidergeschäfte definitiv aus der Welt zu räumen; ich hätte zu diesem Zweck auch mehr Fersen- bzw. Hosengeld bezahlt.
 
Das Dörfchen Arzo (499 m. ü. M.) am Fusse des Poncione d’Arzo (1015 m. ü. M.) ist über eine Brücke zu erreichen, die den vom Hausberg heranfliessenden Bach namens Gaggiolo überquert. Im Bachbett sind ab- und eingeschliffene Steine zu sehen. In einem Fenster in der verkehrsfreien Hauptgasse mit den schlichten Fassaden sind die Wappen der Patriziergeschlechter des Orts abgebildet: Allio, Ferrari, Fossati, Gamba und Rossi. Gedenktafeln weisen auf bekannte Künstler hin, so etwa auf den Bildhauer und Maler Andrea Salvatore Aglio (1736–1786). Und eine berühmte katholische Pfarrkirche gibt es selbstverständlich auch hier; sie ist den Santi Nazario e Celso gewidmet und dürfte aus dem 16. Jahrhundert stammen; es gibt, wie man sieht, im Tessin genügend Heilige für alle die Kirchen. Die Innenausstattung des Gotteshauses, vor allem der Hochaltar, die toskanischen Säulen und die Lisenen (etwas hervortretende Mauerstreifen), bestehen weitgehend aus dem rosafarbenen Marmor aus der Gegend, der selber wunderschöne Zeichnungen hervorbringt, ja geradezu zu abstrahierten und interpretationsbedürftigen Bildern führt. Für den Fussboden wurden rote und schwarze Marmorplatten verwendet, eine festliche Umgebung, welche die Leidensglorie der Heiligen und musizierenden Engel besonders eindrücklich untermauert.
 
Der berühmte Marmorsteinbruch Arzo befindet sich an der Strasse nach Meride. An seinem Eingang steht wie ein Portal eine Steinschneidemaschine, deren Messer kreisende Stahlseile sind. Der edle Stein, auf dem Arzo im 15. Jahrhundert sogar eine Zollabgabe erhoben hat, wurde meistens in Kirchen des Rokoko und Hochbarock eingesetzt. Dabei handelt es sich um die Buntmarmore Macchia vecchia, Broccatello (von Brokat abgeleitet) und Rosso d’Arzo, dekorative, geadelte Trümmergesteine. Diese etwa 210 Millionen Jahre alten Steine (aus der Jura-Zeit) habe ich bereits im Blog Gesteinspfad Holderbank AG: Steinreich Schweiz im Kleinen vom 27.2.2007 beschrieben.
 
An jenem Freitagmorgen war nur gerade ein einziger Arbeiter im Steinbruch, der von einem riesigen Kran überspannt ist, beschäftigt. Das Bild stand im Kontrast zum Bronzerelief beim wunderschön optisch geschlossenen Dorfplatz Arzo, wo gehämmert, gebohrt und Steine mit Manneskraft bewegt werden. Immerhin war ein Bildhauer in einer gedeckten Freiluftwerkstätte neben dem Steinbruch am Werk. Und im firmeneigenen Laden („Souvenirs“) mit Gegenständen aus dem Marmor wie Mörsern, Fruchtschalen usf. weiss man natürlich um den Wert dieses einzigartigen Materials.
 
Meride
Am bewaldeten Ausläufer des nördlichen Monte San Giorgio liegt Meride auf 579 m ü. M., eine Gemeinde, die seit 1517 zur Eidgenossenschaft gehört. Gelegentlich wird das in West-Ost-Richtung langgestreckte Dorf mit seinen 330 Einwohnern als schönstes des Mendrisiottos beschrieben; doch erreicht es für mich die Qualität von Muggio (Blog „Tessin-Reise 6“) nicht. Aber es hat mehr zu bieten, zumal viele Stuckateure und Bildhauer hier wirkten und ihr Talent nicht allein in den Dienst sakraler Architektur stellten; sie verschönerten auch profane Häuser, was ich als besonders zweckmässig erachte; es kann nicht schaden, wenn auch Werktage verschönert werden. Unterhalb der Kirche San Silvestro von Francesco Antonio Giorgioli (1655–1725) mit ihrer manieristischen (aus der Übergangszeit zwischen Renaissance und Barock stammenden) Holzkanzel aus dem Jahr 1591 gibt es schöne Gassen, durch die sich manchmal Autos zwängen. Die Fussgänger müssen dann in Seitengassen abtauchen.
 
Das über einen schönen Innenhof mit dreigeschossiger Galerie zu erreichende Ortsmuseum nahe beim Gemeindehaus ist täglich von 8 bis 17 Uhr offen und frei zugänglich. Das bescheidene Museum wurde 1973 auf Initiative der Professoren Emilio Kuhn-Schnyder und Hans Rieber vom Paläontologischen Institut der Universität Zürich zusammen mit der Gemeinde Meride gegründet. Hier sind vor allem Fossilien als Fundstücke vom nahen Monte San Giorgio zu sehen, die in den letzten Jahrzehnten zusammengetragen worden sind. Die Fundstücke sind über 200 Millionen Jahre alt und stammen aus der Zeit, als das damalige Mendrisiotto nur an einzelnen Stellen als Insel über das Meerwasser hinaus schaute. Auch Abdrücke der reichen Fauna aus der mittleren Trias sind anzutreffen. Nur an heutigem Menschenmaterial war in diesem Raum nichts anzutreffen, uns ausgenommen.
 
Aber leibhaftige Menschen gibts in diesem Dorf tatsächlich noch, besonders im kleinen Laden, wo eine temperamentvolle, füllige Verkäuferin mit rot gefärbtem Haar ihre Brote, Brötchen, Früchte und auch Wein und Waschmittel verkauft. Das wichtigste Gerät ist hier neben der Waage die Aufschnittmaschine, die für uns eine Coppa sehr fein schnitt und etwa in 2-mm-Stärke die prall verschnürte Mortadella nostrano mit ihrer fettigen beigefarbenen Haut problemlos bewältigte; die Scheiben zerfielen nicht.
 
Eigentlich plante ich, noch schnell über die Landesgrenze nach Viggiù (Italien) mit seinen Steinbrüchen zu fahren, doch entschloss ich mich im letzten Moment, stattdessen den südlichsten Punkt der Schweiz anzusteuern und zu erwandern. Ich steuerte über Seseglio das Dörfchen Pedrinate an, das laut einem Dekret vom 24. November 1975 heute zur Gemeinde Chiasso gehört.
 
Dieser südlichste Punkt, den man im Niemandsland richtiggehend suchen muss, ist ein eigenes Blog wert. Und ich verspreche, dass in jenem Tagebuchblatt keine einzige Kirche vorkommt.
 
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