Textatelier
BLOG vom: 20.07.2007

Viamala und Rofflafall: Wenn heiss, dann ab in die Schlucht

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Der Methoden, einen Hitzetag oder gar eine Hitzeperiode zu überleben, sind viele. Eine sehr beliebte davon ist, in ein Gebiet zu verreisen, in dem es noch heisser ist: Richtung Süden.
 
Eine meiner eigenen Arten, der Hitze den kalten Rücken zu zeigen, sind Schluchten-Besuche. Man steigt zwischen steilen Felswänden möglichst bis zum Fliessgewässer hinunter und stellt fest, dass es dort unten immer kühler und damit angenehmer wird. Nur selten, wenn die Sonne hoch steht, dringen vereinzelte Strahlen dort hinunter und stören die Kühle. Besonders attraktiv sind Schluchten mit eingebautem Wasserfall. Das Wasser wird zersprüht, zerstäubt, wirkt wie eine feine Dusche. Wenn es zusätzlich noch etwas von den moosigen Felsen tropft, ist das eine willkommene Begleiterscheinung.
 
Nun muss man natürlich Verständnis dafür haben, dass nicht jedermann eine tiefe Schlucht zur Verfügung hat. Besonders Flachlandbewohner haben diesbezüglich erhebliche Defizite. Und ich gestehe unumwunden ein, dass ich selber etliche Kilometer hinter mich bringen muss, um in die Nähe einer ausgewachsenen Schlucht zu gelangen. Aber ich nahm die gut 2,5-stündige Autofahrt ins Gebiet des Hinterrheins unter die Räder, wo die Viamala- und die Rofflaschlucht sind, welche die kühnsten Schlucht-Erwartungen erfüllen. Und dort sind auch noch viele andere Attraktionen.
 
Die Viamala
Die Viamala (Via Mala) erreicht man von Chur und Thusis her problemlos, mit dem Postauto oder im Privatwagen; die Schlucht ist heute fast übererschlossen. Gäbe es aber keine Strasse, keine Parkplätze, Wege, Treppen, Stege, könnte man die „grausame Tiefe des Tobels“, wie der Bündner Pfarrer und Chronist Nicolin Sererhard (1689–1756) einmal schrieb, nur bei lebensgefährlichen Kletterpartien erleben, wenn überhaupt. Für den modernen Komfort zahlt man im Zentrum der Schlucht zwischen Thusis und Zillis, wo sie für Besucher geöffnet ist, 5 CHF Eintrittsgebühr an einem Kiosk. Der Besucher kann dann entspannt in die abgrundtiefe Kerbe, die der Hinterrhein in die Landschaft gemeisselt hat, hinabsteigen – die 250 Stufen einer 1903 gebauten Steintreppe sind ein Kinderspiel, ebenso das kühle Lustwandeln auf Felsgalerien. Er kann die Faltungen an den Schieferwänden bewundern und von vergangenen geologischen Zeitenräumen träumen, sich von Orientierungstafeln informieren oder sogar unterhalten lassen; darauf werden ganze Geschichtlein erzählt. Zum Beispiel jene vom jähzornigen Säumer, der in der Schlucht sein Leben und die Rotweinfässer als Busse für seine Unbeherrschtheit verloren hat. Meines Erachtens wird da mit touristischem Klimbim überbordet; der Naturraum wäre Attraktion genug. Man nähert sich beim Absteigen dem Hinterrhein, dem weisslichen, grauen bis blauen belebten, unteren Ende der Schlucht mit ihren Schlagschatten. Das Gewässer zieht kraftvoll ab.
 
Das Wasser hat den Einschnitt in einer unendlichen erosiven Geduldsarbeit Zentimeter und Zentimeter ausgehoben. Dabei liess es sich nicht nehmen, noch so genannte Strudeltöpfe (auch „Gletschermühlen“ genannt) zu produzieren, trichterförmige, wunderbar geschliffene Öffnungen im Fels, gedrechselte Mühlen, in denen der oder die Mahlstein(e) freischwebend am Fels polierte(n). Und was dann zu einem riesigen Loch mit eingedrechselten Spiralwindungen wurde, aber kaum einsehbar war, wurde vom vorbei fliessenden Hinterrhein, der immer auch Steine und Sand zu Polierzwecken mitbrachte und mitbringt, einseitig abgetragen, so dass einer der Töpfe wie als 1:1-Modell aufgeschnitten seine ganze ehemalige innere Schönheit nun offenbart. Die von aussen bearbeiteten und so geöffneten, manchmal kleineren Töpfe erscheinen in einem Falle wie ein riesiges Gesicht mit hohlen Augen, die ins Leere blicken. Auch eine vorspringende Nase ist dabei.
 
Oft schwillt der Hinterrhein gewaltig an, und er entfaltet ungeheure Kräfte. Er geht mit dem Viamalaschiefer und dem darüber liegenden Flysch (ein ebenfalls schieferartiges Gestein, das zur penninischen Aduladecke gerechnet wird) recht unsanft um. Doch sein bildhauerisches Gestaltungstalent darf sich sehen lassen.
 
In der Broschüre „Viamala“, die man beim Kioskeingang am Schluchteingang kaufen kann, hat der Journalist Siffredo Spadini (1913–1983) geschrieben, wir seien nun Zeugen, „wie die Natur ihr eigenes Werk langsam, unendlich langsam, aber stetig zerstört, wie die ,ewigen Berge’ einem Abtragungsprozess unterliegen, der seit Jahrmillionen andauert. Denn alles ist Wandel“. Und, möchte man beifügen, bei diesem Zerstörungsprozess werden neue schöpferische Leistungen vollbracht. Wahrscheinlich kennt die Natur das Wort „Zerstörung“ nicht, ebenso wenig wie „Schöpfung“. Da ist einfach eine immerwährende Dynamik vorhanden, die von einer unbegrenzten Fantasie begleitet ist.
 
Die Viamala wurde selbstverständlich nicht einfach zu Touristen-Kühlzwecken erschlossen und besucht. Sie befindet sich nämlich genau dort, wo ein wichtiger Transitweg über die Alpen vorbeiführt, und sie war dementsprechend ein lästiges Verkehrserschwernis voller Gefahren, die niemand gesucht hat. Der abgestürzte Säumer ist ein Exempel dafür. Die älteste bekannte Wegbeschreibung stammt aus dem Jahr 1219, und seither wurde eigentlich ständig am Ausbau des Wegs zur Strasse gebaut, besonders seitdem im Jahr 1928 der motorisierte Verkehr auch auf den Strassen des Kantons Graubünden zugelassen wurde. Die alten Bündner hatten diesem Moloch Motorfahrzeugverkehr sehr skeptisch gegenübergestanden, was ihre Weitsicht beweist. Er führt zu ständig gravierenderen Eingriffen in die Landschaften. Und nicht alle sind von so viel Formempfinden geprägt wie die alten Brückenbauwerke. Die 1739 erstellte „hohe Brücke“ über die Viamalaschlucht, ein Natursteinkunstwerk, zu der sich eine 2. Brücke gesellte, beherrscht und bereichert das Bild immer wieder, wenn man aus der bemoosten Schlucht nach oben schaut.
 
In der 2. Hälfte der 1950er-Jahre wurde die Viamala-Route zwischen Thusis und Rongellen, dieser grünen Oase zwischen Felsen, in einem von Steinschlägen gefährdeten Gebiet neu angelegt; ich werde in einem späteren Bericht noch auf die alte Strasse zurückkommen. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand die Strassenbauerei mit der A13 (früher: N13) in der Mitte der 1960er-Jahre, welche seither die alte Strasse ergänzt. Zu jener Zeit wurde auch der San-Bernardino-Strassentunnel vorgetrieben.
 
Wenn die wild-pittoreske Landschaft mit den wetterfesten Fichten, Föhren und Lärchen zwischen abgestürzten Felsblöcken in Steillagen für die Strassen- und Brückenbauer allzu ungestüm wird, lassen sie die Strasse im Berg verschwinden; so kann man Serpentinen vermeiden. In diesem Sinn und Geist gehört neben anderen ein 720 m langer Tunnel im Viamala-Bereich zur A13. Dadurch wird das Herz der Viamala, die Schlucht an ihrer eindrücklichsten Stelle, umfahren. Bei Freiluftführungen jener Strasse aber mussten grosse Steinschlaggalerien, Stützmauern und Brücken erstellt werden. Die Strasse ist auf etwa 70 % der Strecke von Kunstbauten garniert oder aber sie führt über und durch solche. Und die Viamala (als böse, schlechte Strasse, wie der Name sagt) wurde zur Via Buona. Damit dürfte dem Verkehrswesen in diesem Gelände hinreichend Aufmerksamkeit und Zuwendung zuteil geworden sein. Es sollte nun nicht noch mehr verzivilisiert werden.
 
Die Rofflaschlucht
Wer dem Hinterrhein auf der alten Strasse hinauf Richtung Quelle folgt, passiert nach der Viamala bald einmal Zillis mit der berühmten Kirche (Holzkassetten-Deckenmalerei), anschliessend Andeer und kommt dann etwas weiter oben bei Bärenburg zur Rofflaschlucht (Rofnaschlucht, La Rofna), die vorerst als gepflegtes Gasthaus (Hotel) in Erscheinung tritt (noch unterhalb des Dörfchens Sufers, Ausfahrt von der A13: „Avers/Roffla"). Das ist nach der Viamala das nächste felsig-romantische Gebiet, auf der Ost- und Südseite des Bergs namens Muttans (1997 m. ü. M.) gelegen. Hier herrscht der grünliche Andeergranit (Andeerer-Granit) vor, welcher in der Nähe von Andeer in 3 Steinbrüchen abgebaut wird. In 2 davon haben wir uns umgesehen; es sind wirklich imposante Anlagen, aus denen teilweise riesige Blöcke herausgebohrt und -gesprengt werden.
 
Im erwähnten Gasthaus „Rofflaschlucht“ mit der hellen Fassade und den roten Blumen auf den Sprossenfenstersimsen zwischen den ockerfarbenen Fensterläden unter dem steinernen Krüppelwalmdach neben einem ebenfalls mit Geranien geschmückten Erweiterungsbau aus Holz kann man die Billetts (3 CHF pro Person) für den Einstieg in die Schlucht kaufen. Die Tour beginnt in der heimeligen Gaststube und führt vorerst durch ein kleines Museum mit altem, bei der Schlucht-Erschliessung eingesetztem Werkzeug. Auf einem Weg mit Tunnels, aber ohne Treppen, der nicht einmal besondere Ansprüche ans Schuhwerk stellt, begibt man sich in dieser eindrücklichen und besonders kühlen Schlucht um Felsen herum und unter überhängenden Felsen hindurch zum Wasserfall, unter dem ein Tunnel nach menschlichen Ausmassen angelegt worden ist; den Kopf muss man etwas einziehen. Knapp 10 Minuten genügen dafür. Man kommt beidseits des Wasserfalls sozusagen in Körperkontakt mit dem herabstürzenden Rheinwasser, das sich unten zu smaragdblauen, langsam abfliessenden, moussierenden Weihern sammelt und sich den skurrilen Weg durch manchmal enge Stellen sucht. Von den Felsen tropft es – alles ist etwas feucht, und das fühlt sich an Tropentagen umso besser an. Die Schlucht wirkt weniger bedrohlich als die Viamala, ist aber immer noch eindrücklich genug. Wenn die Viamala die stolze, mächtige, fast unnahbare Diva ist, dann ist die Rofflaschlucht das mollige Bauernmädchen, dem man nahe kommt und das einen liebevoll umarmt und für Erfrischungen sorgt.
 
Auf dem hier vorhandenen Gneis hat sich eine andere Vegetation als in der schiefrigen Viamala entwickelt. Wagten sich im Schatten der Beerentragenden Eibe (Taxus baccata) die Tollkirsche (Atropa Belladonna), der Nestwurz (Neottia Nidus avis) und das Steinglöcklein (Campunala cochleriifolia) in die Viamala hinein, so begegnet man in der Rofflaschlucht im Frühjahr der Klebrigen Primel (Primula hirsuta), später den Feuerlilien (Lilium bulbiferum) und dem Strauss-Steinbrech (Saxifraga cotyledon), Steinnelken (Dianthus silvestris); auch Hauswurzarten und viele Moose und Flechten sind neben vielen anderen Arten vertreten.
 
Der Weg zum Roffla-Wasserfall, eine Felsengalerie, wurde von Christian Pitschen Melchior – seiner Familie gehörte das Gasthaus seit Generationen – zwischen 1907 und 1914 in mühseliger Handarbeit (Handbohrungen und Sprengungen) freigelegt. Er war aus existenzieller Not heraus nach Amerika ausgewandert und lernte dort am Beispiel der Niagarafälle, dass mit Naturwundern Geld zu verdienen war; sogar von Amerika kann man also etwas lernen. Er kam wieder zurück ins Schams. Die eigenhändige, fussverkehrsmässige Erschliessung des Wasserfalls sollte als touristische Attraktion den Wegfall der Einnahmen aus dem Transitverkehr wettmachen. Dieser war nach der Eröffnung der Brenner-Eisenbahnlinie (1867) und der Gotthardbahnlinie (1882) zusammengebrochen, und viele Leute aus der Talschaft waren zum Ab- und Auswandern gezwungen.
 
ViaSpluga
Der Verkehr über die Alpen hat diese Landschaft während Jahrhunderten geprägt; und das Schicksal der Menschen im Hinterrheintal (Schams, Schons) hing und hängt noch heute davon ab – heute vor allem vom Tourismus. Die 65 km lange ViaSpluga als alter Kulturweg vom fruchtbaren Domleschg durch die furchtbare Viamala und durch die Tannen- und Lärchenwälder des Hinterrheintals hinauf auf den Splügenpass und hinunter in die mediterrane Welt des Valchiavenna wurde am Ende des 20. Jahrhunderts restauriert und am 7. Juli 2001 sozusagen in erneuerter Ausgestaltung wiedereröffnet. Der Fremdenverkehr entwickelte sich seither tatsächlich gut. Jedenfalls konnten wir am Abend des 16. Juli 2007 im ganzen Dorf Andeer, das ebenfalls häufig mit etwas Schatten aufwarten kann, keine Übernachtungsmöglichkeit mehr finden. Wir fuhren dann nach Zillis zurück, ins Gasthaus „Pro l’ava“ (feuchte Wiese) mit Blick auf die ganz nahe gelegene berühmte Kirche St. Martin mit der hünenhaften, etwas verwitterten Christophorus-Gestalt an der Fassade auf der Eingangsseite zurück (er soll ja ein Schutzpatron der Reisenden sein und von einem Ungeheuer geträumt haben, das die Welt regierte). In dieser ruhigen, geschützten Umgebung stärkten wir uns vorerst mit einer exzellenten, währschaften Gerstensuppe, dem elementaren Fundament der urchigen Bündner Küche.
 
Der Bergbau in Eisen- und Bunterzminen spielte im Schams eine untergeordnete Rolle. Die internationale Handelsstrasse war es, die vielen Leuten zu Arbeit und Verdienst verhalf. Die stattlichen, einfachen, zweckmässigen Herbergen zeugen noch heute davon. Die Geschichte wirkt nach; sie ist ein Teil der Faszination dieses auch landschaftlich eindrücklichen, durch seine Bedrohlichkeit und Rohheit manchmal fast abweisenden Gebiets.
 
Die in Wert gesetzten Schluchten an der ViaSpluga sind wichtige Attraktionen, doch nicht die einzigen. In einem nächsten Blog werde ich über weitere Entdeckungen im Schamsertal berichten. Ich hoffe, dass die Erfrischung in der Schluchtenatmosphäre die Erinnerung an diese Region Viamala bis dahin noch wachhält.
 
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