Textatelier
BLOG vom: 21.07.2007

Abschied vom Geschäftsareal der Feldmann, Dutli & Co.

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
Stichworte, die ich für Blog-Beiträge notiert habe, geben heute nicht viel her. Ich sitze nun schon 2 Stunden am Computer und verwerfe alles, was ich angefangen habe. Der Tag ist schwül, macht etwas träge. Nun hat aber ein kleiner Rundgang am Limmatufer neuen Schwung in meine Gedanken gebracht und ich kann fortfahren.
 
Das Areal der Engros-Papierhandlung Feldmann, Dutli & Co, zwischen Hardturmstrasse und Limmatufer in Zürich, ist in meinem Visier. Es wird abgebrochen. Seit gut 2 Wochen verfolgen Primo und ich, wie die Gebäude abgetragen und Baugrund-Sondierungen vorgenommen werden.
 
2 Nebengebäude sind bereits vom Erdboden verschwunden. Jetzt ist das Hauptgebäude ausgekernt und bekommt demnächst den Todesstoss. Ich beobachtete die wackeren Männer, wie sie die hölzernen Innenausbauteile zielsicher aus oberen Stockwerken in die Mulde warfen. Da hätte ich ganz gern mitgemacht.
 
Auf einem Vordach über dem hinteren Eingang hat sich eine Pappel eingenistet. Sie mag 2 oder 3 Jahre alt sein. Trotz kargem Boden hat sie sich entwickeln können. Nun sind auch ihre Tage gezählt.
 
Hier sah ich letzte Woche 2 junge Mütter mit Kindern im Vorschulalter. Diese schauten durch das Bauabschrankungsgitter den Arbeitern zu. Doch als eine kleine Mauer einstürzte, weinte ein Knabe herzzerbrechend und war fast nicht mehr zu beruhigen. Ich weiss nicht, hatte er Angst oder war es für ihn einfach traurig, dass etwas kaputt gemacht wurde.
 
Feldmann, Dutli & Co. ist für mich von klein auf an ein Begriff. Hier durften Kinder nach Papierresten fragen. Obwohl ich eher scheu war und nicht gerne bettelte, zog es auch mich an den Ausgabeschalter. Papier löste immer Glücksgefühle in mir aus. Wir bekamen breite Abschnitte in verschiedensten Farben und Qualitäten. So etwas gab es zu Hause nicht. Wer gerne zeichnete oder schrieb, holte sich von Zeit zu Zeit das Material in diesem grossen Haus. Wenn wir in sehr kurzen Abständen wiederkehrten, hiess es manchmal, jetzt gerade sei nichts vorrätig für uns. Das zu erfahren, war auch wichtig. Es verhinderte, dass wir anmassend oder verschwenderisch wurden.
 
Die Firma Feldmann, Dutli & Co. gibt es schon lange nicht mehr, obwohl der Firmenname immer noch an der Westseite des Haupthauses prangte. Die Gebäude erfuhren eine Umnutzung, aber die äussere Erscheinung blieb erhalten. Mindestens einmal im Frühjahr, wenn der Baum aus der Akazienfamilie beim Treppenaufgang blühte oder im Herbst, wenn die roten Laternchen ausgewachsen waren, schaute ich genauer hin und erinnerte mich an das Kinderglück von einst.
 
Bereits mit dem Abbruch-Beginn ist im „Tages-Anzeiger“ ein Inserat und eine Modellansicht eines Neubaus für Eigentumswohnungen auf diesem frei werdenden Gelände erschienen. Es wird den Ort radikal verändern. Nun sind beinahe alle Fabrikgebäude, die zu meinem Schulweg durch die Hardturmstrasse Richtung Escher Wyss Platz führten, abgebrochen. Das einstige Industriequartier ist kein Industriequartier mehr.
 
Von solchem Wandel zeugt vielleicht die neue Erscheinungsform unseres Quartierwappens. Ursprünglich als Zahnrad gestaltet, wurde es auf weissem Stoff schwarz gedruckt. Nun erschien es am Züri-Fest 2007 auf der Quaibrücke und innerhalb aller Quartierfahnen als zürich-blaues Zahnrad auf weissem Grund. Wir wissen nicht, ob wir da die Première eines modernisierten Quartierwappens gesehen haben. Weder vorher noch nachher wurde darüber berichtet.
 
So geschehen Veränderungen. Schleichend. Plötzlich ist eine lange nicht bemerkte Neuerung fest verwurzelt, und niemand stösst sich daran. So ergeht es dem Begriff „Zürich-West“. Obwohl ziemlich sicher noch nicht offiziell verankert, hat er sich durchgesetzt und wertet das ehemalige Fabrikgelände auf. Es gilt heute als chic, hier zu leben oder zu arbeiten.
 
Und jetzt noch das Finale meines Beitrages, das mir unerwartet zugekommen ist. Auf meinem oben erwähnten Auslauf traf ich auf 2 Bauarbeiter, die ihr Tagwerk beendet hatten und sich ein tolles Vergnügen leisteten. Sie hatten eine grosse Mulde mit Plastikfolien ausgekleidet, liessen Wasser einlaufen, zogen die Badehose an und hechteten mit akrobatischer Lebensfreude hinein. Sie lachten übermütig. Kinder hätten solche Freude kaum ausgelassener zeigen können. Und auch ich war zufrieden, denn diese Männer hatten mir gerade den Schlusspunkt unter diesen Aufsatz gesetzt.
 
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