BLOG vom: 22.07.2007
Auf Säumerspuren: Überlebensübung im Verlorenen Loch
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Saumpfade werden dank der heute zunehmenden Lust am Wandern wiederentdeckt, instand gestellt und innerhalb des sanften Tourismus vermarktet, eine durchaus begrüssenswerte Erscheinung. Auch ich bewege mich gern bedächtig auf historischen Wegen und Strassen, weil sie ein Stück Landschaftsgeschichte erschliessen und handgreiflich von Zeiten erzählen, zu denen das Reisen und der Gütertransport noch eine beschwerliche Sache waren. Sie schaffen eine Verbindung von Natur- und Kulturlandschaften. Hat man Glück, sind sie im Gelände noch zu erkennen, weil sie von weitsichtigen Organisationen unterhalten wurden. Sonst aber verschwinden Pflästerungen, Geleiserillen für Gabelfuhrwerke, Stundensteine, Wegkapellen und manchmal auch ganze Brücken, über die Saumtiere, Säumer, Reisende, Pilger usf. gegangen sind, auf Nimmerwiedersehen. Die Natur hat es darauf abgesehen, alles mit Gras (Gebüschen und Bäumen) überwachsen zu lassen.
Die Saumwege (alte Fuss- und Fahrwege) haben mit dem Bau von Eisenbahnen und komfortablen Fahrstrassen ihre einstige Funktion für den Warentransport verloren, und sie selber wurden weitgehend vom Zahn der Zeit zernagt oder von neuen Verkehrsanlagen zugeschüttet. In der Schweiz sorgt das Projekt „Kulturwege Schweiz“ der Fachorganisation ViaStoria (Zentrum für Verkehrsgeschichte, ein Annexbetrieb der Universität Bern) mit Renovations- und Restaurierungsarbeiten dafür, dass sie nicht in Vergessenheit geraten (www.viastoria.ch). Verschiedene Schriften informieren über die Geschichte und den Zustand dieser Routen, die einst Bedeutung hatten: über die Jakobswege (ViaJacobi), über den Stockalperweg Brig–Gondo (ViaStockalper), den Weg des Weins zwischen Tirano I und Schruns A (ViaValtellina), die Route des Thomas Cook von 1863 (Genf–Berner Oberland–Luzern–Jura, die ViaCook), die Salzhandelsroute Arc-et-Seans F–Bern (ViaSalina), den Gotthard-Handelsweg Basel/Schaffhausen–Chiasso (ViaGottardo), den Pilgerweg Canterbury–Rom (ViaFrancigena), den Käse-Handelsweg Brünig–Grimsel–Gries (ViaSbrinz) und die Römerroute Genf–Augst BL (ViaRomana).
Zu den bedeutenden Kulturwegen gehört auch die ViaSpluga, die bereits im Blog über die Viamala und die Rofflaschlucht (20.07.2007) erwähnt worden ist: der Splügenpass-Saumpfad Thusis GR–Chiavenna mit dem Herzstück des 2113 m hohen Splügenpasses. Dieser Splügenweg gilt im Rahmen der „Kulturwege Schweiz“ als Modellprojekt. Eva und ich haben nach der touristisch vorgegebenen Viamala-Schluchtbesichtigung am 16. Juli 2007 einen kleinen Teil davon abgewandert. Und zwar fuhren wir vom Schluchtkiosk die Strasse aufwärts bis kurz vor die Raniabrücke (883 m ü. M.), wo die Strasse von der linken auf die rechte Seite des Hinterrheins wechselt und ein Campingplatz (mit Abstellverbot) vorhanden ist. Etwa 100 m vor der 1836 errichteten Bogenbrücke aus Stein ist ein nicht speziell gekennzeichneter Abstellplatz neben der Strasse, wo wir den Prius seinem Schicksal überliessen.
Mit Wanderstöcken, Rucksack und gutem Schuhwerk ausgerüstet überquerten wir die Raniabrücke über den Hinterrein, wo (rechtsufrig) gleich ein üppiger Wanderwegweiser nach Norden in den Wald zeigt: ViaSpluga, Richtung Thusis. Man folgt der Hinterrhein-Fliessrichtung auf einer wechselnden Höhenlage auf einem ausreichenden Weg und freut sich des Lebens und der angenehmen frischen Luft, besonders wenn sonst von einem Tropentag die Rede ist.
Noch vor dem Eingang in die Viamala-Schlucht (rätoromanisch: Veias malas), wo sie am wildesten ist, führt die 1999 erstellte Hängebrücke Punt da Suransuns ans linke Hinterrheinufer. Dieses sanft schaukelnde Bauwerk, das der Verein Kulturraum Viamala beim Bündner Ingenieur Jürg Conzett in Auftrag gegeben hat, ermöglich es wieder, die Viamala-Schlucht auf dem alten Kulturweg zu durchwandern und zu erfahren, in was für einem schwierigen Gelände sich die frühen Verkehrsteilnehmer bewegen mussten. Die in diesem felsigen Umfeld filigran anmutende, mit Stahlbändern verspannte Brücke mit den aneinander geschobenen, dünnen einheimischen Granitplatten als Bodenbelag steht genau dort, wo bereits die Römer den Hinterrhein überquert haben und über unseren Köpfen die Autobahn A13 durchfliegt. Die Spannseilbrücke ist gewichtsbedingt leicht nach unten gebogen und gilt als Meisterwerk, fand internationale Anerkennung. Ein gewisser Gegenverkehr ist möglich, wenn sich die Wanderer etwas schmal machen. Man arbeitet sich dann über einen Waldweg wieder zu den beiden grossen Viamalabrücken aus dem 18. Jahrhundert empor, welche den schmalen Taleinschnitt in 70 m Höhe überqueren und wieder einen Blick in die Felsenschlucht der oberen Viamala bieten, in der sich viele Touristen umsehen.
In der Nähe des Viamala-Kiosks begegneten wir dem St. Galler Wirtschaftswissenschaftler Matthias Haller und dessen nicht weniger sportlichen Frau; die beiden waren mit Elektrovelos hier angekommen und zeigten sich von dieser erleichterten Art der Fortbewegung begeistert. Der Professor für Risk Management hatte die mit diesem zeitgemässen Fahrrad verbundenen Risiken sicher genau abgeklärt. Die Batterien, die leicht auszuwechseln sind, seien derart leistungsfähig, dass man ihre Kapazität an einem einzigen Tag kaum aufbrauchen könne, erfuhren wir, man helfe ja immer etwas mit.
Mit diesem neuen technischen Erfahrungswissen ausgerüstet wanderten wir der kleinen, kaum 50 Einwohner zählenden Gemeinde Rongellen entgegen, die noch zum Kreis Schams gehört. Diese Strecke zwischen Hinterrhein (rätoromanisch: Rein Posteriur) und A13 war nicht besonders aufregend, zumal man sich meist auf Asphalt aufhielt, der unter der mittäglichen Sonne wie eine Bodenheizung wirkte. Bei Rongellen verschwindet neben dem Talwappen mit dem heilig gesprochenen, gütigen und bescheidenen Martin, der schon wieder mit dem Schwert den Mantel in 2 Teile schneidet, um ihn mit dem Bettler zu teilen, die A13 im Berg Bofel. In gut etwa 1½ Stunden könnte man am Rande dieser Anhöhe vorbei bzw. durch den Bofelwald ebenfalls nach Thusis gelangen. Doch entschied ich mich für die kürzere und wohl auch berühmtere Variante, das etwa 1,5 km lange Verlorene Loch, auch wenn ich dort im Prinzip nichts verloren hatte. Es beginnt im Gebiet, das auf der 1:25 000er-Landeskarte „Thusis“ (Nr. 1215) mit Höll bezeichnet ist. Ich sollte noch erfahren, dass dieser Name nicht ganz unberechtigt ist.
Im Verlorenen Loch
Durch das Verlorene Loch zwischen Rongellen und Thusis führt die in den Jahren 1821/23 erbaute alte, zweispurige Kommerzialstrasse, die den Zugang ins Viamalagebiet und weiter ins Schams und auf und über den Splügenpass ganzjährig ermöglicht hat. Dieses Loch ist also gewissermassen das Nordende der Viamala. Ganz unten fliesst der Rhein, wo er sein Erosionswerk Millimeter um Millimeter weiterführt, also weiterlocht. Auch in dieser Schlucht bestehen die Felswände aus dem spaltbaren oder gespaltenen, oft verfältelten und gekneteten Bündnerschiefer. Hier sind es meistens linsige Kalklagen, die von dünnen Schieferplatten begleitet sind, brüchige und gespaltene Sedimente aus der Juraformation, wie im ausgezeichneten „Heimatbuch Schams“ von Benedict Mani (Verlag Cuminanza Culturala Val Schons 1993) nachgelesen werden kann.
Die nicht mehr befahrbare, lädierte Strasse im oder am Osthang des Crapteig führt teilweise am Fels, teilweise unter überhängenden Felsen und teilweise durch Tunnels Thusis entgegen. Bei dieser Fahrstrasse handelt es sich um ein zerfallendes Baudenkmal, das eine geschichtliche Bedeutung hat, weil es sich um die erste durchgehend befahrbare Strasse im Bündner Alpengebiet handelte.
Die höllische Route
Hier habe es wohl einen Unfall gegeben, sagte Eva beim oberen Einstieg ins Verlorene Loch, und sie zeigte auf die verbeulte Leitplanke als Bestandteil eines ebenso zerknitterten Zauns aus schweren Metallpfosten, die mit wohl 6 cm dicken Stahlrohren verbunden sind. Ja, da mussten unwahrscheinliche, höllische Kräfte gewirkt haben. Beim Weitergehen waren solche Verbiegungen des Stahls geradezu an der Tagesordnung, und es wurde offensichtlich, dass es sich um die Folgen von wuchtigen Steinschlägen handelte.
Tatsächlich hatte uns am Eingang ins Verlorene Loch eine Warntafel auf die Steinschlaggefahr aufmerksam gemacht; sie war noch zusätzlich vom rot eingerahmten Text „Wandern auf eigene Gefahr!“ begleitet. Man gewöhnt sich an solche Warnhinweise, nimmt sie zur Kenntnis, aber hier hatte das Gefahrenhinweisschild seine wirkliche Berechtigung. Im Verlorenen Loch droht das Unheil wirklich. Auf der Strasse liegen immer wieder ganze Haufen von Schiefertrümmern, die nach dem Zufallsprinzip hierhin geflogen sind, der Schwerkraft folgend. Nach meinem aktuellen Stand des Gefahrentrainingswissens empfiehlt es sich bei solchen Gelegenheiten, den Aufprallstellen der Steine auszuweichen, denn sie deuten ja schliesslich auf lockere Bereiche und Falllinien hin. Bei teilweise überhängenden Felsen bedeutet dies, möglichst nahe an der bergseitigen Felswand unter dem schützenden Dach entlang zu gehen.
Doch dann schaute ich mir dieses Dach näher an: Es bestand aus schräg gestellten, wie mit einer Steinsäge kreuzweise eingekerbten Schieferplatten, aus denen Wasser tropfte. Das mochte ja wenig mit dem schmelzenden Permafrost zu tun haben, doch diese lockeren Damoklesschwert-Ansammlungen über unseren Köpfen, die einfach zu schweben schienen und eigentlich keinerlei Grund hatten, dort oben zu bleiben, wirkten schon sehr bedrohlich.
Je mehr sich das Bergsturzmaterial häufte und je verbogener oder zerknüllter der metallische Sicherheitszaun war, desto schneller wurden Evas Schritte. Ihr Überlebenswille selbst als berggewohnte Bündnerin erwies sich als derart ausgeprägt, dass sie allmählich in einen leichten Laufschritt wechselte – um dieser eher ungemütlichen Situation möglichst bald zu entfliehen. Ich hielt die Details fotografisch fest, hatte dabei aber selber mulmige Gefühle und dachte, dass Schutzhelmverkäufer hier gute Geschäfte machen könnten. Der etwas höher oben vorbeirauschende Verkehr brauchte sich um die Gefahren nicht zu sorgen; stellenweise ist der Hang mit Beton-Eisen-Verankerungen stabilisiert. Aber unten nahm man’s lockerer.
Offenbar war unser Stündchen noch nicht gekommen, wie man so sagt. Wir überlebten und freuten uns, als sich die Ruine Hohenrätien auf dem senkrechten Felsen vor uns aufbaute, was bedeutete, dass Thusis nahe war. Am Strassenrand, wo der bröselnde Fels in einen steilen Abhang wechselte und die Bedrohlichkeit deutlich reduziert war, floss ein kräftiger Strahl eisig kalten Wassers in einen kleinen Brunnentrog, bei dem wir eine kleine, freudige Überlebensfeier abhielten. Es heisst in einem Liedtext über das lustige Zigeunerleben ja, man solle Wasser vom moos’gen Stein trinken, weil dieses besser als Champagner sei, und genau so kam uns auch dieses herrlich frische, lebendige Wasser vor. Wir tranken genüsslich, kühlten nach Sebastian Kneipps Wassertherapie die Arme durch tiefes Eintauchen in den Brunnentrog, vertauschten den Schweiss im Gesicht mit dem Bergwasser, und Eva bereitete das Festmahl aus dem Rucksack zu: Mit Biobutter bestrichene und italienischem Knoblauchsalami belegte Brezeln, ein gesottenes Freiland-Ei und etwas exzellentes Salz (Fleur de Sel) aus einem kleinen Streuer. Das hatte gastronomisches Niveau.
Besser konnten auch die Herren auf der mittelalterlichen turmartigen Burganlage Hohen Rätien (Hohenrätien, Hochrialt), auf dem Felskopf über Thusis, nicht gelebt haben, die in unserem Blickfeld war. An bester Aussichtslage befand sich eine weitläufige Wehranlage mit Turm, Wohngebäuden und Kirche, welche dort oben inzwischen etwas heruntergekommen und nur noch teilweise erhalten ist. Selbst Rätus, der sagenumwobene angebliche Stammvater der Rätier, hätte unsere Zwischenverpflegung gewiss geschätzt.
Thusis
Der Eingang von Thusis (rätoromanisch: Tuseun) ist von vielen Brücken gezeichnet, zumal dort auch noch der Wildbach Nolla in den Hinterrhein mündet. Dieser Hauptort des Bezirks Heinzenberg, Kreuzungspunkt der Splügen- und der Schynstrasse (Sils im Domleschg–Albula zum Engadin bei La Punt) ist ein Denkmal für den Alpenverkehr. Allerdings sind viele bauliche Dokumente, die zum Teil nach dem Dorfbrand von 1845 entstanden sind, zurzeit im Zerfall begriffen, haben ausgedient; sie strahlen aber noch immer Würde und auch einen gewissen Charme aus. Es sind Zeugnisse für die Zeit des langsamen Reisens, zu der wir Wanderer zurückkehren; im Güter- und natürlich auch im allgemeinen Personenverkehr ist sie Vergangenheit.
Im Strassendorf Thusis mit seinen beinahe geschlossenen Häuserzeilen, den weiten Einfahrten für Pferdewagen und Abstellbereichen für Saumlasten, das ein regionales Zentrum im bäuerlichen Umfeld ist, scheint die Moderne erfreulicherweise noch nicht durchgehend eingezogen zu sein. Und eine zerbrochene, 560 kg schwere, etwa 1 m hohe bronzene Glocke (Ton: gis), 1847 von Jakob Keller in Zürich gegossen, die an der Strasse an die Vergänglichkeit selbst des Kirchengeläuts erinnert, passt zum Interieur. Es gibt keine Garantie, die nicht irgendwann abläuft. Schliesslich zerfallen ganze Berge – und daraus ist zu ermessen, wie labil auch menschliche Werke sein müssen.
*
Mit dem Postauto fuhren wir nach Rania zurück. Schwungvoll meisterte der freundliche Chauffeur Kurven und Engnisse. Er ist mit dieser Landschaft und ihren elementaren Kräften verbunden. Er trägt keinen Schutzhelm. Ich verstehe jetzt, weshalb die Bündner harte Schädel („Grinden“) haben müssen. Sonst gäbe es sie längst nicht mehr.
Dank
Alma Holzner in Zizers GR danke ich herzlich für die einfühlsame Mithilfe bei der Informationsbeschaffung für diese Exkursion.
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