Textatelier
BLOG vom: 28.07.2007

Mobilität wie früher: Spazieren, gehen, wandern, flanieren

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Früher wanderten die Leute gezwungenermassen, weil Verkehrsmittel fehlten. Im besten Falle konnten sich Auserwählte in einer Sänfte herumtragen lassen. In der heutigen beschleunigten Zeit erlebt das Wandern eine Renaissance, weil das Reisen im grossen Tempo kaum noch Vergnügen bietet, das Fliegen mit den übertriebenen Sicherheitsmassnahmen schon gar nicht. Das ruhige Gehen mit einer Geschwindigkeit von 4 oder 5 Stundenkilometern mit angemessenen Schritten (kurze, schnelle Schritte deuten auf Nervosität hin), ist genau auf unsere Bedürfnisse und Wahrnehmungsfähigkeiten zugeschnitten. Diese Art, mobil zu sein, ist zeitlos, und heute attraktiver denn je.
 
Allein vom Willen und Vergnügen abhängig
Füsse und Beine bringen den Menschen aus eigener Kraft gemächlich weiter, und der Rest des Körpers ist frei, um die Landschaft mit ihrem wechselnden Licht, den nicht immer erwünschten Geräuschen und Düften zu erleben, auch die Details am Rande des Wegs, etwa ein Schmetterling auf einer Blüte, den zarten Duft eines blühenden Holunderstrauchs. Das Wandern erfordert kaum je höchste Konzentration, abgesehen vom Passieren von Steilhängen, auf Berggräten oder im rutschigen, vereisten oder schneebedeckten Gebiet. Also kann man meistens unbeschwert herumschauen, sich ablenken lassen. Tun Sie das ja nicht am Steuer Ihres Autos! Und der Wanderer kann jederzeit vom Weg abweichen, einer spontanen Eingebung folgend: „Wer zu Fuss reist, hängt von nichts als von seinem Willen und seinem Vergnügen ab; diese Freiheit ist ganz unbeschreiblich angenehm“, erkannte schon Johann Gottfried Ebel (1764–1830), der den ersten Reiseführer für die Schweiz verfasste. Der Eisenbahnfahrer erlebt zwar die Technik, die Landschaft aber nur bruchstückweise. Der Bahnwagen verschwindet bald wieder hinter Dämmen und in Tunneln. Im Flugzeug ist man abgehoben, muss sich auf ein Relief beschränken oder auf Wolkenlandschaften, sieht vielleicht eine Lichteransammlung. Aus dem kleinen Flugzeugfenster aus kann man keinen Hasen ausmachen – höchstens beim Start auf dem Flugplatz. Am nächsten kommt dem Wandern vielleicht noch eine Schifffahrt auf einem See oder einem Fluss; doch hier ist die Beweglichkeit eingeschränkt. Das Velofahren geschieht zu schnell; Krafteinsatz und Vorsichtsmassnahmen (Helm) absorbieren einen Grossteil der Aufmerksamkeit. Wenigstens ist das Anhalten einfach, wenn man sich in Ruhe umsehen will.
 
Ausser des Zeitbedarfs und des Umstands, dass man nur relativ langsam vorwärts kommt, gibt es kein einziges vernünftiges Argument gegen das Wandern. Und sogar die Sache mit dem eingeschränkten Aktionsradius muss relativiert werden: In den letzten Tagen habe ich den Klassiker der Reiseliteratur, Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus“ (dtv-Taschenbuch 12378) verschlungen. Was Seume über seinen im Jahr 1802 unternommenen „Spaziergang“ oder „Gang“ schildert, war immerhin eine Wanderung oder Reise von Leipzig über Prag, Wien, Graz, Triest, Udine, Padua, Loreto, Rom, Neapel (und dann per Schiff) nach Palermo und wieder zu Fuss über Agrigent, Gela nach Syrakus – und dann zurück über Bologna, Mailand, Gotthardpass, Luzern, Zürich, Zug, Schaffhausen, Basel, Belfort, Besançon, Dijon, Paris, Nacy, Strassburg, Kehl, Worms, Frankfurt am Main, Weimar und Leipzig. Die Strassen waren schlecht, das Wetter manchmal miserabel. Wegelagerer und Banditen lauerten überall.
 
Seume (1763–1810), der 2 Mal gezwungenermassen „gegen die Freiheit zu Felde zog“, war auf dem Weg nach Paris von Soldatenwerbern ergriffen und zum Militärdienst gezwungen und dann vom Landgrafen von Hessen-Kassel für den Kampf im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an England verkauft worden. Er hatte im Leben als Soldat genügend Härte gesammelt, um sich auch in brenzligen Situationen zu behaupten. Sein detailliertes Buch, in dem einfach seine Erlebnisse auf der Grundlage seines breiten kulturhistorischen Wissens genau und sachlich-distanziert ausgebreitet sind, liest sich spannend wie ein Krimi, und über die Rückreise über die Schweiz hätte man noch viel mehr Einzelheiten erfahren; denn solche Bücher sind ja auch wichtige Zeitdokumente; die Strecke durch die Schweiz ist im Buch nur rudimentär behandelt.
 
Dieser deutsche Schriftsteller Seume war ein überzeugter und geradezu leidenschaftlicher Fussgänger. In „Mein Sommer 1805“ schrieb er: „Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne, und bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloss deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt.“ Und geradezu prophetisch fährt er fort: „Wer zu viel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen (...) Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ Und der französische Dichter Saint-Pol-Roux (1861–1940) doppelte nach: „Man kann nur zu Fuss reisen, andernfalls wäre der Mensch nichts als bewegtes Gepäck“ („bagage animé“).
 
Literarische Inspirationen
Viele Schriftsteller waren begeisterte Wanderer und haben Wanderberichte verfasst. So etwa schrieb Hermann Hesse in seinem Büchlein „Wanderung“: „Ich neige dazu, aus dem Rucksack zu leben und Fransen an den Hosen zu haben.“ Und auch Jean-Jacques Rousseau hat seinen kleinen Wanderungen ein Büchlein gewidmet: „Träumereien eines einsamen Spaziergängers.“ Er hielt Zwiesprache mit sich selbst, fand sich und flüchtete vor sich, ergötzte sich an den Reizen der Natur und folgte den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen. Er dachte nach, fand zu unkonventionellen Einsichten (im 3. Spaziergang): „Was vermögen diese ewigen Wahrheiten, die, zu allen Zeiten von allen weisen Männern vertreten und von allen Völkern geachtet, unauslöschlich ins Herz des Menschen eingeschrieben sind? Ich wusste, als ich über diese Dinge reflektierte, dass unser auf die sinnliche Wahrnehmung beschränkter Verstand sie nicht in ihrem ganzen Umfang fassen kann. Also beschloss ich, mich vernünftigerweise nur dem zu widmen, was in meiner Reichweite lag, und mich mit dem, was diese überstieg, gar nicht erst abzugeben.“
 
Das Wandern dient also nicht allein der gelegentlichen Überwindung der Sesshaftigkeit, sondern auch dem Erleben, dem Erkennen und der Erkenntnisfindung im philosophischen Sinne; es erschliesst neue Horizonte in jeder Bedeutung dieses Worts. Und ein selbstbewusster Humorist wie Mark Twain wollte (laut seinem Buch „Bummel durch Europa“) auch die Welt durch den Anblick eines Wanderers erfreuen. Sein Werk beginnt so: „Eines Tages fiel mir ein, dass der Welt schon seit Jahren nicht mehr der Anblick eines Mannes geboten worden war, der Verwegenheit genug besass, zu Fuss eine Reise durch Europa zu unternehmen. Gründliches Nachdenken überzeugte mich, dass ich geeignet war, der Welt zu diesem Anblick zu verhelfen. Also entschloss ich mich dazu. Das war im März 1878.“
 
Solche Reisen mit Bodenhaftung fanden und finden in einem humanen Tempo statt und waren und sind entsprechend ergiebig. Wahrscheinlich kann sich nur beim Wandern eine wirkliche Weltanschauung herausbilden, die den Namen verdient. Und weil die hohe Bedeutung der Fortbewegung aus eigenem Antrieb, nicht nur wegen des damit verbundenen Nutzens für die Gesundheit, zunehmend erkannt wird, sind in jüngster Zeit viele Bücher übers Wandern erschienen.
 
Zweck(un)gebundenes Wandern
Der Basler Kulturhistoriker Aurel Schmidt hat eine reichhaltige Dokumentation zum „Gehen“ (= Buchtitel, Verlag Huber, Frauenfeld 2007), vorgelegt, und er setzt das Gehen mit dem Wohl-Ergehen für Körper und Geist gleich. Er zeigt sich überzeugt davon, dass die Promenadologie auf direktem Weg zum Glück des Menschen führt. Auch Naturstudien können einer der vielen denkbaren Reisezwecke sein; es sind das Bildungsreisen oder Bildungswanderungen. Diesem Bedürfnis, sich wandernd weiterzubilden, kommen die munter aus dem Boden schiessenden „Wege“ entgegen, die Naturlehrpfade, Geowege (Geologie), Kulturwege (wie der Eisenweg im aargauischen Fricktal), Industriewege, der Hermann-Hesse-Weg in Montagnola TI, und fast jede regionale Spezialität erhält gerade ihren Weg. Reblehrpfade mit Degustationsmöglichkeiten sind besonders beliebt. Kürzlich wurde von der Regionalorganisation Dreiklang.ch die „Genuss-Strasse Aargauer Jura“, die zu Tempeln der Gastronomie, in Weinkeller und zu Produzenten von regionstypischen Spezialitäten zwischen Aargauer Jura, Aare und Rhein führt, signalisiert.
 
So kann man also das Gehen mit einem Zweck verbinden, aber es gibt auch das zweckfreie Gehen, dem der deutsche Gelehrte und Politiker Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zugetan war: „Man geniesst die Natur auf keine andere Weise so schön, als bei dem langsamen, zwecklosen Gehen. Denn das gehört namentlich zum Begriff selbst des Spazierengehens, dass man keinen ernsthaften Zweck damit verbindet.“ Aber selbst in diesem Fall war ein Zweck im Spiel: der Naturgenuss.
 
Das Flanieren
Kürzlich bin ich auf ein weiteres Wanderbuch gestossen: „Vom Wandern. Neue Wege zu einer alten Kunst“ von Ulrich Grober (Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2007). Es ist eine Art Gebrauchsanleitung aufgrund von Beispielen fürs Wandern in allen Lebenslagen und in verschiedenen Landschaften, auch im urbanen Raum. Der Journalist Grober nennt das Wandern in urbanen Räumen Flanieren: „Das Wort meint etwas anderes als den Einkaufsbummel in Fussgängerzonen oder Shoppingmalls.“ Und laut Walter Benjamin eröffnet sich die Stadt dem Typus des Flaneurs „als Landschaft, sie umschliesst ihn als Stube“.
 
Das Pilgern
Eine besondere Variante des Wanderns ist das Pilgern, und dazu ist mir im Zusammenhang mit einer Bekanntschaft mit dem Publizisten und Verleger André J.-P. Keller, Edition GoldZirkel, in CH-3013 Bern (www.goldzirkel.ch) das gepflegt aufgemachte Buch „Viele Füsse – ein Ziel“ unter die Lesebrille gekommen. Es enthält tagebuchartige Aufzeichnungen von verschiedenen Mitgliedern einer Pilgergruppe, die sich jeweils an Samstagen trafen, um gemeinsam ein Stück des Jakobswegs von Konstanz über die Zentralschweiz nach Genf zurückzulegen – es ging also ums Wagnis des Unterwegsseins mit Gleichgesinnten. Dazu findet sich in dem mit kalligraphischen Bildern von Martina Schmidt angenehm geschmückten Buch ein bezeichnendes Zitat von Anemone Eglin: „Wer pilgert, geht den je eigenen Weg auf einem Weg, den Vorausgehende über Jahrhunderte gesucht und gespurt haben. Wir reihen uns ein in vorgebahnte Spuren und suchen zugleich die eigene. Aufgehoben in der Gruppe, miteinander auf einem gemeinsamen äusseren Weg, wandert jede und jeder auf dem individuellen Inneren.“
 
Solche spirituelle Wanderungen auf Jakobswegen haben oft das Ziel, in Santiago de Compostela eine Vergebung von den Sünden zu erlangen, sind also nicht zweckfrei. Und vielleicht hat das Pilgern auch etwas mit dem Busse-tun zu tun. Im Buch der Pilgergruppe steht dazu: „Pilger unterscheiden sich in manchem von Wanderern. So auch darin, dass sie Hunger und Durst aushalten können und trotzdem gelassen und fröhlich bleiben.“
 
Gleichwohl vertrete ich persönlich die Auffassung, es sei vorteilhaft, immer genügend Wasser oder Tee mitzunehmen; denn die Flüssigkeitszufuhr ist eine Notwendigkeit. Im rororo-Taschenbuch 7089 „Die Kunst zu wandern“ rät Siegfried Sterner, sich das Trinken (im vernünftigen Rahmen) bis zum Ziel aufzusparen: Der Wanderer steigert den Genuss, wenn er damit (mit dem Trinken) wartet bis zum Ziel.
 
Damit wären wir beim kulinarischen Wandern angelangt, das nicht ungefährlich ist, weil bald einmal vor lauter Kulinarik das Wandern auf der Strecke bleiben kann ...
 
Hinweis auf ein weiteres Blog übers Wandern
07.05.2007: Mit Krücken unterwegs: In Freuden mit Stöcken wandern
Hinweis auf weitere Blogs von Hess Walter
Die unendliche Geschichte der Sondermülldeponie Kölliken
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