BLOG vom: 10.08.2007
Hochwasserexkursion im Wasserkanton Aargau bei Regen
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Aus eigener Anschauung, aus eigenem Erleben kann ich berichten, dass wir hier im Wasserkanton Aargau, der gerade ein Hochwasserkanton ist, noch leben. Dieses Tagebuchblatt ist der Beweis dafür. Vor bzw. unter unserem Haus in Biberstein fliesst die Aare vorbei, und sie müsste wahrscheinlich um etwa 50 m ansteigen, wollte sie das Untergeschoss mit ihrem kostbaren Nass füllen. Und das tut sie freundlicherweise nicht.
Um meine Foto-Dokumentation „Aare“ etwas anzureichern, machte ich mich am Donnerstagmorgen, 9. August 2007, auf die trockenen Socken zu den vor Nässe triefenden Motiven; so konnte ich mir auch gleich einen Augenschein vom tatsächlichen Ausmass der Überschwemmungen auf der Strecke Biberstein AG bei Aarau bis Döttingen AG im unteren Aaretal machen. Das war schon sehr eindrücklich, aber von einem katastrophalen Ausmass möchte ich nicht sprechen. Wahrscheinlich bin ich nach meiner mehrtägigen Reise auf dem Jangtse in Zentralchina während der dramatischen Hochwassersituation im August/September 1998 etwas abgebrüht; der Drei-Schluchten-Damm damals schon im Bau – 1,13 Mio. Menschen mussten umgesiedelt werden.
Bei der Brücke Biberstein
Natürlich kommt einem solch ein Aare-Hochwasser vergleichsweise wie im Spielzeugformat vor, auch wenn es die Pegelstände vom August 2005 laut Aargauer Krisenstab angeblich übertroffen hat. Der Grund dafür war eine Panne bei den Schätzungen, die sich auf das Ablass-Management am Bielersee auswirkten; bei Murgenthal AG hätten nie und nimmer 1200 Kubikmeter pro Sekunde vorbeifliessen dürfen, wie das in der Nacht auf den Donnerstag (9.8.2007) mehrere Stunden lang geschehen ist, sondern höchstens 850 m3. Für unsere Schweizer Dimensionen durfte sich das Hochwasser also durchaus sehen lassen.
Schon bei meinem vormittäglichen Exkursionsbeginn bei der einspurig befahrbaren Brücke Biberstein–Rohr AG zeigte sich die Aare, für die hier sonst, am Beginn des Staubereichs des Kraftwerks Rupperswil–Auenstein, eine Ruhephase beginnt, voller urwüchsiger Kraft. Sie hatte ihr Tempo beschleunigt, brachte ganze Weidenbäume mit, die sich in den Brückenpfeilern verfingen und Verklausungen, wie der wasserbauliche Ausdruck lautet, herbeiführten. Und endlich konnte man diese Aare wieder einmal hören. Ein Genuss. Den Regen vergass ich darob.
Die Betonbrücke, von Genietruppen der Schweizer Armee während des 2. Weltkrieges gebaut, hielt bis jetzt allen Angriffen des Flusses mit seinen unterschiedlichen Launen stand. Viele Leute nutzten sie als Aussichtsplattform und betrachteten dieses Schauspiel des abfliessenden Wassers ebenso fasziniert wie ich. Endlich wieder einmal ein frei und kräftig fliessender Fluss! Schade, dass er sich nicht wie früher ungehemmt in Auengebiete ausdehnen konnte, wobei ich aber dankbar anerkennen will, dass der Aargau vieles in Sachen Auen-Wiederherstellung leistet. Man sollte bei solchen Gelegenheiten die Aare noch viel intensiver mitwirken lassen. Die weiter oben liegenden, durchs solothurnische Niederamt verbundenen Städtchen Aarau und Olten, die diesmal in den aarenahen Bereichen über das erträgliche Mass hinaus ausgewaschen wurden, wären sicher bereit gewesen, etwas zusätzliches Wasser schneller abzugeben. Sogar die Schwingfest-Infrastruktur im Aarauer Schachen soll an eine für Wasserballer geeignete Einrichtung umgewandelt worden sein. Und in Olten befürchtete man sogar, dass die wunderschöne Holzbrücke am Rande der Altstadt flussabgespült werden könnte. Das hätte die Freude am Hochwasser getrübt.
Wenn immer das Wasser ungewöhnliche Wege einschlägt, sind die Feuerwehren mit ihren Schläuchen, Pumpen und Absperrmassnahmen nicht weit. Sogar das Bibersteiner Schulhaus, das seinerzeit ins Grundwasser hinein gebaut wurde, wurde präventiv mit Schläuchen garniert, um die Schäden gegebenenfalls klein zu halten. Feuerwehren sind in einem ständigen Lernprozess begriffen und machen ihre Sache wirklich gut. Helm ab!
Getöse beim KW Rupperswil–Auenstein
Mein nächstes Ziel war das bereits erwähnte KW Rupperswil–Auenstein aus den Kriegsjahren 1942/45, welches das Aaregefälle durch ein Schützenwehr auf einer Strecke von 7,3 km nutzt und den Mittelwasserspiegel um rund 6 Meter anhebt (auf Kote 359.60), woraus sich beim Werk ein künstlicher Wasserfall ergibt. Und dieser Absturz, auch wenn er nun wesentlich weniger hoch als üblich war (die Stromproduktion verkleinert sich), ist für jeden Betrachter eine mitreissende Sache. Ich wagte es, die abgesperrte Wehrbrücke zu passieren – ausserordentliche Situationen erfordern eben ausserordentliche Massnahmen. Ich lief dann sogleich einem leitenden Axpo-Mitarbeiter entgegen, der aber Verständnis für mein besonderes Interesse hatte und mich gewähren liess. Er drückte beide Augen zu und machte mich darauf aufmerksam, dass genau in diesen Minuten der Oberschütze des Werks (die gebogene stauende Metallplatte) heruntergefahren würde, denn es erwies sich als zwingend, die sich auf der Krone angestauten Baumstämme, Äste und anderes Schwemmgut in die Tiefe reissen zu lassen. Zwar wurde mit Hilfe einer Kranbahn nebenan möglichst viel Holz aus der Aare herausgeholt, aber hinsichtlich der Baumstämme würde das lebensgefährlich werden. So erlebte ich das Schauspiel des Abstürzens grosser Stämme hinunter in den Unterwasserkanal, wo sich das Wasser zu brodelnden Bergen auftürmte, welche die Baumstämme förmlich verschlangen und weiter unten wieder freigaben. Und am Nordufer floss das Wasser wieder der allgemeinen Fliessrichtung entgegen – ein machtvolles, aufwühlendes Treiben und Strudeln. In dieser brenzligen Situation lernte ich auch noch den Gemeindeammann von Auenstein, Heinz Alber, kennen, der sich hier ebenfalls ein eigenes Bild von der Hochwassersitutuation machen wollte.
Nördlich des KW Rupperswil–Auenstein ist vor einigen Monaten ein Umgehungsgewässer (anstelle der Fischtreppe) angelegt worden. Doch flossen hier nur etwa 4 Kubikmeter/Sekunde durch; das Wasser wird durch einen Schieber geregelt (2 bis 4 m3/sec.). Schliesslich soll die naturnah angelegte Kieslandschaft hier nicht durch das erstbeste Hochwasser fortgespült werden.
Das Engnis in Brugg
Ein weiterer Punkt des persönlichen Interesses war das Aare-Engnis in Brugg, das heisst also die engste Stelle der Aare, die mit einem einzigen Baumstamm überbrückt werden konnte – und woraus das zauberhafte Städtchen Brugg ( = Brücke) entstanden ist. Ich durfte in der Zeitschrift „1A!Aargau“ (Nr.3/2007) über dieses Aargauer Bijou üppig berichten und hatte mich im Hinblick auf diese Arbeit mehrmals dort aufgehalten – mit besonderer Berücksichtigung der Aare. Und so war ich denn gespannt, wie sich die schmale Stelle beim Schwarzen Turm, dem ältesten Bauwerk auf Brugger Boden übrigens, das den traditionellen Aareübergang seit je beschützt, aussehen würde.
Die heranstürmenden Wassermassen lösten die Passage dieser schmalen Stelle elegant: Der Wasserspiegel hatte sich erheblich angehoben und die Fliessgeschwindigkeit war enorm erhöht, vergleichbar mit der gedopten Tour de France. Baumstammstücke tauchten wie Torpedos in die Gischt, und das Wasser sang sein Lied wie immer, wenn es ungehemmt strömen darf. Verschiedene Leute waren herbeigekommen, um dieses Naturschauspiel in vollen Zügen zu geniessen. Eigentlich müssten die Verkehrsplaner vom Wasser lernen und bei Verengungen das Tempo erhöhen; weniger empfehlenswert wäre wohl, mehrstöckig zu fahren.
Das überschwemmte Wasserschloss
Wer der Aare von Brugg aus abwärts folgt, erreicht den Brugger Schachen, der sich als grosse Wasserfläche präsentierte. Einige Einfamilienhäuser standen etwas weltverloren in dem ausgedehnten, neuen See; ihre Keller waren zu Aquarien geworden. Dort ist auch der Waffenplatz Brugg, der sein Fundament in weiser Voraussicht etwas angehoben hatte und relativ trockenen Fusses auf sonnigere Militärtage wartete.
Und noch etwas weiter aaretalabwärts ist das berühmte Wasserschloss, das das Gebiet des Zusammenflusses von Aare, Reuss und Limmat, was hochwassertechnisch darauf hinausläuft, dass sich hier besonders viel Wasser aufs Mal versammelt, und wo sich viel Wasser ein Stelldichein gibt, sind Überschwemmungen die Folge: Das Wasser macht sich breit. Ich stellte meinen frisch und ausgiebig geduschten Prius in der Nähe des neuen Verkehrskreisels bei Lauffohr ab; die einst selbstständige Gemeinde gehört seit 1970 zu Brugg. Der gewölbte Verkehrskreisel-Schmuck symbolisiert offensichtlich das Dreiertreffen der Flüsse.
Von diesem Kreisel aus führt eine Ortsverbindungsstrasse in südöstlicher Richtung zuerst in respektvoller Distanz dem Aareufer entlang und dann zu einer Brücke über die Aare, eben nach Vogelsang (und weiter nach Turgi oder Gebenstorf). Doch diese Strasse, die nach dem Kreisel in die Talebene führt, tauchte nach höchstens 100 m gleich ins Wasser ein, auf dem u. a. ein ganzer Lattenzaun schwamm. Das Wasser dürfte dort mindestens 2 m über der landwirtschaftlich bebauten Fläche gestanden haben. Die Strasse verlor sich in den Wassertiefen, einige Obstbäume wie ein Birnbaum, der heuer sicher Wasserbirnen liefern wird, standen aufrecht und unbeeindruckt in Ufernähe. Der langsam fliessende Fachsee im Wasserschloss bot ein beruhigendes, friedliches Bild. Er half bei der Wasserspeicherung mit, auf dass nicht alles Nass gleich abfloss, genau wie es die weise Natur tut, wenn sie nicht von damm-bauenden Menschen daran vorläufig gehindert wird. Überschwemmungszonen haben einen grossen ökologischen Wert, und meine Hochachtung vor dem auenartigen Wasserschloss stieg deshalb noch mehr an.
Beim Warten vor der Aarebrücke in Stilli, unter der etwa 1400 m3/sec. durchflossen und auf der gerade der Belag erneuert wird, hörte ich von Radio DRS1, die Dämme beim Hagneckkanal seien bruchgefährdet. Ich hab diesen Kanal im April 2007 abgewandert (Blog Hagneckkanal im Grossen Moos: Zurechtweisung der Aare) und würde mich wundern, wenn sie halten würden, zumal sie zwar nicht auf Sand, aber auf Torfmull gebaut sind. Dann hätte man auch dort im Grossen Moos eine grosse Überschwemmungszone, auch wenn diese von der Landwirtschaft gar nicht geschätzt würde. Ich wünsche den Bauern nichts Schlechtes, dem Wasser aber dennoch etwas mehr Auslauf. Man kann nämlich nicht alle Überschwemmungen der vollkommen vertrottelten Klimapolitik, die eine Klimazerstörungspolitik ist, des Weltpräsidenten George W. Bush in die Schuhe schieben. Denn die überreichlichen Bodenversiegelungen und idiotischen Bachkanalisierungen leisten ebenfalls ihren Anteil daran. Aber bitte ruhig bleiben: Behörden überwachen die Situation.
Die Lage in Döttingen
Inzwischen hatte ich von einem Dammbruch in Döttingen (Bezirk Zurzach) gehört, und weil ich ja gerade in der Nähe war, wollte ich mir gern einmal einen gebrochenen Damm zu Gemüte führen. Doch erwies sich die Meldung als unzutreffend. Es handelte sich bloss um einen überfluteten Damm, sozusagen um einen Unterwasserdamm.
Auf der Fahrt nach Döttingen (oberhalb des Stausees Klingnau) wurde ich bei Würenlingen von einem Verkehrsdienst angehalten. Ich bekundete mein publizistisches Interesse an Überschwemmungssituationen und wurde auf eigene Gefahr fahren gelassen; das Gefahrenpotenzial hielt sich allerdings in erträglichen Grenzen.
Die Kantonsstrasse war hier erstmals trocken und fast verkehrsfrei. Ich stellte das Auto beim Bahnhof Döttigen ab, studierte den dort aufgehängten Ortsplan und wanderte der Aare entgegen. Im Dorf, in dem eine Art Notstand ausgerufen worden war, herrschte ein munteres Treiben. Leute standen beim Kreisel im Zentrum mit Blick übers Sperrgebiet zur entfernten Aare. Mein Presseausweis öffnete mir den Durchgang, vorbei an einem Dammbau aus rötlichem sandigem Kies, der gerade als Schutz gegen das von Norden her überschwemmende Wasser angelegt wurde. Dahinter war Ottos Warenposten geschlossen; ich hätte dort Gummiboot-Restposten verkauft. Zu all dem Aare-Limmat-Reuss-Elend floss etwas weiter oben gerade auch noch die Surb aus dem Surbtal dazu. Dennoch war 2005 Döttingen vom Hochwasser verschont geblieben.
Die Bündel eines Holzlagers in Aarenähe machten Schwimmversuche, und auch Wohnhäuser hatten nasse Füsse. Sogar ein Bauprofil für ein grösseres Gebäude stand im Wasser – ich sage voraus, dass das nicht gut herauskommen wird.
Am Döttinger Brückenkopf sah ich mich unverhofft in bester Gesellschaft, denn der festlich gekleidete Aargauer Regierungsrat Ernst Hasler gab dem Fernsehen gerade eines seiner beliebten Interviews, und Journalisten hielten mit eindrücklichen Objektiven die Szene fest.
Einige Zivilschützer bauten am Dammweg einen kleinen Damm aus Sandsäcklein auf; aber offenbar waren entweder Sand oder Säcke gerade ausgegangen. Schon die bisherige Überschwemmung des kleinen Döttinger Industriegebiets war auf einen eklatanten Sandsackmangel zurückgeführt worden. Ich sehe goldene Jahre auf die Sandsackindustrie zukommen.
Unter der 1973 erbauten Aarebrücke Döttigen–Kleindöttigen war nur noch wenig Zwischenraum, vielleicht noch ein halber Meter. 2 heranstürmende Weidenbäume mit ausfransenden Wurzelstöcken und dekorativem Geäst, die so richtig von der Reiselust gepackt waren, schafften es gerade noch, unter der Brücke hindurchzusausen. Wenn die Aare noch weiter steigen sollte, würde die Sache hier noch prekärer als sie ohnehin schon war. Diese Brücke ist eindeutig zu weit unten hingestellt worden.
Rückweg
Dann hatte ich das Gefühl, meinen Hochwasser- bzw. Sintflutbedarf gedeckt zu haben und machte mich auf den Rückweg, am Wasserschloss, an Brugg und Auenstein vorbei. Auf den Strassen herrschte Normalität. Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass sich die Aargauer Behörden, die Polizei und die Feuerwehren sowie weiteren Hilfskräfte sehr angemessen verhalten haben; vom Lob nehme ich die Sandsäcke aber ausdrücklich aus: Nichts von Panik, nichts von Hektik, sondern hier, im Wasserkanton, ist man sich gewöhnt, mit dem Wasser zu leben. Es ist ein wohltätiges Element, das den Aargau verschönert, ja neben den mittelalterlichen Städtchen und der überreichen Burgenansammlung sowie dem Jura recht eigentlich die Lebensader des Kantons der Mitte ist.
Das Wasser macht uns reich. Und in den letzten Stunden waren wir Aargauer überreich.
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
(Reproduktionsfähige Fotos können zu all diesen Beschreibungen beim Textatelier.com bezogen werden.)
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