Textatelier
BLOG vom: 11.09.2007

Zürich-Witikon: Wo einst Kanonenkugeln geflogen kamen

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Sicher kennen Sie das herzzerreissende Wanderlied „Ich hatt’ einen Kameraden“, dessen Text Ludwig Uhland 1809 dichtete: 
Ich hatt' einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
 
Eine Kugel kam geflogen:
Gilt’s mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen.
Er liegt vor meinen Füssen
Als wär's ein Stück von mir.
 
Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad’.
“Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ew’gen Leben
Mein guter Kamerad!“
 
In diesem Tagebuchblatt geht es ausschliesslich um die 2. Strophe, um die heranfliegenden Kugel also. Die lyrische Beschreibung vermittelt den Eindruck, die marschierenden Soldaten hätten die Kugel auf sich zufliegen sehen und dann noch für die Überlegung Zeit gehabt, wen die Kugel denn wohl treffen würde. In diesem Fall müsste es doch auch möglich gewesen sein, dass beide Kameraden hätten ausweichen können ... es hat nicht sollen sein, wenigstens für den einen.
 
Ich gebe diese Überlegungen hier bekannt, weil es mich kürzlich nach Zürich-Witikon verschlagen hat. Eva schickte sich an, am 4. September 2007 dort eine Bekannte zu besuchen und fragte mich, ob ich nicht mit ihr hinfahren und diesen Stadtteil (Kreis 7) von Zürich anschauen wolle; „Du hast ja für alles Interesse“, fügte sie noch aufmunternd bei. Zuerst rebellierte ich verhalten; doch dann erinnerte ich mich daran, einmal gehört zu haben, dass es dort eine Kirche gebe, in deren Fassade noch Kanonenkugeln stecken würden. Und weniger aus Freude an Geschützen und ihren Geschossen als vielmehr an der Geschichte willigte ich ein. Wir fuhren los, den Kugeln entgegen.
 
Nach der Passage von Hirslanden und des Stöckentobels bei der Schleife vermittelte mir Witikon den Eindruck von einem gartenstädtischen Stadtteil mit überraschend vielen Freiräumen. Es fiel ein feiner, intensiv netzender Nieselregen, der mich aber nicht von der Suche der Kanonenkugeln abhalten sollte. Ich hielt in der Nähe der reformierten Kirche, 1957 von Theodor Laubi erbaut, und suchte diesen Bau nach Einschusslöchern ab – ohne Resultat. Und die in der Nähe liegende katholische Kirche Mariä Krönung mit dem pyramidenförmigen Turm vor dem Innenhof, 1965 nach Justus Dahindens Plänen entstanden, die gerade eine neue Umzäunung erhielt, schien mir ebenfalls viel zu jung zu sein, um je von Kanonen beschossen worden zu sein. Doch diese Kirche ist sehenswert, zumal dahinter eine originelle Idee verborgen ist: Der Grundriss ist der menschlichen Hand nachempfunden, und jeder Finger ist zu einem Schiff geworden, wie man die mittleren Längsbauten in der Sprache der Kirchenarchitektur nennt. (Dahinden hat seinerzeit den Aarauerhof beim Bahnhof Aarau entworfen, der trotz aller mit Eleganz gepaarten Eigenwilligkeit nicht als Fremdkörper wirkt.)
 
Die Ortsgeschichte
Ich begab mich alsdann zur Post Witikon, wo eine Orientierungstafel die Geschichte von Zürich-Witikon erzählt und eine Übersicht über die örtlichen Institutionen und Betriebe gibt.
 
Dort erfuhr ich, dass der Name Vuitinchova (Witikon, was anderweitig sinngemäss als „Hof des Vito“ interpretiert wird) erst am 28. April 946 in einer Urkunde über die Zehntenteilung zwischen St. Felix und Regula (Chorherrenstift) und St. Peter erschienen sei; aber dieser Art von Steueraufteilung dürfte wohl kaum Anlass zum Kanonenschiessen gegeben haben. Also las ich weiter, um mich der weniger weit entfernten Zeit anzunähern: „Witikon gehörte damals zu den Höfen des Schwabenherzogs Burkhard II., beziehungsweise dessen Witwe, der Herzogin Hadwig. 1358 kaufte die Stadt Zürich die Obrigkeitsrechte ab. Damit kam Witikon unter die Vormundschaft der Zünfte und musste Steuern zahlen. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts dann traten das Spital zum Heiligen Geist Zürich und das Grossmünster als Grossgrundbesitzer auf, in bescheidenerem Mass auch das Kloster Oetenbach. Sie haben einen sehr wesentlichen Anteil dieses Vermögens durch Schenkungen und Legate erworben und liessen Grund und Boden durch Lehensleute bewirtschaften. Witikon spielte erstmal in der Reformationszeit eine aktive Rolle. Witikon sagte sich als eine der ersten Gemeinden vom Pfarrkreis des Grossmünsters los und besorgte sich einen eigenen Pfarrer.“
 
Und dann kam beim Rasen durch die vergangenen Jahrhunderte endlich das für mich Wesentliche zum Vorschein: „Das 2. historische Ereignis von Bedeutung war die Schlacht um den Witiker Kirchenhügel zwischen den Franzosen unter Napoléons Masséna und den Österreichern unter Erzherzog Karl und Generalleutnant Hotze, einem ehemaligen Richterswiler, am 2. Juni 1799.“ Mit dem Erzherzog war Karl von Österreich (1771–1847) gemeint, Mitglied des Hauses Habsburg-Lothringen (3. Sohn des Grossherzogs von Toskana und späteren Kaisers Leopold II. und jüngerer Bruder von Kaiser Franz II.). Karl kommandierte die österreichischen/habsburgischen Armeen in Süddeutschland, Norditalien und der Schweiz.
 
Der 2. Koalitionskrieg
Dieser geschichtliche Teil bezieht sich offensichtlich auf den 2. Koalitionskrieg (1799 bis 1801) zwischen den französischen Truppen einerseits und dem österreichisch-russischen Heer anderseits, bei dem die Schweiz der Austragungsort war. Die von General André Masséna kommandierte französische Helvetien-Armee hatte laut dem „Historischen Lexikon der Schweiz“ kurz vorher, im März 1799, Graubünden erobert und damit die Verbindung zwischen der Donau- und der Italien-Armee hergestellt. Doch am 25. März desselben Jahres kam es zu einer Niederlage der von General Jean-Baptiste Jourdan kommandierten Truppen gegen Erzherzog Karl von Österreich beim südbadischen Stockach. Und russisch-österreichische (habsburgische) Siege in Oberitalien machten den französischen Erfolg vorübergehend vollends zunichte. Dadurch wurde in der Helvetischen Republik eine Aufstandsbewegung ausgelöst, an der ich mich sehr wohl beteiligt hätte. Das Historische Lexikon schildert den weiteren Verlauf so: „Eine österreichische Armee unter General Friedrich von Hotze, der auch ein Teil des Schweizer Emigrantenregiments Rovéréa zugeteilt war, drang in die Ostschweiz und nach Graubünden vor. Am 22. Mai zog sie in St. Gallen ein und versuchte, Verbindung mit Erzherzog Karl aufzunehmen, der vom 21. bis 23. Mai bei Stein am Rhein und Büsingen den Rhein überschritt. Masséna musste sich nach Zürich zurückziehen. Bei den Rückzugsgefechten zwischen der Thur und der Töss gelangten auch helvetische Miliztruppen zum Einsatz. Nach der 1. Schlacht bei Zürich vom 4. Juni räumte Masséna die Stadt.“
 
Am 4. Juni 1799 wurde Zürich von den österreichischen (habsburgischen) Truppen besetzt, und aus der nachfolgenden Schlacht vom 25./26 September 1799 gingen die Franzosen siegreich hervor. Die reicheren Zürcher Familien wurden geschröpft, und die übrigen litten unter den Ansprüchen der durchziehenden Truppen (Einquartierungen, Beschlagnahmungen), bis dann 1803 der Kanton Zürich gegründet wurde und Napoléon Bonapartes helvetische Verfassung einheitliche Gesetze und Rechte herbeiführte. Er hat es gut gemacht.
 
Das war also eine reichlich komplizierte Geschichte mit einem erfreulichen Finale, zumal ich froh bin, nicht einem Reich unter dem Vorsitz der inzuchtgeschädigten Habsburger – in den Schulbüchern heisst das „geschickte Heiratspolitik“ – leben zu müssen. Auch wenn sie ihren stolzen Namen aus dem Aargau mitgenommen haben. Die Schweizer und die Franzosen haben sie glücklicherweise in Schranken gewiesen.
 
Die alte Kirche auf dem Kirchhügel
Nach diesem Historien-Exkurs wird es höchste Zeit, sich den besagten Kanonenkugeln anzunähern. Auf der Witiker Gemeindeorientierungstafel ist unter dem Text zur Ortsgeschichte die alte Kirche auf dem Chilehügel abgebildet. Und genau dort musste das Kampfgebiet gewesen sein. Ich folgte der ansteigenden Witikoner Strasse weiter, liess einem Eichhörnchen, das die Strasse gemütlich überquerte, den Vortritt und sah die Kapelle bald rechterhand. Ich bog in die Berghaldenstrasse ein und fand an der Loorenstrasse unter dem Hügel einen blau umrandeten Parkplatz.
 
Unversehens war ich in ein ländliches Dorf geraten, und ich hatte Mühe zu glauben, dass das ein Bestandteil der Grossstadt Zürich ist. Schön restaurierte, wuchtige ehemalige Bauernhäuser mit dem besonderen Prunkstück des Gebäudes von 1576 unter einem Krüppelwalmdach mit den geschnitzten Zugbandköpfen an der Möcklistrasse 1 haben sich hier versammelt. Eine Anwohnerin, deren schön restaurierten Riegelbau ich gebührend bewunderte, sagte mir, das sei das ehemalige Witiker Schulhaus gewesen. Das Witiker Ortswappen mit dem umgedrehten silbernen Beschläg, wie man es als Zierde an Türen sieht, war gerechtfertigt.
 
Der alte Dorfkern ist der eines behäbigen, wohlhabenden und kulturbewussten Dorfs. Und so hatte ich Mühe mit der Witiker Orientierungstafel, die verkündet, die dortigen Bauern seien etwa bis ins 3. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts „hochverschuldete, arme Leute“ gewesen. Erst mit der Eingemeindung 1934 hätten sich Bauboom und damit rasch kletternde Bodenpreise eingestellt. Zürich-Witikon zählt heute rund 10 000 Einwohner.
 
Schade ist, dass der Dorfkern mit seiner alt-zürcherischen Bautradition nicht von den ausufernden Neubaugebieten abgesetzt ist; er geht fliessend in diese über. Immerhin wurde wenigstens der Chilehügel (Kirchenhügel) von Neubauten konsequent verschont. Ich stieg über die schöne, griffige Wildpflästerung dort hinauf und genoss zuerst einmal die prächtige Aussicht, auch über das Dorf, zum Oetlisberg, zum Zürichsee und über die Stadt hinweg gegen Westen, wo die Limmat dem Aargau zufliesst.
 
Die kleine Kirche mit dem leicht spiralig gedrehten Spitzturm, der in ein Schindelkleid verpackt ist, gefiel mir auf Anhieb; leider war sie abgeschlossen. Gleich daneben ist ein Friedhof, in dem die Gräber bauerngartenartig mit Buchsbaum-Umrandungen eingefasst sind. Ich machte mich sogleich wieder auf die Suche nach den Einschusslöchern, sah kleine Plastikabdeckungen, die so regelmässig angebracht sind, dass sie eher irgendeine bautechnische Funktion verbergen. Und die Bedeutung von 2 runden Auswölbungen von etwa 5 bis 6 cm Durchmesser, je eine auf der Süd- und Nordseite, konnte ich nicht richtig zuordnen. Ich fragte den Friedhofgärtner, der gerade das ungestüme Buchsbaumwachstum in Schranken wies, wo denn die berühmten Einschusslöcher seien. Das seien keine Einschusslöcher, sondern die Kugeln würden in der Wand stecken – jetzt war mir alles klar: Es handelte sich um die runden Dinger, die sich wunderbar in den weissen Putz einfügen.
 
Nun aber war ich selbst an dieser frommen Stelle nicht bereit, für meine Begriffsstutzigkeit zu Kreuze zu kriechen. Denn mein rudimentäres Wissen über die Ballistik (der Lehre über das Verhalten geworfener oder geschossener Körper), das ich aus meinen Militärjahren mit auf den weiteren Lebensweg genommen habe, bringe ich mit dem besten Willen nicht mit dem Verhalten der beiden Kugeln im Gemäuer dieser bereits 1270 erwähnten und im 1. Jahrhundert baulich veränderten kleinen Saalkirche in Übereinstimmung. Vielleicht können mich Kanoniere aus Artillerieeinheiten, Kanonenschiessvereine und selbst Mitrailleure (Maschinengewehrschützen) in meiner Auffassung unterstützen, dass Kugeln nicht einfach im Gemäuer stecken bleiben. Von einem Oberleutnant einer ehemaligen Haubitzen-Abteilung ist mir das soeben bestätigt worden: Entweder durchschlagen die Kugeln eine Mauer oder aber sie reissen eine ausfransende Wunde auf und fallen, ohne im zersplitternden Mauerwerk Halt zu finden, zu Boden. Denn die Geschwindigkeit des Geschosses, das ja beim Aufprall zum Stillstand gebracht wird, manifestiert sich in Vibrationen, die zu Rissen und Splittern führt – und um die Kugelhaftung ist es geschehen.
 
Als das Eisen noch besonders rar war, wurden viele Kanonenkugeln eingesammelt und rezykliert – aber dass man sie aus den Mauern gezogen habe ich bisher noch nie gehört. Die heutigen, modernen Geschosse sind noch mit Sprengköpfen versehen und wesentlich effektiver (zerstörerischer) als die herkömmlichen Kugeln; je nach Bauart zersplittern sie vor dem Ziel mit einer entsprechenden Breitenwirkung oder im Ziel mit Tiefenwirkung. Die Kriegsmächte sind ja inzwischen noch grausamer geworden.
 
Jedenfalls hat die alte Kirche Witikon mit diesen beiden sorgfältig und unterschiedlich tief in den Verputz eingefügten, offenbar rostfreien Kugeln seine geschichtsträchtige Attraktion, gegen die nichts einzuwenden ist – im Gegenteil: Ohne sie wäre ich nie nach Witikon gekommen. Und dieser gefahrlose Abstecher in jenes friedliche Gebiet an bevorzugter Lage hat sich gelohnt. Trotz der sich anbahnenden Jagdzeit habe ich dort keinen einzigen Scharfschützen angetroffen, dafür aber ein wirklich sehenswertes Dorf in der Stadt.
 
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
(Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.)
 
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