BLOG vom: 03.10.2007
Malcantone (3) im Süden: Eine Seite schöner als die andere
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
„Das Tessiner Volk darf, Exzesse des Temperamentes abgerechnet, gewiss als einer der trefflichsten Stämme im schweizerischen Alpenlande angesehen werden. Wo einer Bevölkerung Ehrlichkeit, Mässigkeit, zufriedene Heiterkeit bei den bescheidenen Lebensbedingungen, Arbeitsamkeit und zwar eine erstaunliche Arbeitsamkeit, mit durchweg reicher Begabung und Sinn fürs Schöne sich verbinden, da sind doch gewiss alle wesentlichen Bedingungen zu glücklichen Verhältnissen gegeben“.
Das schrieb 1898 Dr. I. V. Widmann in seinem Buch „Spaziergänge in den Alpen. Wanderstudien und Plaudereien.“ Wer den Kanton Tessin auch nur flüchtig kennt (und sei es auch rund 110 Jahre später), wird ihm Recht geben. Das Haupttal als wichtige Nord-Süd-Nord-Verbindung hat zwar alle Eigenheiten einer ungestüm boomenden Agglomeration, die traditionelle Werte niederwalzt und sie der erleichterten Zirkulation unterordnet.
Die Magadinoebene wird nicht zerschnitten
Doch eine aktuelle Relativierung ist angezeigt: Die Tessiner Stimmberechtigten haben am 30. September 2007 den Planungskredit von 4,66 Mio. CHF für eine Schnellstrasse durch die Magadinoebene („Variante 95“) in einer Referendumsabstimmung mit einem Nein-Stimmen-Anteil von 54,6 % abgelehnt (Lorcarno stimmte zu). Seit der Ticino-Melioration (1888 bis 1912) ist die Magadinoebene zwar auch nicht mehr, was sie§ einmal war – es sind nur noch einige Sumpfrestbestände übriggebelieben, und der Rest ist Intensivlandwirtschaft. Doch ist immerhin noch nicht alles zugepflastert. Die vorgesehene Strasse (9 km lang und 40 m breit) hätte quer durch die Ebene geführt, um eine direkte Verkehrsanbindung von Locarno an die Autobahn A2 bei Bellinzona zu bewerkstelligen. Diese „Superstrada“ war wirklich kein Planungswunder, sondern eine Geburt ab Reissbrett. Die Gegner forderten eine so genannte „Panoramica“ (Panoramastrasse) dem Nordhang des Monte Ceneri entlang, die länger und teurer wäre.
Abseits des Haupttals
Gleich neben dem Haupttal auf den Ticino-Sedimenten ist die Zeit gemächlicher verlaufen, so unter anderem auch im Malcantone, wo die Nähe zu Lugano überhaupt nicht zu spüren ist.
Die Täler des Malcantone folgen dem Lauf des Flusses Magliasina, der manchmal als harmloses Bächlein und dann wieder als fürchterlicher Wildbach mit zerstörerischer Wucht daher kommt. Sie haben sich in üppig bewachsenen Hügelzonen am Fusse bekannter Ausflugsberge wie der Monte Lema und der Monte Tamaro (beide sind mit Bahnen erschlossen) hineingefressen. Von beiden Talseiten aus sieht man in der Hügellandschaft gegenüber die schmucken Haufendörfer, die oft nur wenige hundert Meter voneinander entfernt sind, und immer hat man das Gefühl, dort drüben sei es noch schöner als auf dieser Seite hier, wo man gerade ist, das alte, auch im mitmenschlichen Bereich festzustellende Phänomen, dass Abstand beschönigt.
Am 2. Tag unseres Malcantone-Aufenthalts (22. September 2007) hatten wir es auf den Südteil dieser einsamen Welt abgesehen, das heisst es ging um den unteren Teil der Talschaft mit den Ortschaften Miglieglia und Novaggio, wo sie allmählich in den Weichbereich des Luganersees bei Agno übergeht. Etwas östlich davon sind Aranno und Cademario, die durch den 931 m hohen Montaggio-Hügel voneinander getrennt sind.
Von Aranno nach Cademario
Aranno (707 m) ist ein am Westhang des Malcantone gelegener kleiner Ort mit etwa 300 Einwohnern, der wegen seines Amphitheaters und einer alten Hammerschmiede (etwas nördlich des Dorfs an der Magliasina gelegen) berühmt ist. Diese Schmitte im Talgrund wurde im August 1951 bei einem Unwetter zerstört und inzwischen als Touristenattraktion wieder aufgebaut. In dieser Landschaft wurden früher Erze gefunden.
Erze! Im 18. und 19. Jahrhundert stellten sich im Malcantone regelrechte Goldgräberstimmungen ein, nachdem ein unbekannter Fischer im Deltastand des Bachs Lisore (der in die Tresa mündet) angeblich einige Goldkörner gefunden hatte. Diese, so folgerte man messerscharf, müssten vom Hügel Sceretto stammen (zwischen dem Weiler La Costa und dem Dörfchen Astano, etwa 2 km von der italienischen Grenze entfernt. Der Conte Francesco del Verme (zu Deutsch: Graf Franz von Wurm) aus Mailand erhielt 1873 das Schürfrecht, auf dass er seinem Namen alle Ehre antun konnte. Nur Gold fand er nicht, worauf er die Mine an Vinasco de Baglieri von Varese (Lombardei) verkaufte, der neue Stollen bauen und die Schmelzerei in Ressiga sotto Sessa ausbauen liess. Er fand merkwürdige Wurzeln, komische Steine und sogar einen zerfallenden Totenschädel, aber nur wenig Gold. 1876 fiel Carlo Diongi Beinfeld auf das verheissene Gold herein. Das nächste Opfer, das wegen der Goldgräberstimmung viel Geld zum Fenster hinaus warf, war 1880 Monsieur Lescannes-Peroloux de Paris. Die vermuteten Goldschätze ruhten weiterhin im Hügel, bis 1924–1939 ein Ingenieur Buffort in La Costa neue Stollen vortrieb und die Goldmühle und -wäscherei in Beredino (östlich anschliessend an La Costa und nördlich von Sessa) baute. Buffort soll die Arbeiter bei den Lohnauszahlungen betrogen haben, und sein Abschied aus Astano soll nicht rein freiwilliger Natur gewesen sein. Bei meinem nächsten Malcantone-Besuch will ich in Sessa, dem Hauptort des Malcantone, nachschauen, was von den Goldgräbern noch übrig geblieben ist. Im „Tessiner Reiseführer 2007“ steht allerdings nichts mehr davon, wohl aber wird auf eine „grosse Weinpresse aus dem 15. Jahrhundert“ hingewiesen.
Doch das nur nebenbei. Wovon ich aus eigener Anschauung erzählen kann, ist Aranno in etwa 5 km Entfernung von Sesso. Selbstverständlich hat auch dieser Ort Kunstschaffende von Format hervorgebracht, so etwa den Architekten Dominico Pelli (1657–1728), der im Auftrag des Königs von Dänemark die Festungen von Oldesloe und Rendsburg entwarf. In der barocken Pfarrkirche San Vittore am Westrand des Dorfs findet sich eine illusionistische Ausmalung von Cipriano und Fernando Pelli (1777). Der Flankenturm mit dem barocken Glockengeschoss stammt aus dem 17. Jahrhundert.
Im oberen Teil des Dorfs, in der Nähe der Postbus-Haltestelle Tiglio, ist ein Parkplatz, und eben dort zogen wir die Wanderschuhe an und nahmen den Weg hinauf zum Montaggio unter die Sohlen. Gelegentlich zauberte die Vormittagssonne zwischen den Bäumen, die mit feinen Nebeltüchern umhüllt waren, romantische Stimmungen hervor. In den Wäldern gibt es Kastanienbäume, aber auch viele Buchen: riesige alte, mehrstämmige Buchen, die wie trichterförmige Sammelbüchsen dem Licht entgegenwachsen. Kastanien und Buchen gehören schliesslich zur gleichen Familie, zu den Buchengewächsen (Fagaceae), die man auch Becherfrüchtler nennt. Zudem finden sich hier auch Birken und Nadelbäume. Der nicht übertrieben gepflegte, d. h. weitgehend naturbelassene Wanderweg lenkt einen zum höchsten Punkt, wo ein Waldspielpunkt eingerichtet ist.
Dem Dumont-Büchlein „Wandern im Tessin“ von Peter Metz und Burkhard Berger hatte ich entnommen, dass „wenige Meter“ neben der Kuppe ein Aussichtspunkt einen herrlichen Blick auf das Valle Luganese biete. Tatsächlich gibt es dort oben einen Wegweiser „Punto panoramico“, doch wollte es uns einfach nicht gelingen, eine Stelle zu finden, wo der Blick ins Tal möglich war. Strauch- und Baumbestände verdeckten alles, und so entschlossen wir uns zum Abstieg gegen Lisone und Cademario. Der Weg, den ich anfänglich beinahe verpasst hätte, wird im steilsten Stück zu einer Treppe mit hohen Tritten. Und so kommt man zügig nach unten.
Auffällig ist in Cademario das riesige Kurhaus inmitten eines Parks an prächtiger Lage, diesmal mit bester Aussicht, und in der Nachbarschaft von vielen Ferienhäusern. Da das Postauto am Samstag nur reduziert fuhr und wir über eine Stunde hätten warten müssen, spazierten wir am Fuss des Montaggio durch schöne kastanienreiche Wälder nach Aranno zurück. Wir lernten dabei einen Feriengast aus Wuppertal kennen, der bei einer älteren, reichen und ausserordentlich netten Dame in der Nähe residierte, wie er uns erzählte, die vor einigen Jahren von einer Ärztin aus München offenbar krankkuriert wurde, weil diese ans grosse Geld herankommen wollte. Die Ärztin missbrauchte das Vertrauen in schändlicher Weise – sogar die „Bild“-Zeitung habe damals darüber berichtet, sagte der Feriengast. In der Schweiz sei es schon schön, fügte der Mann noch bei; so schön habe er es sich nicht vorgestellt.
Der Weg durch dieses herrliche Fleckchen Erde verlief leicht abfallend, fast horizontal, angenehm schattig an der Hügelflanke. Am Boden lagen unzählige, hellgrüne Kastanienigel, und ganz vor Aranno, als die Naturstrasse nach einer Barriere zum Asphaltsträsschen wurde, füllten wir das zu diesem Zweck mitgenommene Stoffsäckchen mit den edlen Früchten, die im Graben neben dem Strässchen lagen, bevor sie von nächsten, gerade vorausgesagte Regen fortgespült wurden.
Miglieglia und Novaggio
Auf der anderen (westlichen) Talseite lockte Miglieglia, ein relativ grosses Dorf (250 Einwohner, etwa 50 mehr als 1970) am Fusse des Monte Lema. Wäre die Atmosphäre weniger mit Dunst und wohl auch etwas Smog aus Oberitalien geschwängert gewesen, hätten wir uns von der Kabinenbahn auf den Lema hinauftragen lassen, doch wollen wir dies einmal bei besseren Sichtverhältnissen tun. So beschränkten wir uns auf einen Rundgang im Dorfe, das sich am Hang festhält und fast jedem Haus eine schöne Aussicht gewährleistet. Die schlichte spätromantische Stefanskirche auf dem Hügel (San Stefano al Colle) mit dem schlanken Glockenturm, soll unter anderem wegen ihrer farbenfrohen Fresken auf dem Kreuzgewölbe des Chors (1511) zu den bedeutendsten Baudenkmälern der Südschweiz gehören.
Doch erging es mir ähnlich wie dem verehrten Mitblogger Emil Baschnonga: Irgendwann ist mein Sakralbau-Konsumationsbedürfnis gedeckt – die 3 Apostel im Kirchlein Miglieglia mögen mir vergeben –, und uns gelüstete, so banausenhaft dies auch klingen mag, mehr nach einem Stück Früchtekuchen nach Grossmutterart und einer Tasse Kaffee. Dieses Bedürfnis konnte im Garten des Ristorante Negresco in der Nähe der Seilbahnstation befriedigt werden; dort sind auch grosse Parkplätze.
Kunstsinn
Damit waren die Kräfte für den abschliessenden Besuch in Novaggio (Kreis Breno des Bezirks Lugano) beisammen, einem von Weinbergen eingefassten Ort, der freie Sicht auf das Monte-Rosa-Massiv mit den gleissenden Felsen hat. Auch dort drückte ich mich um die Muttergottesstatuen herum und freute mich umso mehr an den weltlichen Fassadengemälden, die überall im Dorfzentrum in die Hauswände integriert sind. Eines der Bilder biegt sich sogar rechtwinklig um eine Hausecke. Es zeigt ein fürstliches Haus hinter einem überbordenden Fassadenblumenbouquet und ist mit „Tettamanti“ unterschrieben. Von Elena Eng-Gambazzi stammt das Bild einer Landschaft mit Blumenschmuck von gärtnerischen Dimensionen, Zypressen, einem See und Bergen. An eine Wand des Ristorante Novaggio ist eine Rinderweide aufgemalt, und dann begegnet man dem Abbild einer Bäuerin mit rotem Kopftuch und einem sich nach unten verjüngenden Korb auf dem Rücken. Sie trägt eine Heugabel und einen Holzrechen bei sich, und in der Nähe ist die Frühlingsblütezeit zur ganzjährigen Ansicht festgehalten. Ein reines Bilderbuch, dieses Novaggio.
Novaggio ist fürwahr wieder solch ein kulturbeflissenes Tessiner Dorf. Auch hier bestätigt sich, was im gut 100-jährigen Reiseführer „Lugano“ aus der Reihe „Europäische Wanderbilder, No. 114. 115. 116“ von J. Hardmeyer steht: „Es kann wohl kein Land, Italien nicht ausgenommen, sich rühmen, auf so kleinem Territorium eine solche Menge kunstbegabter Menschen hervorgebracht zu haben. Nicht zu verwundern ist daher, wenn der Gedanke aufgetaucht ist, eine zu errichtende Kunstschule der Eidgenossenschaft nach Lugano zu verlegen, in das liebliche Gelände, dessen Natur den Kunstsinn so auffallend zu begünstigen scheint.“
Dieser Kunstsinn hat gewiss auch das Selbstwertgefühl der einzelnen Menschen und der Tessiner Gemeinden gestärkt. Sie sind für die Globalisierung wenig anfällig. Dementsprechend ist das Projekt, die Gemeinden Astano, Bedigliora, Curio, Miglieglia zur neuen Gemeinde Medio Malcantone zusammenzuschliessen, 2004 nach Abstimmungen mit Nein-Mehrheiten in den Gemeinden fallengelassen worden.
So gibt es für mich ein ganzes Büschel von Gründen, mich im Tessin mit seinem unangepassten Denken und Handeln immer wieder gut aufgehoben zu fühlen.
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Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.
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