BLOG vom: 06.10.2007
CH-Armee: Vom Hospizwerk auf dem Gotthardpass zur Nato
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Wenn der seit 1980 bestehende zweispurige, 16,3 km lange Strassentunnel durch den Gotthard (von Göschenen UR nach Airolo TI), der ein Engpass in der sonst 4-spurigen Autobahn ist, aus irgendwelchen Gründen (Unfälle, Renovationsarbeiten usf.) nicht passiert werden kann, wird der Motorfahrzeugverkehr über den Gotthardpass umgeleitet, wenn das nicht durch Schnee verunmöglicht wird. Denn eine komfortable Autobahn führt seit 1983 (damals wurde das letzte Teilstück, die Umfahrung von Andermatt, dem Verkehr übergeben) über diesen 2108 m hohen Zentralpass der Alpen; der Kanton Uri hatte bereits 1953 mit dem Vollausbau der Schöllenenstrasse begonnen – die neue Gotthardstrasse war also Stück für Stück entstanden. Der Umstand, dass der Strassentunnel rund 2 km länger als der Bahntunnel ist und einige langgestreckte Kurven hat, erklärt sich aus dem Umstand, dass die Strassentunnelachse etwas gegen Westen verlegt wurde, um den Schichten aus losem Geröll auszuweichen – eine Lehre aus dem Bahntunnelbau (1874–1882).
Die problemlose Fahrt über den Pass bei herrlicher Aussicht bietet selbstverständlich ein viel grösseres Vergnügen als die abgasschwangere Tunneltrostlosigkeit, auch wenn 4 Lüftungsschächte vorhanden sind. Es handelt sich um eine Röhreneinöde, die nicht mehr aufhören will. Nur gerade noch einige auf den Asphalt gemalte Distanzangaben sorgen für etwas Abwechslung; sie erinnern wiederholt daran, dass man nicht zu nahe aufschliessen sollte, besonders auch, wenn man einen Lastwagen vor sich hat.
Auf dem Heimweg nach unserer Malcantone-Exkursion wollten wir uns dieses Passvergnügen wieder einmal gönnen. Nach Airolo wählten wir zuerst die uralte, zwischen 1819 und 1830 erbaute alte Gotthardstrasse, die von Airolo bis Andermatt 26,1 km misst und 5,7 bis maximal 7,75 m breit ist. Der Prius hatte alle Mühe, die Vibrationen aus dem unebenen Belag abzufangen, doch löste er diese Aufgabe hervorragend. Die alte Strasse benützten wir bis Motto Bartola, wo die alte und neue Strasse verknotet sind. Bis hierhin dreht man sich auf der unteren Gruppe der 21 meist relativ weit ausholenden Kehren. Die abgeschliffene Granitsteinpflästerung ist noch erhalten, weist allerdings einige geteerte Flickstellen im Randbereich auf.
Diese alte Strasse ist wunderbar ins Gelände eingefügt, vor allem auch weiter oben in der Tremola, zu der man vom neuen Strassentrasse hinüberblicken kann, soweit man nicht im westlichen Tremolagestein in einem knapp 2 km langen Tunnel verschwunden ist. Die berühmte Tremola ist ein handwerkliches Meisterstück, an dem ich mich kaum sattsehen kann: 24 enge, bis zu doppelter Kirchturmhöhe aufgemauerte Kehren, dank deren bis allein in diesem Teilstück 320 m Gefälle bezwungen wurden und die Wind, Unwettern, Schnee und der nagenden Zeit standgehalten haben. Der „König der Pässe“ hat seine Würde noch immer.
Am Rande der Gotthardautobahn, auf die wir in Motto Bartola einschwenkten, gibt es auf der Südseite viele Aussichtspunkte, vor denen ein wunderbares Hochgebirgspanorama ausgebreitet ist. Wir haben dieses Landschaftsbild wieder einmal in uns aufgenommen, ganz im Gegensatz zum Engländer Adam de Usk, der sich mit verbundenen Augen über den Pass schleppen liess, um sich den Anblick der grausigen Felsen zu ersparen. Natürlich war der Weg zu seiner Zeit noch wenig komfortabel.
Unten ist Airolo am oberen Ende des Leventinatals, das an einen Spaghettiteller mit einer Heidelbeersauce in der Mitte (Ticino-Stausee) erinnert: Die Strassen überlagern sich, ein einziges Gewirr von Verkehrssträngen, zu der auch die Gotthardbahn gehört. Man erkennt hier, wie wichtig dieser Gotthardbereich für die Nord-Süd-Nord-Verbindungen ist und welche Bedeutung dem im Bau befindlichen, 57 km langen Basis-Eisenbahntunnel zukommen wird, der um 2016 vollendet sein soll. Natürlich gilt es zu berücksichtigen, dass in der globalisierten Welt blödsinnig viele Güter in der Welt herumgekarrt werden; das gehört zu dieser Fehlkonstruktion.
Der Gotthard hatte auch immer eine grosse strategische Bedeutung; im Prinzip war er eine einzige grosse Festung. Und so sieht man denn auch an vielen Orten in der Gebirgslandschaft aus Gneis, Granit und Glimmerschiefern (südlich des Passes sind es Hornblendeschiefer mit Granat) solche Werke wie das Fort oberhalb von Airolo (Fondo del Bosco) oder die Militäranlagen (Bunker) und die Lastwagen-Parkplätze in Motto Bartola, wenn auch das Allermeiste in den Berg hinein gebaut ist.
Auf der Höhe
Wer über den Gotthardpass fährt, wird zweifellos auf der Passhöhe, einer Seen- und Gebirgslandschaft zugleich, einen Halt einschalten und vielleicht sogar einen Besuch im Museo Nazionale del San Gottardo in der Sust beim Hospiz oder im Hospizwerk unternehmen, das zum Museum ausgebaut worden ist, um dafür überhaupt noch eine Verwendung zu finden. Wir entschieden uns diesmal für das Museum Hospizwerk („Forte Ospizio“), ein steinernes, teils betoniertes Dokument des ausgesprochenen Selbstverteidigungswillens, den es – man höre und staune! – früher in der Schweiz noch gegeben hat. Das Hospizwerk war ein Bestandteil der landesweiten Befestigungsanlagen, die ständig Objekte von Diskussionen und der Veränderung waren – ein umfassendes Landesbefestigungssystem war eigentlich erst 1944 verwirklicht. Die Diskussionen drehten sich vor allem darum, wo die Befestigungslinien gezogen werden sollten. Von einigen Strategen wurde die Gesamtbefestigung des Gotthards als Fehler bezeichnet; sie befürworteten einen weit grösseren Verteidigungsring.
Das „Fort Hospiz“
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fiel der Entscheid, nördlich des Gotthard-Hospizes ein geschlossenes Erdwerk zu bauen, das „Redoute“ genannt wurde, was eine geschlossene Schanze mit ausspringenden Winkeln bedeutete. Später nannte man es „Fort Hospiz“. Das war allerdings etwas übertrieben, weil es sich um keine selbstständige Festungsanlage (Sperrfort) handelte, das sich selbst verteidigen konnte. Deshalb war die bescheidenere Bezeichnung „Hospizwerk“ zutreffender. Die Arbeiten waren 1893 aufgenommen worden; doch war es wegen des technischen Wandels, Planänderungen, Kostenfehleinschätzungen und schlechten Wetters eine eigentliche Zangengeburt; viele Arbeiten wurden durch die Truppen geleistet. Die Kosten betrugen rund 1 Mio. CHF. Bis 1918 wurde die Anlage laufend erweitert.
Dieses Hospizwerk sollte nicht etwa nur den Gotthardübergang abriegeln und verteidigen, sondern im Gegenteil auch die Nord-Süd-Verbindung gewährleisten, Rückhalt für die Südfront gewährleisten und den Pass decken, indem es „selbständig mit seiner Besatzung grösseren feindlichen Kräften auf kürzere Zeit widerstehen könne“, was allerdings nur beschränkt möglich war. Aber zum grossen Glück kam es nie zur Bewährungsprobe. Doch ein präventiver Erfolg war dennoch zu verzeichnen: Der italienische Generalstab plante von 1888 bis 1914 einen Durchmarsch durch die Schweiz („seconda ipotesi“), um mit den Deutschen ins Elsass vorzustossen. Die Gotthard-Festungen bewogen den italienischen Generalstab, die Operationsachsen gegen Osten zu verschieben. Auch der französische Generalstab plante eine Invasion beziehungsweise einen Durchmarsch durch die Schweiz; die Pläne H und H’ (Helvétie) umfassten auch eine britische Unterstützung. Auch in diesem Fall spielte die abschreckende (dissuasive) Wirkung der Festungsanlagen, insgesamt ein respektables Resultat.
Das Werk mit seinem Granitmauerwerk der mit rund 1 m Erde bedeckten Betondecke diente schliesslich noch der Truppenunterkunft, obschon es darin sehr feucht ist, worunter selbst die Museumsfunktion leidet. An einen minimalen Komfort für die Soldaten war beim Bau kaum gedacht worden – Duschen standen erst ab Herbst 1918 zur Verfügung. Und im November 1914 mussten die Truppen wegen einer Kohlenoxidvergiftung, hervorgerufen durch die Dauerbrennöfen, die Anlage fluchtartig verlassen und in der Kirche Airolo logieren, so dass der Aufstieg in den Himmel noch etwas verzögert werden konnte. Auch Entlüftungsvorrichtungen für die giftigen Pulvergase der 12-cm-Panzerhaubitzen gab es erst ab 1906.
Museumsrundgang
Ein Gang durchs Museum erinnert an diese alten Zustände. Man sieht die dürftigen Unterkünfte auf Stroh, die aufs Wesentliche beschränkten Anlagen für die Knochenschlosserei mit Handsägen und für andere Eingriffe zur Versorgung von Verwundeten, sieht die Küche und einen kleinen Essraum für Offiziere, ebenso das Büro des Kommandanten. Das war schon ein spartanisches Leben.
Wesentliche Schauobjekte sind die Schusswaffen wie Maschinengewehre oder aber die 5,3-cm-Fahr-Panzerkanone 1887 mit einer Reichweite von 3000 m (25 bis 40 Schuss pro Minute); das war das erste schweizerische Geschütz mit einer Ladung, die in die Hülsen eingebaut ist. In der Anlage wirkte zwischen 1894 bis 1947 eine verstärkte gemischte Festungsartillerie-Kompanie, bestehend aus 150 bis 250 Mann. Im Museum dokumentieren Videofilme die Arbeiten an Waffen, und zudem werden auch die alten Uniformen und Ausrüstungsgegenstände gezeigt. Ab Tonbändern wird versucht, eine authentische Bunkeratmosphäre zu schaffen.
In einem von einer freundlichen, tüchtigen Dame geführten Kiosk kann man verschiedene Broschüren kaufen, so etwa „Das Hospizwerk auf dem St. Gotthard“ von Hans Rappold (18 CHF), der ich einige Angaben entnommen habe.
Was aus der Verteidigungsarmee geworden ist
Generationen von Schweizern haben, teilweise unter misslichen Umständen, der Armee und damit dem Schutz ihrer Heimat Schweiz gedient. Ich zähle mich dazu: In meinem grauen Dienstbüchlein sind 553 Militärdiensttage verzeichnet – also 1½ Jahre meines Lebens war ich zuerst als Grenadier(-Wachtmeister) und dann als Nachrichten-Unteroffizier im Militär tätig, oft bis an die Grenzen des Zumutbaren, manchmal etwas darüber hinaus. Meine Dienstpflicht und auch den Zivilschutzeinsatz habe ich lückenlos erfüllt – im Dienste einer guten Sache. Nie gab es in der Schweiz irgendwelche Eroberungsgelüste, wie sie gerade die heutigen Mächte wieder in ausgeprägter Form an den Tag legen. Die Schweizer Armee diente ausschliesslich der Erhaltung der Unabhängigkeit, und man hatte keine Mühe, sich damit zu identifizieren.
Vor diesem Hintergrund schmerzt es sehr, wenn diese einzigartige Milizarmee seit gut 10 Jahren zu einer Hilfstruppe der Nato und damit der kriegssüchtigen US-Imperialisten wird. 1996 ist die Schweiz (angeführt vom damaligen Bundesrat und Militärminister Adolf Ogi) euphorisch und kopflos in den Nato-Vorhof eingetreten, indem sie, ohne Volksabstimmung und ohne umfangreiche Volksaufklärung, heimlich, still und leise der Partnership for Peace (PfP) beigetreten ist, weil „Partnerschaft für den Frieden“ so gut tönt, in Tat und Wahrheit aber das Gegenteil verschleiert. Seit 2001 wird die Schweizer Armee unter SVP-Bundesrat Samuel Schmid für Auslandeinsätze bereit gemacht, um je nach Aufgebot der US-Army dienen zu können oder die Dreckarbeit für sie zu erledigen. Das sind haarsträubende Vorgänge, die Adolf Ogi und Samuel Schmid rückblickend einen Schandpfahl statt ein Denkmal garantieren werden, falls die politische Vernunft irgendwann wieder zum Durchbruch kommen sollte. Das Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) scheint in seiner globalisierten US-Begeisterung von allen guten Geistern verlassen zu sein – ausgerechnet an eine aggressive Militärmacht, vor der wir uns in Acht nehmen und schützen müssten, biedern wir uns wie unterwürfige Blödiane an. Neutralität und Unabhängigkeit bleiben auf der Strecke. Bereits dient unser Land der Nato als Übungsterritorium, und wenn sich nicht deutsche Tornados im Lauterbrunnental verflogen hätten und in die Felsen geprallt wären, wüssten wir nicht einmal etwas davon.
Mit allerhand Rabulistik vernebelt Schmid diesen Stilbruch. Solche Politiker sollte man wohl am Besten bei Wasser, Bundesziegeln (trockenes Dauergebäck) und Panzerkäse ein paar Wochen ins Hospizwerk auf dem St. Gotthard einsperren, damit sie bei gelüftetem Gehirn Zeit zum Nachdenken und zum Gescheiterwerden finden könnten.
Und die schweizerischen Medien, die nun im Hinblick auf den 21. Oktober 2007 ein Parlamentswahlkampftheater im Kindergartenstil veranstalten, kümmern sich nicht um solche Vorgänge. Für sie ist das Wesentliche tabu. Happenings sind alles. Das verdummte Volk soll bitte einfach seine gute Laune behalten, vor Freude schreien und auf Kommando applaudieren.
Vielleicht, kommt mir gerade in den Sinn, wäre ich doch gescheiter durch die grosse Gotthardröhre gefahren.
Hinweis auf weitere Ausflugsberichte und Blogs zur Reisethematik von Walter Hess
Reproduktionsfähige Fotos zu all diesen Beschreibungen können beim Textatelier.com bezogen werden.
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