BLOG vom: 29.10.2007
Heiner Keller: Nach Bözberg West die Linthebene entdeckt
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Heiner Keller gehöre in die „Tradition der Einmischung“. Diese Qualifikation wurde an der Vernissage des Buchs „Eschers Erbe in der Linth-Ebene“ als ein Zitat von Daniel Speich von Verleger Bruno Meier weitergegeben. Sie trifft die Sache genau. Man muss den Begriff Einmischung bloss noch von jedem negativen Beiklang befreien, zumal er ja auch für die Beteiligung an Sachen gebraucht wird, die einen nichts angehen. Aber im positiven Sinn ist eine Beteiligung gemeint, ein Teilnehmen an einer Angelegenheit, die man beeinflussen und zum Besseren wenden will. Und genau in diesem Sinne hat sich Heiner Keller in seinen Lebensraum „Bözberg West“ eingemischt. Jetzt ist auch der Linthebene mit ihren abgeleiteten Gewässern und ungebändigten Hoffnungen, wie der Buchuntertitel lautet, dieses Glück widerfahren.
Der Ökologe und Autor hat sich dort, zwischen Walen- und Zürichsee, nicht etwa aufgedrängt, sondern er wurde zur Mitarbeit am Grossprojekt „Hochwasserschutz Linth 2000“ eingeladen. Dieses wurde von den Kantonen Glarus, Schwyz, St. Gallen und Zürich initiiert, und es soll unter der Leitung der Linthkommission und des weitsichtigen Linthingenieurs Markus Jud den Hochwasserschutz gewährleisten und gleichzeitig für ökologische Aufwertungen sorgen – und solch eine Aufwertung käme allen Sorten von Lebewesen zugute. So könnte man zum Beispiel neben dem Escherkanal (die in den Walensee umgeleitete Linth) Überflutungszonen einrichten und den zwischen einigen Knicken geradlinig verlaufenden, künstlichen Linthkanal (zwischen Walensee und Zürichsee) an geeigneten Stellen wie im Hänggelgiessen am Benkner Büchel in Schänis SG aufweiten und dem Wasser mehr Platz (Stauraum) verschaffen. Solche Ideen zur naturnahen Bewältigung und Abwendung von Überschwemmungsfolgen schüttelt Keller gern aus dem Ärmel, denn im Rahmen der Wiederherstellung von Auengebieten im Wasserkanton Aargau hat er umfangreiche praktische Erfahrungen im Umgang mit dem manchmal in übermässiger Menge anfallenden Wasser gesammelt.
Wenn immer Keller solche Projekte bearbeitet, interessiert ihn auch die betreffende Kulturlandschaft mit ihrer Geschichte und den Menschen, die darin leben und die deren Geschicke bestimmen, so also auch die Politik. Alle diese Details zusammen verknüpft er zu einem Gesamtbild, von dem er selber ein Teil wird, ein Mitspieler, ein Einmischer eben. Er deckt Widersprüche und Konflikte auf (Zitat Speich). Und weil Keller gern und talentiert schreibt – nicht nur technische Berichte mit ihrem vorgegebenen Raster –, findet er überall Stoff für ein Buch, auch bei einem kurzen Spitalaufenthalt. Und dann bricht sein Schreibtalent ungestüm aus ihm heraus: „Die Natur gibt den Takt an. Der Mensch strebt nach wirtschaftlichem Wachstum, verbessert seine Leistung, steigert den Verbrauch und Konsum. Die heutige Landschaft ist das, was aus all dem resultiert.“
Er formuliert verständlich, kraftvoll, bildhaft, beschreibt seine Empfindungen und Beobachtungen exakt – das ist dann schon Literatur. Jeder vernünftige Lektor, der sein Selbstdarstellungsvermögen zu bändigen weiss, wird von diesem individuell schillernd eingefärbten Ausbruch kapitulieren. Alles andere wäre, als ob man einem Strom aus flüssiger Lava mit einem Reisigbesen die zur Natur der Glut gehörenden Unebenheiten auszupolieren versuchen würde. Das fliesst einfach.
„Keller erzählt, erklärt nicht“, sagte der St. Galler Regierungsrat Willi Haag, Präsident der Linthkommission. Er formulierte seine Festansprache wie ein vom Werk offensichtlich beeindruckter Literaturkritiker. Das pointierte und hinterfragende Buch vermittle Bekanntes in neuer, frischer Form, sagte er. Somit sei das neue Buch kein banaler Mitläufer in der langen Buchreihe zum Thema „Linth“. Keller, ein „Bewahrer mit vernetztem Denken“, sei der richtige Autor gewesen. Er, Keller, führe weiter, was Hans Konrad Escher von der Linth vor genau 200 Jahren vorgepfadet habe.
Die literarischen Qualitäten dieser Landschaftsbeschreibung kamen bei der Lesung des Kapitels „Die Näfelser Fahrt im Kanton Glarus“ trefflich zum Ausdruck. Der Schauspieler Herbert Leiser aus CH-8758 Obstalden, der in Näfels aufgewachsen ist, vermittelte den Text mit einer vollen, modulationsreichen Stimme. Er brachte die Wucht der Berge, das knorrige Wesen des dort lebenden, abgehärteten und freiheitsliebenden Menschenschlags grossartig zum Ausdruck. Die Glarner sind Leute, die es jenen schon immer zeigten, die sie unterwerfen wollten. Der Text mit all seinen filigranen Sentenzen stand genau so im Raum wie er in den Computer und dann zu Papier gebracht worden war. Ich habe diese Lesung genossen.
Das Buch hat mir viele geologische, historische, volkskundliche Einsichten gebracht. Es ist ein Lesebuch für Menschen, die sich aufrütteln und sich auf geistreiche Art anregen lassen wollen, und mit der Lektüre der Keller-Werke ist immer eine Portion Weiterbildung verbunden. Sie bezieht sich insbesondere auch auf alle die Gewässer-„Korrektionen“, die es überall gab mit dem Paradestück der Juragewässer-Korrektionen. Sümpfe und Moore, heute als wichtige, äusserst artenreiche Lebensräume erkannt, waren in vorangegangenen Jahrhunderten unbeliebt, wurden zur Quelle allen Übels, inklusive der Malaria, hochstilisiert.
Keller steht auch solchen Feindbildern skeptisch gegenüber: „Escher hat meines Wissens nie von Malaria geschrieben. Der Nachweis war zu jener Zeit nur über Krankheitssymptome möglich. Die Plasmodien (Erreger aus vielkernigem Protoplasma) und ihr Wirtewechsel mit Mücken der Gattung Anopheles wurden erst später entdeckt. Trotzdem hat es sich in Schrifttum, Publikationen und Internetseiten eingebürgert zu schreiben, dass bei allen grossen Flusskorrektionen in der Schweiz, an der Kander (1714), an der Linth (ab 1807) und im Grossen Moos (ab 1867) Malaria im Spiel gewesen sei. Schliesslich starben auch beim Bau des Panamakanals Tausende von Arbeitern (1879-1889/1906–1914) an Malaria und Gelbfieber, was tatsächlich stimmt.
Das neueste SJW-Heft (Schweizerisches Jugendschriftenwerk, Severin Perrig, 2007), das in Zusammenarbeit mit der Ausstellung ,200 Jahre Linthkorrektion 1807–2007’ im Freulerpalast in Näfels entstanden ist, lässt keine Zweifel offen: ,Die Versumpfung wurde selbst für Gebiete ausserhalb der Linthebene und des Walensees zum gefährlichen Problem. Hans Konrad Escher berichtete 1796, dass infolge des ,Frühlingswindes’ sein 67-jähriger Vater in Zürich von diesem Fäulnisfieber befallen worden sei und nur schwer davon genas. (...) Aus heutiger Sicht hatte diese Krankheit wohl verschiedene Ursachen: Bakterien oder Viren konnten genauso gut in Frage kommen wie Gelbfieber und die schwere Fieberkrankheit Malaria. (...) Auch die Schwyzer Bevölkerung konnte sich nicht erklären, weshalb sich nach dem Goldauer Bergsturz 1806 die Malaria im Schuttgebiet ausbreitete. Dass es die Krankheit übertragenden Malaria-Mücken waren, die den Sprung vom Linth-Gebiet über Rothenthurm nach Goldau geschafft hatten, war damals nicht bekannt. Für Jugendliche und Lehrer, die diesen Text lesen, ist der Fall klar. Auch Jürg Wyrsch hält in ‚20 Jahre Pro Tuggen’2007 fest: ,Die Linthebene galt früher als Malariagebiet und war berüchtigt (...) In der Linthebene wurde sie mit dem Bau des Linthkanals um 1840 herum ausgerottet.“
Dazu schreibt Keller lakonisch: „Wenn es schon keine Beweise gibt, bestätigt wenigstens das Ausrottungsjahr ihre mutmassliche Anwesenheit.“
So glaubt Keller halt eben nicht alles, was herumgeboten, immer wieder kopiert und neu aufgetischt wird. Dementsprechend bieten seine Bücher auch Lektionen in einem gesunden kritischen Denken. Allein schon diese Form von Weiterbildung ist ein Qualitätsmerkmal seiner Bücher.
Gespräch über Glarner Verhältnisse
Die Vernissage fand am 25. Oktober 2007 im Landgasthof „Sternen“ in CH-8717 Benken/Giessen in einer angenehmen Atmosphäre bei einem Fischmenu zu einem gehaltvollen Wangner Chardonnay vom Eggenbüelhof in Freienbach SZ statt. Die Wirtin, Maria Fäh-Züger, die sich für ihre Gäste interessiert und sich Namen merkt, und das Personal waren von einer beeindruckenden Gastfreundlichkeit (www.landgasthof-sternen.ch ). Man fühlte sich wohl.
Ich hatte meinen Platz neben Ernst Grünenfelder, dem Glarner Kantonsingenieur und seiner liebenswürdigen Frau. Er erläuterte mir die Vorzüge der Glarner Gemeindezusammenschlüsse, eine fast aussichtslose Aufgabe. Die neu entstehenden, fusionierten Gemeinden hätten noch immer eine überblickbare Grösse, sagte er. Der Kanton Glarus hat nur 38 000 Einwohner, aber eine überreiche Gemeindevielfalt: Neben 27 Ortsgemeinden verwalten noch 10 Tagwensgemeinden, 21 Schulgemeinden und 17 Fürsorgegemeinden das öffentliche Leben – sie alle sind rechtlich selbstständige Körperschaften. Laut Verfassung des Kantons Glarus ist der Tagwen „die glarnerische Bürgergemeinde, worin der Gemeindebürger (Tagwensbürger) jederzeit Aufnahme findet“, im heimatlichen Sicherheitshafen also. Tagwen ist also ein anderes Wort für Bürgergemeinde oder Ortsbürgergemeinde.
Konkret findet sich im Kanton Glarus folgendes Gemeindekonglomerat (Stand 2005):
– Tagwen mit eigener Rechnungsführung und eigener, von der Ortsgemeinde getrennter Exekutive und Verwaltung (3): Linthal-Dorf, Linthal-Ennetlinth, Linthal-Matt.
– Tagwen mit eigener Rechnungsführung, vertreten durch den Gemeinderat (3): Niederurnen,
Oberurnen, Mollis.
– Tagwen ohne eigene Rechnungsführung (4): Mühlehorn, Bilten, Näfels, Betschwanden.
– Schulgemeinden (19): Mühlehorn, Obstalden, Filzbach, Niederurnen, Oberurnen, Näfels, Näfels-Berg (Näfels und Oberurnen mit je 2 Schulgemeinden), Mollis, Netstal, Ennenda, Mitlödi, Sool, Schwanden, Rüti, Braunwald, Linthal, Engi, Matt, Elm.
– Horizontal zusammengeschlossene Schulgemeinden (2): Glarus-Riedern, Haslen-Leuggelbach-Nidfurn.
– Fürsorgegemeinden (14): Mühlehorn, Obstalden, Filzbach, Oberurnen, Näfels, Mollis, Netstal, Mitlödi, Sool, Schwanden, Linthal, Engi, Matt, Elm.
– Horizontal zusammengeschlossene Fürsorgegemeinden (3): Glarus-Riedern, Haslen-Leuggelbach-Nidfurn, Rüti-Braunwald.
– Zusammenschluss der Fürsorgegemeinden mit den Ortsgemeinden (2): Niederurnen, Ennenda.
– Einheitsgemeinden ohne Integration der Tagwen (2): Bilten, Betschwanden.
– Einheitsgemeinde mit Integration der Tagwen (2): Schwändi, Luchsingen.
Insgesamt werden im kleinen Kanton Glarus rund 75 verschiedene kommunale Behörden mit weit über 500 Behördenmitgliedern gewählt und etwa 70 verschiedene Gemeinderechnungen geführt. Die Strukturen der Glarner Gemeinden mit ihren Zusammenarbeitsformen werden grundsätzlich als kompliziert, unübersichtlich, ineffizient und zum Teil auch als undemokratisch empfunden, was ich verstehen kann.
So hatte ich also teilweise zu kapitulieren, auch wenn mir eine Reduktion auf 10 Gemeinden (nach Vorschlag von Regierung und Kantonsparlament) statt auf deren 3 (wie von der Landsgemeinde beschlossen) nach wie vor massvoller zu sein scheint. Denn der kommunal-demokratische Überschwang ist in diesem speziellen Fall tatsächlich etwas straffungsbedürftig. Und es ist ja an den Glarnern allein, ihren Weg zu bestimmen.
Wenn in jenem gebirgigen Kanton etwas komprimiert wird, dürfte es noch lange nicht zu einer Einebnung der stotzigen Glarner Alpen zu einer Ebene wie am Linth-Unterlauf kommen. Dafür sorgt die Linth in für uns unvorstellbaren zeitlichen Dimensionen, die ihre Erosionstätigkeit wohl auch dann noch weiterführen wird, wenn mit der Einheitsgemeinde Glarus in der Einheitswelt der Gipfel der Rationalisierung erreicht sein wird.
Hinweis auf Bücher von Heiner Keller
„Eschers Erbe in der Linthebene. Abgeleitete Gewässer – Ungebändigte Hoffnungen.“ Verlag hier + jetzt, CH-5405 Baden 2007. CHF 29.80 (plus Porto).
„Bözberg West. Landleben zwischen Basel und Zürich“, Verlag Textatelier.com GmbH, CH-5023 Biberstein 2005. CHF 29.50 (inkl. Porto).
Bezugsquelle
Diese Bücher können auch direkt beim Autor, Heiner Keller, Doracher 8, CH-5079 Oberzeihen AG, bezogen werden (E-Mail: info@doracher.ch).
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