Textatelier
BLOG vom: 05.11.2007

Johann Künzle: Förderer der Kräuterheilkunde in der Schweiz

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Die Kräuter sind die ersten, einfachsten und wohlfeilsten Heilmittel gegen viele Krankheiten und der menschlichen Natur vom Schöpfer angepasst.“
(Johann Künzle)
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Vor 150 Jahren wurde der Wegbereiter der modernen Kräuterheilkunde und Vorreiter der Ganzheitsmedizin, Pfarrer Johann Künzle (1857–1945), in Hinterespen bei Heiligkreuz in der Gemeinde Tablat (Kanton St. Gallen) geboren. Johann war der Jüngste von 12 Kindern; leider verstarben 7 im kindlichen Alter.
 
Das Leben in dieser Gemeinde nahe der Stadt war damals sehr einfach. In der Regel standen die Leute sehr früh auf, gewöhnlich um 5 Uhr, im Sommer um 4 Uhr und während der Heuernte sogar um 3 Uhr. Langschläfer hatten hier schlechte Karten. Aber das zähe Landvolk gewöhnte sich an diese Zeiten, an die harte Landarbeit und das oft spartanische Essen. Aber lassen wir ihn selbst erzählen: „Fleisch gabs nur sonntags, sonst Milch, Habermus, Gersten- oder Gsödsuppe, Chäs-Chnöpfli, Erdäpfel. An höheren Festtagen gabs manchmal auch Öhrli und dürre Birnen. Zur Beleuchtung brauchte man Unschlittkerzen (Rindertalg), bis im Jahre 1868 auch zu uns eine Petroleumlampe kam, die man jedoch mit grosser Vorsicht und Scheu behandelte. Vom Frühjahr bis in den Spätherbst gingen wir Buben barfuss.“
 
Trotz aller Widrigkeiten konnte er studieren und Pfarrer werden. Schon früh befasste er sich mit den Heilkräutern der Region. Eine grosse Hilfe war der Botanikprofessor Pater Ludwig, der ihm bei vielen Nachmittagsspaziergängen die vorgezeigten Pflanzen genau erklärte. „Das hat mir fürs praktische Leben mehr genützt als Homer und Virgil, denn diese lieben Pflanzen fand ich immer überall wieder; als später Pfarrer Kneipp auf die Heilkraft der Kräuter aufmerksam machte, war es mir ein leichtes, selbe zu finden“, schrieb Künzle in seinem Bestseller „Chrut und Uchrut“ (Kraut und Unkraut). Das Buch erreichte eine Auflage zwischen 1 und 2 Millionen Exemplaren. Ich besitze die Auflage von 1972 (1 120 000–1 170 000 Exemplare).
 
Was er von Tieren lernte
Kräuterpfarrer Künzle lernte vieles von Menschen und Tieren. Schon früh sammelte er Rezepte von einfachen Bauernfamilien, die ihr Wissen über die Heilwirkung von Pflanzen von Generation zu Generation weitergaben. Auch beobachtete er Tiere, wie sie sich bei Krankheiten verhielten. „Was den Tieren gut tut, kann wohl auch den Menschen nicht schaden“, sagte sich Künzle. Er beobachtete beispielsweise, wie Katzen und Hunde, die an inneren Störungen litten, Schliessgras (Knäuelgras, Dactylis glomerata) vertilgten, oder Schafe sich an Schafgarben labten, sobald sie innere Verletzungen hatten, oder wie Dohlen ihre Nester mit Tomatenblättern auslegten, um Flöhe und Läuse fernzuhalten. Kühe, die Gliederschmerzen hatten, legten sich in Hahnenfuss, und verwundete Gämsen wälzten sich in Alpenwegerich.
 
Den Ärzten war Künzle ein Dorn im Auge
Schon früh hatte er mit Anfeindungen seitens der Ärzteschaft zu kämpfen. Wohl deshalb, weil er unglaublichen Erfolg mit seinen Behandlungen hatte und deshalb als Konkurrent wahrgenommen wurde. So wurde zum Beispiel ein Junge mit einem kranken Daumen zu ihm gebracht. Der erste Arzt war mit seinem Latein am Ende, als der Daumen nicht heilte; ein anderer meinte, er müsse abgenommen werden. Künzle empfahl zuerst Heublumenumschläge, dann das Baden in einem Absud aus Meisterwurz. Seine Empfehlungen erwiesen sich als Volltreffer.
 
Künzle bekam auch zahlreiche Anzeigen von neidischen Leuten. Die Patienten gingen jedoch für ihn auf die Barrikaden. „Wir wollen Freiheit, wir wollen uns kurieren lassen, von wem wir wollen, wir lassen uns in unseren Tälern nicht knechten, wir wollen schon sehen, ob das Volk nichts mehr zu sagen hat!“ Es wurde eine Initiative ins Leben gerufen, um dies durchzusetzen. Das Bündner Volk stimmte schliesslich für den Kräuterpfarrer. Er musste jedoch 1922 als 65-jähriger „Student“ vor einer Ärzteprüfungskommission ein Examen ablegen, das er mit Bravour bestand. Zu Beginn der Prüfung brachte er die Ärzte in Verlegenheit, als er sich harmlos erkundigte, ob er die Antworten auf lateinisch oder griechisch beantworten könne. Die Behörden und Ärzte waren baff. Nach dieser Prüfungs-Farce wurde er als Kräuterpfarrer anerkannt und durfte seine Praxis in Zizers (GR) weiterführen.
 
Die einstigen Kritiker mussten später dem Kräuterpfarrer Anerkennung zollen. Seine Praxis war so erfolgreich, dass sogar viele Adelige aus allen Herren Ländern bei ihm Rat suchten. Unter seinen Patienten waren auch der König von Serbien und der Maharadscha von Idore aus Indien. Künzle hatte ein enormes medizinisches Wissen und konnte sich in 8 Sprachen verständlich machen.
 
Es ist ganz vergnüglich zu lesen, wie er seinen Patienten half. So mancher Arzt rieb sich ob der Heilerfolge verwundert die Augen, hatten sie doch viele Patienten schon aufgegeben, und plötzlich gesundeten die „Totgeweihten“ mit einfachen Naturheilmitteln. Ähnliches kann man auch heute noch beobachten. Viele Schulmediziner verordnen die „chemische Keule“ und negieren die Naturheilmittel, die zum Wohle des Patienten eingesetzt werden könnten. Sind doch die meisten Medikamente aus der Natur nebenwirkungsfrei.
 
Von Gräfinnen und Kühen
Johann Künzle führte in seinem Werk „Das grosse Kräuterbuch“ (ich besitze die 10. Auflage von 1945) eine amüsante Episode über eine Gräfin auf, die im Appenzeller Land kurte. „Brombeerblätter wirken ausgezeichnet bei Kühen und Gräfinnen“, schrieb die Adelige in ihr Tagebuch. Wie kam es dazu? Nun, die feine Dame litt unter heftigem Durchfall. Kein Mittel wollte so recht anschlagen, die Zartbesaitete wurde im Gegenteil immer schwächlicher. Auch ihr Arzt wusste keinen Rat. In ihrer Not beauftragte die Gräfin ihre Zofe, sich nach einem Hausrezept umzusehen. Und siehe da, sie erfuhr von einer Bäuerin ein probates Mittel. Die Bäuerin meinte, wenn Brombeerblättertee bei Kühen mit den gleichen Beschwerden helfe, warum nicht auch bei einer Gräfin. Die Adelige trank von nun an fleissig diesen Tee, und es dauerte nicht lange, bis sie von ihren Beschwerden geheilt war.
 
Dankbarer Bauer
In seinem Buch „Chrut und Uchrut“ erzählt Künzle die Geschichte eines kranken Bauern. Der Landwirt wurde immer schwächer und hatte Blut im Stuhlgang. Kein Arzt konnte helfen. Schliesslich besuchte er Anna Katharina Willi, die Tormentilla genannt wurde. Sie gab ihm ein halbes Pfund Tormentillpulver (Gänsefingerkrautpulver), das er dann täglich mit einem Glas Rotwein einnahm. Er gesundete innerhalb von 8 Tagen. Johann Künzle: „Nach 3 Monaten ging er dann zu Fuss 5 Stunden weit hinaus zur Tormentilla und verehrte ihr 20 Flaschen Wein von seinem eigenen Rebberg; er tat dies 10 Jahre hindurch; denn, sagte er, sie hat mir das Leben gerettet.“
 
Hohes Lob für den Wacholder
Künzle lobte den Wacholder (Reckholder) in den höchsten Tönen. Er äusserte schon damals, dass „Reckholderbäder oft noch das einzige Heilmittel“ bei Rheuma ist. Er sah alte, von Gicht gekrümmte Leute, die durch den Gebrauch solcher Bäder wieder „gerade und gesund wurden“. Es waren Leute, die wie ein Stück Holz im Bett lagen und von 3 oder 4 Ärzten erfolglos behandelt wurden.
 
Wermut nicht nur für gallsüchtige Weiber
„Ist einer grün wie ein Laubfrosch, mager wie eine Pappel, nimmt täglich ab an Gewicht und Humor und wirft keinen Schatten mehr, der probiere es mit einem Teelöffel voll Wermuttee alle 2 Stunden“, meinte humorvoll Johann Künzle. Auch Sebastian Kneipp war voll des Lobes über den Wermut. Künzle zitiert einen Heidendoktor, der vor 2000 Jahren schon dies geschrieben haben soll: „Wermut ist eine fürnehme Arznei für böse, gellsüchtige Weiber, die ihren Leib beständig mit überlaufender Galle tränken und dadurch in mancherlei Krankheit bringen.“ Wermut ist ein gutes Mittel bei Magen- und Gallenbeschwerden, aber auch bei Appetitmangel und Verdauungsbeschwerden.
 
Hatte der Knabe eine kranke Leber?
Künzle führte in „Chrut und Uchrut“ einige Beispiele von eindrucksvollen Wirkungen bei Kranken auf. So erzählte er die Geschichte eines 2-jährigen Knaben, der das Essen halbverdaut von sich gab. Der Junge wurde immer schwächer. Ein Arzt meinte, er habe eine kranke Leber, und die Krankheit sei unheilbar. Künzle riet zu einer Wermuttee-Kur. Nach 14 Tagen hatte der Junge wieder Appetit und einen richtigen Stuhlgang. Sein Aussehen besserte sich innerhalb von einigen Wochen.
 
Eine 43-Jährige litt unter Schwächezuständen, fiel oft in Ohnmacht; sie musste erbrechen und konnte keine Medizin vertragen. Sie war bleich und glaubte, sie habe nur noch wenige Tage zu leben. Künzle verordnete ihr Wermuttee, den die Patientin alle 20 Minuten löffelweise zu sich nahm und auch überraschenderweise gut vertrug. Nach 1 Stunde „verordnete“ der Kräuterpfarrer ihr 2 Löffel guten Wein. Auch diesen Wein konnte sie behalten. Danach wurde ihr geraten, den Tee alle halbe Stunde und den Wein alle Stunden zu sich zu nehmen. Bald darauf konnte sie Milch vertragen, bekam wieder Appetit. „Nach 3 Tagen konnte sie eine von den 4 Medizinen des Arztes wieder auswählen und vertragen und war nach 8 Tagen so, dass sie in das Spital zu einer Operation befördert wurde. Seither ist sie gesund“, so Künzle.
 
Heilsame „Unkräuter“
„Sämtliche Unkräuter sind Heilkräuter“, schrieb Johann Künzle treffend. Dann betonte er, dass selbst Hunde und Katzen wissen, was für sie gesund ist. Dazu eine Anekdote. Als eine Frau kränkelte und immer schlechter aussah, riet ihr ein Hufschmied, sie solle doch einmal ihre Katze fragen, die wisse doch Bescheid. Sie beobachtete darauf ihre graue Katze genau und sah, welches Gras sie frass. Daraufhin stellte sie einen Absud von diesem Gras her und trank davon eine zeitlang. Sie genas. Es handelte sich um das Knäuelgras. Das Knäuelgras ist eine gute Futterpflanze und an seinen Ährchen, die sich zu fächerartigen Büscheln zusammenballen, gut zu erkennen. Des Weiteren erwähnte Künzle die Winden, das Vogelkraut, die Ackerminze, die Melde und sogar die Ackerdistel. Alle diese Unkräuter haben eine heilsame Wirkung.
 
Besonders lobend äusserte sich der Kräuterfachmann über den Katzenschwanz (Zinnkraut). Er schreibt, dass viele Jäter schimpfen, wenn sie den Katzenschwanz erblicken. Dazu Künzle: „Aber mancher der Schimpfer ruht längst im ,Kirchelöchli’. Hätte er beizeiten den Katzenschwanz aufgelesen, gedörrt und gebraucht, er würde noch leben und würde vielleicht noch so alt wie die Raben von Baschär, von denen keiner das Testament macht, bevor er neunzigmal den Falknis grünen und wieder verwintern gesehen hat.“
 
Was tun, wenn der Schübling nicht mehr schmeckt?
Ab und zu blitzt in seinen Büchern sein Humor auf, und er versteht es meisterhaft auch auf die Parteioberen einen Seitenhieb auszuteilen. So empfahl er Leuten, die von Unwohlsein, Verstopfung und Appetitlosigkeit geplagt sind und „den besten St.-Galler Schübling verschmähen“, eine 8- bis 14-tägige Frühlingskur aus verschiedenen Heilpflanzen. „Sie laufen allen Ärzten nach und sind deren Kreuz, haben schwankenden Gang wie Parteiführer nach einem Wahlgang, sind lebendige Jammerorgeln mit 365 Registern, oft noch mit Orchesterbegleitung.“
 
„Fleisch, Fleisch will ich, täglich Fleisch“
Johann Künzle gibt auch ganz sinnvolle Ernährungsempfehlungen. Besonders lag ihm der hohe Fleischverzehr auf dem Magen. Überall wird nach Fleisch verlangt, „auch wenn`s der Metzger kaum auftreiben kann! Fleisch für Kinder sogar! Fleisch, bis die Parlamente ratlos dastehen und nicht mehr wissen, woher bekommen!“
 
Er berichtet über Verstopfungen und andere Beschwerden der Leute mit hohem Fleischkonsum. Sie rennen dann zum Arzt und lassen sich Pillen verschreiben. Auch bedauert er, dass das Fastengebot umgangen und auch die Fastenzeit auf wenige Tage beschränkt wurde. Er erwähnt auch, dass im 19. Jahrhundert Pfarrer, Kapläne den Papst bedrängten, doch das Fleischverbot zu mildern, indem sie riefen: „Das Verbot wird nicht mehr eingehalten, kann nicht mehr eingehalten werden, alles will Fleisch, man steinigt uns, um Gottes willen, mildere das Gebot!“
 
Der Aufschrei des Kräuterpfarrers bezüglich des hohen Fleischverzehrs und der Vielesserei erschallte schon 1911! Er könnte auch im Jahre 2007 noch lauter aufschreien, da der Fleischverzehr heute noch höher ist. Die Massentierhaltung ermöglicht es, zu erschwinglichen Preisen an viel Fleisch zu kommen.
 
Künzle empfahl den vermehrten Verzehr von Habermus, Hülsenfrüchten, Getreideprodukten, Gemüse, frisches und gedörrtes Obst und Milchsuppen. Er berichtete von einem Mann in den Vierzigern, der „verstopft war wie eine Weinflasche“. Kein Mittel half. Als er wegen eines Geschäfts ein Vierteljahr unter Bauern des nördlichen Frankreichs leben musste und kein Fleisch, sondern nur Milch, Gemüse, Habermus und Dünnbier erhielt, hatte er seine Verstopfung los.
 
Fazit
Johann Künzle verstand es auf eine humorvolle und volksnahe Art, die Kräuterheilkunde einem breiten Leserkreis populär zu machen. Seine Aussagen zu Heilwirkungen einheimischer Kräuter unterscheiden sich nur wenig von der modernen Kräuterheilkunde. Die Empfehlungen haben auch heute noch einen hohen Stellenwert. Erstaunlich war für mich, dass der Pionier der Schweizer Kräuterheilkunde auch vernünftige Ernährungsempfehlungen in seinen Büchern publizierte. Sie sind für den modernen Menschen jederzeit anwendbar.
 
Hinweise
Übrigens gibt es Produkte nach den Originalrezepten von Johann Künzle in Drogerien und Apotheken in der Schweiz. So sind im Angebot Bio-Tees, Kräutertabletten, Hustensirup, Elixiere, Salben, Kapseln und Ätherische Öle.
 
Ende der 1990er-Jahre wurde übrigens die Traditionsmarke wiederbelebt, nachdem in den 1970er-Jahren die Künzle AG ohne eigentliche Führung war. Der heutige Geschäftsführer ist der Tessiner Stefano Airoldi. Die pflanzlichen Naturheilmittel werden bei verschiedenen Herstellern in der Schweiz produziert (www.kuenzle.org).
 
Es gibt auch einen Pfarrer-Künzle-Verein in Wangs. In Wangs amtete Künzle als Pfarrer von 1909 bis 1920. 1912 erhielt der „urchige, unkomplizierte Pfarrer“ von den Wangser Ortsbürgern das Ehrenbürgerrecht. Der rührige Verein, der am 11.11.2005 gegründet wurde, zählt heute 140 Mitglieder. In Wangs gibt es seit 2006 auch einen Pfarrer-Künzle-Weg (Themenrundwanderweg). Der Weg beginnt in Wangs beim Rathaus. In Planung befindet sich auch ein Museum (www.wangspizol.ch).
 
Literatur
Frei, Beat: „Wangs und sein Kräuterpfarrer", Pfarrer Künzle Verein, Postfach 109, CH-7323 Wangs 2007.
Künzle, Johann: „Chrut und Uchrut“, Minusio 1972.
Künzle, Johann: „Das grosse Kräuterheilbuch“, Verlag Otto Walter AG, Olten 1945.
Scholz, Heinz, Hiepe, Frank: „Arnika und Frauenwohl“ (mit Kapitel über Künzle), Ipa-Verlag, Vaihingen 2002.
 
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