Textatelier
BLOG vom: 11.11.2007

Bremgarten–Hermetschwil: Rare Reusswindungen umrundet

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Nach Jahrhunderten, die von einer krankhaften Begradigungsmanie befallen waren, muss man heute jede Flussschlaufe unter Heimatschutz stellen, ähnlich den Häusern aus jener Zeit, als sich die Architekten noch etwas anderes als ein Flachdach vorstellen konnten und das Handwerk Gelegenheit hatte, individuell geprägte Leistungen hervorzubringen.
 
Ein Blick auf die Landeskarten wie etwa auf das Blatt 1090 („Wohlen“, 1:25 000) zeigt, dass es zwischen Fischbach-Göslikon AG und Hermetschwil AG noch solche Flusswindungen (Mäander) gibt, die nicht beseitigt (begradigt) werden konnten, weil dort einige Hügel (Moränen) wie in den Gebieten Chessel und Buechholdere sowie der Ripplisberg im Wege stehen. Zudem hat sich in der markantesten, fast kreisrunden Reussschlaufe das Städtchen Bremgarten, ursprünglich ein Dorf und eine Burgsiedlung, unverrückbar festgesetzt. Der Fluss war damals noch schiffbar.
 
Um 1200 liessen die Habsburger die Stadt Bremgarten nach einem Siedlungsplan als ein einheitliches grosses Werk mit zusammengebauten Häusern und schönen Plätzen wie dem romantischen Schellenhausplatz beim ehemaligen Zeughaus mit den Wappen der Stadt und des Reichs (Doppeladler) und Gärten sowie Brunnen mit sechskantigen Trögen aus Muschelkalk anlegen. Darauf wurde sie von Mauern und anderen Befestigungsanlagen umgeben. Der Unterjochung unter die machtgierige mächtige Habsburger-Dynastie entgingen die Bremgarter erst, als die Eidgenossen 1415 den Aargau erobert hatten – es entstand eine freie Reichsstadt, die nach wie vor von der Reuss umflossen war. Hier wie auch weiter oben hat der Fluss eine tiefere Stufe aus den Gletscherrückzugsschottern herausgeschnitten.
 
Wo es viel Wasser gibt, wird dieses auch als Arbeitskraft genutzt, zum Beispiel zum Mahlen von Getreide und für das, was sonst noch zerkleinert werden muss (Holzkohle, Pulver – und nicht etwa solches zum Backen –, Holz zur Papierherstellung usw.), zum Sägen von Holz oder zum Pressen von Ölfrüchten. In Bremgarten wurden niedrige Dämme (Wuhre) gegen die Flussmitte in der Fliessrichtung gebaut. Dadurch konnte im Bereich beider Ufer bei konstantem Niveau die Fliessgeschwindigkeit erhöht werden, so dass sich die unterschlächtigen Wasserräder regelmässiger und schneller drehten. Die kanalähnlichen Seitenränder der Reuss sind noch heute vorhanden und geben dem Reusslauf unter der Stadt das Aussehen eines riesigen Brunnens: Das Wasser fliesst von beiden Seiten in langen Wasserfall-Bändern in einen Trog, der unten zum normalen Fluss wird und den Weg, vorbei am Hexenturm (darin wurden vermeintliche Hexen und Hexer gefoltert) zum Wasserschloss nimmt, zum Zusammenfluss von Aare, Reuss und Limmat. Aus dieser Wasserführung entsteht ein faszinierendes Schauspiel vor dem reussseitigen Stadtpanorama mit dem im Jahr 1900 erbauten, historisierenden Amthof-Turm als Blickfang sowie den farbigen Häusern mit Treppengiebel und Satteldächern. Mir kommt das zusammen mit den unterschiedlichen Brücken inkl. der berühmten Holzbrücke, die seit der Eröffnung der Umfahrungsstrasse (1994) für den Motorfahrzeugverkehr gesperrt ist, insgesamt immer wie eine stimmungsvolle Theaterkulisse vor. Da scheint ein expressionistischer Maler mit blühender Fantasie alle möglichen Elemente zusammengetragen zu haben, auf dass es den Zuschauern nicht langweilig werde, auch wenn das Theaterstück noch so einschläfernd ist.
 
Wanderung nach Hermetschwil
Das Gebiet oberhalb von Bremgarten bis Hermetschwil, wo Bäume neben dem aufgestauten Fluss das Bild beherrschen, kannte ich bisher nicht aus eigener Anschauung. Und als am 2. November 2007 vormittags wegen des Bauens in der Nachbarschaft unserem Haus die Elektrizität abgestellt wurde, entschloss ich mich spontan, diese geografische Lücke im persönlichen Erleben zu schliessen statt den Computer mit Buchstaben zu füttern. So fuhren Eva und ich via Lenzburg ins Freiamt, wo Sonne und Nebel um die Vorherrschaft rangen. Den Prius stellten wir auf dem Parkplatz an der seit 1822 bestehenden Promenade rechtsufrig oberhalb der Reuss ab, in der Nähe der Methodistenkirche. Dort konnten wir sogleich in den herbstlichen Laubwald mit seinen Ocker-, Orange- und Brauntönen eintauchen. Weil noch kein Frost und kein Herbststurm vorbeigekommen waren, haftete das Laub noch grösstenteils an den Ästen, und als die Sonne dann wie ein gewaltiger Scheinwerfer das Blätterdach durchdrang, blühte alles zu einem wohltuenden Leuchten auf. Auf einem schönen Wanderweg stiegen wir ins Flusstal ab, ein Durchbruchtal mit steilen Böschungen, die sich auch weiter flussaufwärts fortsetzen.
 
Bei der Emaus-Kapelle
Es mag mit dieser Erleuchtung zusammengehangen haben, dass ich mich an jenem Allerseelentag daran erinnerte, dass hier in der Nähe, im Unterdorf von Zufikon (der Nachbargemeinde von Bremgarten im Südosten), die Emaus-Kapelle stehen müsste, eine ehemalige Einsiedelei am Westrand der Zufiker Allmend. Also stiegen wir, von einem Wegweiser angeleitet, eine in der Böschung angelegte Treppe hinauf und fanden die Anlage problemlos oben auf der fluvo-glazialen Aufschüttungsebene, direkt oberhalb des Kraftwerks Bremgarten-Zufikon. Dort oben sind Zufikon, Landwirtschaftsflächen und Strassen. Diese religiöse Stätte, zu der auch ein Klausnerhaus (Wohnhaus des Einsiedelers) gehört und die seit 1450 bezeugt ist, stammt in ihrer heutigen Form aus der Zeit um 1660 bis 1670. Im Inneren erzählen 3 volkstümlich-barocke Bildzyklen aus dem Leben der heilig gesprochenen Antonius des Eremiten, sodann des Antonius von Padua und des Niklaus von der Flüe. Diese netten Ölmalereien auf Tannenholz stammen aus den Jahren 1676/77.
 
Der Name Emaus hat seinen Ursprung in der Zeit vor der Computererfindung, hat also nichts mit einer E-Maus (einer elektronischen Maus zu tun), sondern er dürfte sich auf das Dorf Emmaus, etwa 2 Wegstunden von Jerusalem entfernt bzw. auf die Emmausjünger beziehen, worüber in Lukas 24, 13–35 gar Wunderbares nachzulesen ist, gewissermassen der Beweis für die Jesu-Auferstehung für Glaubensselige. Doch mit der Auferstehung wird im Prinzip die Allerseelen-Tradition ausgehebelt, ein Schlag gegen den Festtagskalender. Doch ist der Bibel mit Logik ohnehin nicht beizukommen.
 
Das Kraftwerk Bremgarten-Zufikon
Ausschliesslich der profanen Welt zugehörig ist demgegenüber das Kraftwerk Bremgarten-Zufikon, der Ersatz für das Emaus-Kraftwerk, zu dem wir aus dem Himmel wieder abstiegen. Dieses erste Reusskraftwerk in diesem Gebiet war auch eines der ersten seiner Sorte zu Beginn des Zeitalters der Elektrifizierung: Es wurde 1893/94 erbaut und mit 4 Drehstrom-Generatoren aus der Maschinenfabrik Escher-Wyss in Zürich ausgerüstet (Jahresproduktion: 12 Mio. kWh). Ein Stollen, der heute zugemauert ist, führte das Wasser vom Stauwehr vor der Zopfhau-Kurve, eine Spitzkehre im Gebiet Iselauf wenig oberhalb des heutigen Kraftwerks, zum ehemaligen Emaus-KW; das war eine Abkürzung in einer Flussschleife. Die Emaus-Anlage, die nicht besonders religiös war, wurde im Zuge des Neubaus des leistungsfähigeren Kraftwerks Bremgarten-Zufikon (1971/74) abgerissen, und so entstanden dann eben der etwa 7 km lange Stausee, der zum Teil zum Flachsee Unterlunkhofen wird und hinauf bis zur Werderbrücke auf der Höhe der Gemeinden Jonen und Aristau reicht. Das Werk wurde unter der Oberherrschaft der 3 Baudirektoren Dr. Kurt Kim, Dr. Bruno Hunziker und Dr. Jörg Ursprung gefördert und verwirklicht.
 
Die Staumauer, die mit ihren Einbuchtungen wie eine grosse waffelartige Betonorgie quer zum Flusslauf steht, ist ein Triumph der Unnachgiebigkeit. Sie wurde als Bestandteil des Flusskraftwerks Bremgarten-Zufikon 1975 nach erbitterten Kämpfen der Stromliebhaber gegen die Naturschützer im Rahmen der so genannten Reusstalsanierung erstellt – es war schon eher eine Verunstaltung. Das Flusskraftwerk Bremgarten-Zufikon, das in der Linkskurve auf der linken (statt rechten) Seite ist, nutzt 2 × 100 Kubikmeter Wasser pro Sekunde bei einem mittleren Gefälle von 11,2 m und produziert seither jährlich 106 Mio. kWh, was für etwa 20 000 Haushalte ausreicht. Und ich gebe hier unumwunden zu, dass auch ich Strom verbrauche; wenn die Elektrizitätszufuhr unterbrochen wird, ergreife ich die Flucht (zum KW bei Bremgarten) ...
 
Der Einstau wurde mit der Notwendigkeit der Energieerzeugung und der Grundwassersicherung begründet. Auch das Argument des Hochwasserschutzes wurde herangezogen. Entlang der Reuss wurden Dammverstärkungen und Dammneubauten erstellt. Die Seitenbäche wurden tiefer gelegt und kanalisiert, gewiss nicht eben zur Begeisterung der Naturfreunde, und 6 Pumpwerke müssen seither das Wasser aus der tieferen Reussebene in den aufgestauten Fluss hinaufpumpen; der dafür nötige Strom wird gleich im nahem KW erzeugt, eine Vorstufe des Perpetuum mobile. Und um die Kunstnatur komplett zu machen, wurden gleich auch noch die Agrarstrukturen technokratisch verändert: Güterzusammenlegungen (Wald und Flur), Baulandumlegungen, Bau eines Güterwegnetzes, Hofsanierungen und Siedlungsneubauten, Rodungen und Ersatzaufforstungen. Und es wurde „melioriert“; unter diesem beschönigenden Ausdruck (Euphemismus) versteht man die Zerstörung von Sumpfgebieten durch den Bau von Entwässerungskanälen, Terrainauffüllungen bzw. Einebnungen und Bodenlockerungen. Immerhin wurden 290 ha Land ins neue Naturschutzgebiet integriert, um auch die defensiv kämpfenden Naturschützer ruhig zu stellen. Und im gleichen Zuge entstanden Wanderwege, Rast- und Parkplätze – also eine touristische Infrastruktur.
 
Reussaufwärts
Auch oberhalb des Kraftwerks ist eine solche üppige Infrastruktur für Erholungssuchende anzutreffen: Ausgebaute Wanderwege, ein Platz für grillierbegeisterte Familien an der Aare (Gemeindegebiet Zufikon), Wanderwegweiser (auch der „Freiämterweg“ ist hier integriert), ein Waldbewirtschaftungs-Lehrpfad, der für die Waldnutzung, das Holz und dessen Verwertung sowie betont auch für Förster und Jäger mit deren beliebten Hochsitzen zum Beobachten und hinterhältigen Abknallen von unschuldigen Wildtieren Reklame macht. Im Weitern ist entlang des Wegs das ganze Vitaparcours-Sortiment ausgebreitet.
 
Mit sanftem Zwang beorderte mich Eva auf einen Freiluft-Barren und beauftragte mich, meine 90 kg (plus Kleider) in kräftige Vor- und Rückwärtsschwünge zu versetzen nach dem Vorbild eines leistungssportlichen Typs mit körperengem Traineranzug, der den Parcours unmittelbar vor uns absolvierte. So war also ich dran. Die Barren hielten diesen Material-Härtetest erstaunlicherweise aus, worauf ich unter den Barrenstangen mit gestrecktem bis nach innen gebogenem Rücken zu hangeln hatte. Verbissen zog ich eine Show ab, stellte Evas Leistung wenigstens hinsichtlich der Armmuskulatur in den Schatten dieses schönen Herbsttags und durfte mich nach dieser Bewährungsprobe dann geschichtlichen Genüssen zuwenden. Auf der gegenüberliegenden Aareseite grüsste zwischen dem Herbstlaub das Benediktinerinnen-Kloster Hermetschwil in unschuldigem Weiss, und die Glocken verkündeten Mittag. Eva streckte mir Wasser in einer Plastikflasche entgegen. Ich trank auftragsgemäss.
 
Beim Kelten-Oppidum
In der Nähe des Barrens, dieses mir nun vertrauten Marterinstruments, und des Dominilochstegs, der die Reussüberquerung beim Kloster Hermetschwil seit 1989 ermöglicht, ist eine intensiv beschriftete Hinweistafel, die auf das Kelten-Oppidum hinweist, von dem mir wenige Tage vorher bereits Josef Fischer, Leiter der Stiftung Reusstal, erzählt hatte. Ein Oppidum (lateinisch: Befestigung, Schanzanlage, fester Platz) ist eine befestigte Siedlung aus der La-Tène-Zeit (späte Eiszeit). Der Begriff gehe, so liest man dort, auf Gaius Julius Cäsars Schrift „De Bello Gallico“ zurück, in welcher die gallischen Schanzanlagen beschrieben sind. Das aus der Sicht der Schweizer Geschichte wohl berühmteste Kelten-Oppidum ist Bibracte im Burgund (Département Saône-et-Loire), das vom gallischen Stamm der Haeduer eingerichtet worden ist. Bibracte ist der Ort, wo Caesar und verbündete Gallier (Tulinger, Latobriger, Rauriker, Boier und Verbigener) um 58 vor unserer Zeitrechnung gegen die Helvetier gekämpft haben sollen, die laut Caesars PR-Text niedergemetzelt worden sein sollen. In der Schweiz neigen wir eher der Auffassung zu, dass die Helvetier schlau genug waren, um mit Caesar einen Friedensvertrag auszuhandeln, so dass also die Ehre unseres Landes damit wieder hergestellt wäre – beziehungsweise jenes Volksstamms, der unserem Land den Namen Confoederatio Helvetica (kurz: Helvetia) gegeben hat.
 
Die Helvetier waren ein keltischer Volksstamm, der in Frankreich ständig von Germanen überfallen wurde. Sie begannen ab etwa 150 v. u. Z. damit, auf Hügeln mehrschalige Mauern aus Balken, Lehm und Steinen zu bauen, die selbst den Römern Respekt abgenötigt haben sollen. Solche Oppida gab es auch in Sarmenstorf AG, im Fricktal und auf dem Üetliberg (bei Zürich). Und eben hier in der Nähe, wo wir uns gerade befanden, am südlichen Ende des Burgrains also, der 420 m hoch ist und parallel zur Reuss verläuft.
 
Vermutlich war hier tatsächlich ein Kelten-Oppidum, weil noch heute eine Erdburg zu erkennen ist. Doch Genaueres weiss man selbst nach einer Untersuchung von Dr. Eugen Bürgisser in den 1940er-Jahren nicht. Man ist also auf Vermutungen angewiesen, wie so oft. Solche Annahmen gehen davon aus, dass das Oppidum aus vorrömischer Zeit im Mittelalter erneut genutzt worden sein könnte. Dazu heisst es auf der Schrifttafel: „Darauf deuten die schützende Höhenlage über der Reuss und die Versumpfung der Ebene gegen Nordosten hin. Auch der Graben und die Wälle sowie das reichlich vorhandene Trinkwasser nahe der Anlage sind Indizien“ – ich kann das nur bestätigen. Und weiter: „ Zudem weisen die Namensgebung (gemeint ist Burgrain) und die mündliche Überlieferung auf eine Schutzfunktion des Plateaus über der damals wilden Reuss hin. Bemerkenswert ist die Nähe der im Flussmäander gelegenen Stadtanlage Bremgarten, eine keltische Gründung (Vermagodunon).“
 
So tappt man also unverhofft in die keltische Geschichte hinein. Diese Kultur hatte sich seit etwa 750 v. u. Z. in der Region zwischen Ostfrankreich und der Schweiz über Süddeutschland sowie Österreich bis Slowenien aus den ansässigen spätbronzezeitlichen Kulturen und durch Zuwanderung aus dem Osten entwickelt; auch wurden Kontakte zur südeuropäischen Antike nachgewiesen.
 
Reussabwärts
Unter dem Dach des Dominilochstägs begaben wir uns auf die Westseite der Reuss. Und dort drüben wollte ich nochmals das rote Wasser des Rotbachs sehen. Doch nachdem es einige Tage nicht mehr geregnet hatte, lief hier nichts. Der Bach machte Pause. Dafür war die Reuss unterhalb des Klosters Hermetschwil deutlich rostrot gefärbt, weil sich das Herbstlaub der bewaldeten Uferböschungen im Wasser spiegelten. In diesem angenehmen Klima warmer Farben spazierten wir wieder reussabwärts, der Rüsshalde entlang. Noch bevor wir zur Aussen-Umrundung der Zopfhau-Kurve ansetzen konnten, tauchten die ersten Überbauungen, oft weit oben am Hang, auf. Im Gebiet Iselauf, im Inneren der nachfolgenden Linkskurve, war eine ganze Flachdach-Einfamilienhaussiedlung im Bau. Die Menschen wohnen gern in Flussnähe. Und dann waren wir wieder beim KW Bremgarten-Zufikon und konnten auf die andere Reussseite zurückkehren, dem Städtchen Bremgarten entgegen.
 
Im „Bijou“
Offenbar hatte sich Eva auf dem Vitaparcours der „Zürich“ etwas zu sehr ausgegeben, jedenfalls klagte sie über markante Hungergefühle, und obschon ich lieber mit dem Gehirn als mit dem Bauch denke, hatte ich ein ähnliches Bauchgefühl. Wir suchten also ein Restaurant, das hinsichtlich Lage und Angebot unseren gehobenen Ansprüchen genügten. Wir durchwanderten die ruhige Altstadt gegen 13 Uhr, erreichten die Holzbrücke, die während Jahrhunderten der einzige befahrbare Flussübergang des Freiamts war, schauten uns dort um, bis uns das Café-Restaurant „Bijou“ unter dem östlichen Ende der Altstadt-Vorzeigefront an der Reuss auffiel, unmittelbar hinter der aus Natursteinen mit imposanten Bögen geformten Eisenbahnbrücke. Sogar auf einer sonnigen Aussichtsterrasse konnte man dort Platz nehmen und Bremgarten und seine Reuss mit den Brücken nochmals aus einer anderen Perspektive geniessen. Dass ein eifriger Angestellter mit einem Hochdruckreiniger im unteren Teil der gastlichen Anlage lärmend herumfunktionierte, waren wir in diesem Maschinenzeitalter hinzunehmen bereit. Das Restaurant selber ist in einem Fachwerkbau untergebracht, dem Alten Schützenhaus.
 
Eva bestellte einen variationsreichen Wildteller mit Blaukraut, gebratenen Spätzli, auf dem das Fleisch durch Eierschwämme ersetzt war; für die Resultate des Schiessens hat sie auch bei einem Schützenhaus nichts übrig. Ich entschloss mich zu Kalbslebern mit Rösti und Gemüse, und wir beide waren zufrieden; ein Glas Fleurie, wie es die Promille-Werbung verlangt, trug ebenfalls zur Kräftigung bei. Ich hatte guten Grund zur Annahme, dass die Kelten im Fleurie-Herkunftsgebiet vor der Ankunft der Römer Wein angebaut hatten, ist das Beaujolais doch ein Teil des Burgunds, und ich hatte also ein gutes Gewissen, blieb im Rahmen der Ausflugsthematik. Gelegentlich fuhr die Schmalspurbahn, die Bremgarten mit Wohlen AG und Dietikon ZH verbindet und die Strassen entlastet, über die Brücke, direkt über unseren Augen. Aufschrift für allfällig anwesende Amerikaner: „BEST OF SWISS PANORAMICS TRAIN.“
 
Zwingli-Spuren
Nach der Stärkung erhielten wir nochmals eine Geschichtslektion verabreicht, denn zwischen Eisenbahnbrücke und dem „Bijou“ steht der Katzenturm (auch Meissturm genannt), der südöstliche Eckturm der Reussletzi. Es gibt nur einen schmalen, bis auf etwa 1,5 m Höhe zugemauerten Schlitz dazwischen. Der Turm gehörte zur mittelalterlichen Befestigungsanlage, diente als Flankenschutz. Der 1415 erstmals erwähnte Turm verlor in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts bei einer Feuersbrunst seinen Spitzhelm und wurde nur notdürftig gedeckt; 2002 wurde er erhöht und mit einem Dach in der überlieferten Form eines Spitzhelms versehen.
 
Der Mauerdurchlass wird Katzentörlein genannt, wahrscheinlich abgeleitet von der alten Bedeutung des Tätigkeitsworts „katzen“ = kleine Diebereien begehen. Durch dieses kleine Tor (Durchgang) soll der Reformator Huldrych Zwingli am 12. August 1531 aus der Stadt Bremgarten geflohen sein.
 
Im Programmheft zum Theaterstück „Heinrich Bullinger“ von Philipp Koenig (2004) findet sich die Erklärung aus der Feder von Fridolin Kurmann dafür, weshalb sich Zwingli in Bremgarten aufhielt (Auszug): „Bremgarten ist im frühen 16. Jahrhundert eine Stadt mit einem, zumindest was seine führenden Persönlichkeiten anbelangt, gebildeten Bürgertum und pflegt zudem enge Beziehungen zur Stadt Zürich. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in den 1520er-Jahren auch hier die Ideen Luthers und vor allem Zwinglis mit zunehmendem Interesse aufgenommen werden. Keine unwesentliche Rolle spielt dabei der Stadtpfarrer und Dekan Heinrich Bullinger, der Vater des berühmten Reformators (...).“
 
Bullinger hielt hier 1529, schon vor dem Amtsantritt (1531), eine zündende Predigt, welche die Bremgarter veranlasste, Bilder und Altäre auf dem Friedhof zu verbrennen. Als Bern und Zürich mit einer Lebensmittelsperre die 5 Orte der Innerschweiz auszuhungern versuchten, drängten sie Bremgarten, sich der Sperre anzuschliessen (Zitat Kurmann): „Nach einigem Zögern macht die Stadt mit und verletzt damit eine in den eidgenössischen Bündnissen eingegangene Verpflichtung. Sie sollte sich nämlich im Streit zwischen den Eidgenossen neutral verhalten. Der Erste Kappeler Krieg geht mit der Kappeler Milchsuppe noch einmal glimpflich aus. Doch bald steigt die Kriegsgefahr erneut. Da tritt im Sommer 1531 in Bremgarten mehrmals die eidgenössische Tagsatzung zusammen. Sie soll den drohenden Bürgerkrieg unter den Eidgenossen noch abwenden. Gesandte des französischen Königs, des Herzogs von Mailand, der Gräfin von Neuenburg und weiterer Herrschaften kreuzen in der Stadt auf um zu vermitteln. Am 10. August 1531 geht die Tagsatzung jedoch ergebnislos auseinander. An diesem Tag ist auch Huldrych Zwingli heimlich nach Bremgarten gekommen und hat sich in Heinrich Bullingers Pfarrhaus mit Berner Gesandten getroffen.“
 
Bremgarten hat also eine bemerkenswerte Geschichte, und so begaben wir uns vom Katzenturm zum Rathaus aus dem frühen 19. Jahrhundert an Nordwestrand der Oberstadt, um uns einige Dokumente zu besorgen, doch war an diesem Allerseelen-Nachmittag hier keine Seele anzutreffen. Geschlossen. Ebenso eine Buchhandlung. In einer Papeterie gab es nur das farbige, textarme Farbbuch „Bremgarten an der Reuss“, herausgegeben von der Buch Shopping AG – es gebe nichts anderes über Bremgarten, sagte die Verkäuferin, die offenbar lieber keine Kundschaft in ihrem Laden gehabt hätte, in abweisendem Ton. Dabei sind selbst im Stadtprospekt, den mir die freundliche aus Jugoslawien stammende Serviererin im Bijou aufgetrieben hat, 3 kulturhistorische Werke aufgeführt, und zudem gibt es auch den Band IV („Der Bezirk Bremgarten“) in der Reihe „Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau“ von Peter Felder, ein stolzer Bestandteil meiner Bibliothek.
 
Mit Bremgarten und dem umgebenden Reusstal könnte man schon ganze Bibliotheken füllen. Ich aber wills bei diesen rudimentären Hinweisen belassen, bevor sich meine verehrten Leserinnen und Leser durch Katzentörli davonschleichen.
 
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