Textatelier
BLOG vom: 18.11.2007

Zunfthaus-Brand: Sechseläuten 1955 bei den Zimmerleuten

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Texztatelier.com)
 
Alte Bauten, die abgebrannt oder zerbombt worden sind, kann man einigermassen wiederherstellen; nur die Geschichte (die Historizität, also die Geschichtlichkeit) , die ins alte Gemäuer einzementiert war, lässt sich nicht restaurieren. Mögen die Kopie des Hauses oder der restaurierte Gebäudeteil noch so sehr dem Original ähneln, man hat nie mehr das ursprüngliche Werk mit seinen emotionalen Werten vor sich, sondern zuerst einen (eventuell teilweisen) Neubau, der aussieht wie das zerstörte Haus und dessen Materialien und die angewandte Handwerkskunst aus einer anderen Zeit stammen.
 
Wenn Gebäude wie das 1708 neu erbaute Zunfthaus zur Zimmerleuten am Limmatquai in Zürich abbrennen, sind das an sich unersetzliche Verluste; und die besondere Tragik war in diesem Fall, dass auch noch ein Feuerwehrmann beim Löscheinsatz das Leben lassen musste. Das Zunfthaus war eines der wichtigsten historischen Gebäude der Stadt Zürich.
 
Sechseläuten 1955
An das leider im obersten Teil weitgehend zerstörte Zunfthaus habe ich eigene schöne Erinnerungen. Denn ich spielte in den Jahren 1955 und 1956 als Schlagzeuger (Trommel, Pauke, Kesselpauken) in der Bürgermusik Herisau mit, wie in meinem roten Musiker-Pass nachzulesen und vom Präsidenten (unleserliche Unterschrift) und dem Sekretär W. Zellweger beglaubigt ist. Die 1885 gegründete, damals fast 100 Musikanten zählende Bürgermusik, die unter der Leitung von Rolf Zaugg auch als Harmoniemusikgesellschaft ein hohes Ansehen genoss, war sozusagen das Hausorchester der Zürcher Zunft zur Zimmerleuten. Es war schon so etwas wie eine Treppenstufe auf der musikalischen Karrierenleiter, in diesem Orchester mit den strengen Aufnahmebedingungen mitspielen zu dürfen.
 
Die Bürgermusik kam jeweils Mitte April beim Sechseläuten in Zürich zum Einsatz, wahrscheinlich wegen ihres damaligen Renommees. Beim Auftritt an dem alten Zürcher Brauch im Jahre 1955 hatte ich eine voluminöse Baslertrommel zu schlagen, zumal man in der festlichen Atmosphäre einer Grossstadt nicht mit einer zierlichen Konzerttrommel auftreten kann. Nach dem Umzug der 25 Zürcher Zünfte und dem Abbrennen des Böögs (eine Art Schneemann mit explosivem Kopf) auf einem Scheiterhaufen nach dem Muster der mittelalterlichen Hexenverbrennungen begaben sich uniformierte Zünfter und die Musikanten in die Zunfthäuser, um in der Zunftstube das Frühlingsfest weiter zu feiern und bei originellen, geist- und pointenreichen Reden dem Zunftwein, meist einheimische Landweine, üppig zuzusprechen. Auch wir Musikanten wurden festlich bewirtet.
 
Unvergessen bleibt mir unser Einzug ins Zunfthaus zur Zimmerleuten, besonders weil wir dazu den schmissigen Sechseläutenmarsch am Laufmeter spielen mussten, der ursprünglich ein russischer Militärmarsch gewesen sein soll. Und es war für mich eine wirkliche, beinahe akrobatische Herausforderung, beim Treppensteigen unter der stuckierten Flachdecke die Einzelschläge, Schlepps (der eine Trommelschläger trifft abwechslungsweise etwas früher und kräftiger als der andere auf dem Fell auf), Triolen und Wirbel richtig zu platzieren, da die leicht schräg hängende voluminöse Trommel mit dem rechten Knie in der Balance gehalten werden musste. Beim Marschieren hatte ich den Dreh längst herausgefunden (man muss das rechte Bein im leichten Bogen nach aussen führen), doch das Erklimmen einer Treppe mit diesem vorgelagerten Kübel und die Kunst, das schwankende Fell im richtigen Moment zu treffen, war schon schwierig. Immerhin habe ich das Gefühl, mir sei das recht gut gelungen, was vielleicht auch daran gelegen haben mag, dass das Getöse gross und die Akustik in dem verwinkelten Treppenhaus ohnehin nicht über alle Zweifel erhaben waren.
 
Der Aufstieg ins 1. Obergeschoss erschien mir jedenfalls recht anstrengend zu sein, und dann gings noch eine Etage weiter, zum Zunftsaal im 2. Obergeschoss, der durch eine Prunktüre mit Volutenbekrönung, eine spiralförmige Einrollung aus der Zeit des Übergangs zwischen Barock und Rokoko, zu betreten war. Dem Saal gab das dunkle Täfer unter einer konzentrischen Felderdecke das Gepräge. Lehnstühle an langen Tischen waren wohl dazu da, das Gemeinschaftsbewusstsein zu fördern. 16 geschnitzte und bemalte Wappenschilde von Zunftpfleger Hans Georg Bachofen und seinen Söhnen zeigten z. B. Bildnisse der Bürgermeister Hans Jakob Escher (1656–1734) und seines Sohns Hans Caspar Escher (1678–1762). Hans Caspar Escher war eine vielseitige Begabung: Kaufmann, Fabrikant, Konstrukteur (er erfand einen mechanischen Spinnstuhl), und mit dem Bankier Solomon Wyss zusammen gründete er 1805 die Firma Escher Wyss & Co, die als Spinnerei begann und zu einer Konstruktionswerkstätte für Maschinen wurde, einer der bedeutendsten der Schweiz übrigens. Sogar das erste Dampfschiff auf dem Zürichsee stammte von hier, die „Minerva“, die 1835 in den friedlichen See stach. Das Unternehmen wurde 1969 in die Winterthurer Sulzer AG eingegliedert, die Anfang der 1980er-Jahre dann selber in eine existenzielle Krise geriet.
 
Sie bleibt also kein Stein auf dem anderen, was im etwas übertragenen Sinn auch auf das Zimmerleuten-Zunfthaus zutrifft. Der beschriebene altehrwürdige Saal ist jetzt, wie grosse Teile des Zunfthauses auch, seit dem Mittwochabend, 14. November 2007, komplett zerstört, auch die Scheiben, die wegen der Hitze zerborsten sind. Wieso das Feuer wahrscheinlich im Dachstock ausgebrochen ist, kann bisher niemand erklären. Auch die dort gelagerten Kostüme sind den Flammen zum Opfer gefallen.
 
Die Bedeutung der Zünfte
In jener Umgebung spürte ich die Noblesse der Zürcher Oberschicht, die allerdings seit langem nicht mehr einfach ein Zusammenschluss zur Vertretung von Wirtschaftsinteressen einer bestimmten Handwerkergruppe und zur Niederhaltung der Konkurrenz war. Sondern die Zünfte generell wurden zunehmend zu staatspolitischen Körperschaften mit den entsprechenden Funktionen. Geblieben aber ist der Name: Die Zimmerleute, die eigentlichen Konstrukteure von Neubauten, hatten zu Recht ein hohes Ansehen, und auch eine Zunft, die ihren Namen trägt, profitiert noch während Jahrhunderten davon, auch wenn sich ihre Mitglieder aus allen möglichen anderen Berufsrichtungen rekrutieren.
 
Die Zünfte als Organisation haben es selber zu Wohlstand gebracht, wie nicht allein an ihren feudalen Bauten abzulesen ist. Die Zunft zur Zimmerleuten ist stolze Besitzerin einer grossen Sammlung alter Silberbecher, die während des Brands intakt geblieben ist. Auch die Kostbarkeiten im Tresor, der in den unteren Stockwerken steht, blieben unversehrt, so etwa die Silberkannen und ein Goldadler, den die Zünfter an ihren Treffen jeweils auf den Tisch stellen.
 
Zum berühmten Silbergeschirr gehört der so genannte Tausenmann (Tafelaufsatz in Form eines Küfers mit einem sich nach unten verjüngenden Traggefäss auf dem Rücken, wie es die Weinbauern bei der Traubenernte verwendet haben), wobei es sich allerdings um eine Kopie handeln soll. Das Original ist im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich, das von einem Antiquar in Chicago zurückgekauft werden konnte; wie es dorthin gekommen war, bleibt der Grauzone persönlicher Vermutungen vorbehalten. Im Buch „Zürichs Zünfte einst und jetzt“ (1990, herausgegeben von der Zunft Witikon) heisst es mit Bezug auf den Tausenmann: „Dazu können wir Zimmerleuten-Zünfter nur feststellen: Lieber eine echte Kopie in unserem Besitz als ein falsches Original.“
 
Wird bald auch das Zimmerleuten-Haus zu einer echten Kopie? Ums Original ist es bedauerlicherweise geschehen.
 
Hinweis auf ein weiteres Blog mit Bezug zum Zürcher Zunftwesen
11.09.2007: Zürich-Witikon: Wo einst Kanonenkugeln geflogen kamen
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