BLOG vom: 09.01.2008
Der Rohrer Schachen: Freiluft-Wandelhalle für Peripatetiker
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Der Rohrer Schachen (Rohrerschachen) begleitet den Aarelauf südseitig als etwa 300 bis 700 m breites Band von der neuen Baustelle der Staffeleggstrasse aus, wo die hochwassergeschädigte, in Reparatur begriffene Aarauer Zurlindeninsel endet, bis zur Gemeindegrenze Rupperswil – so nehme ich jedenfalls an. Dort ist das Aarschächli mit dem neuen See, der im Rahmen der Auenrenaturierung (Auenschutzpark Aargau) in den letzten Jahren entstanden ist. Auf Rupperswiler Boden folgen dann der Geissenschachen, der Obere Farschachen und der Giessenschachen, der ans Wildegger Zementindustrieareal grenzt.
In den Rohrer Schachen, eine grosse, weitgehend planierte Ebene, ragt das verfichtete Waldareal Suret hinein, das von der Bahnlinie (Aarau–Lenzburg) und der Kantonsstrasse Aarau–Rohr–Rupperswil–Wildegg in West-Ost-Richtung durchschnitten und zugleich eine wichtige Wildtierpassage ist; hier ist aufmerksames Autofahren angezeigt.
An sich wäre der Rohrer Schachen ein eher belangloses Gebiet, hätte er nicht einige Besonderheiten aufzuweisen. So befinden sich hier etwa 10 Giessen, Bächlein, die Grundwasser in bester Trinkwasserqualität führen. Diese oberirdisch fliessenden Gewässer sind die Beweise dafür, dass es hier Grundwasser buchstäblich in Überfluss gibt, so viel also, als dass es zwischen den Kieseln unter dem Boden offensichtlich gar nicht Platz findet.
Diese übergrosse Grundwasseransammlung erklärt sich aus dem Einmünden der ab Suhr AG vereinigten Grundwasserströme aus dem Wynen- und Suhrental (oben an letzterem ist die Sondermülldeponie Kölliken SMDK, die nun gerade ausgepackt und ausgelagert wird). Die individuell gestalteten Giessen, sozusagen die Ventile des Grundwasserüberdrucks, sind eine wirkliche Attraktion: fliessendes, glasklares Wasser mit etwas Brunnenkresse drinnen ist ein herzerfreuender Anblick und ein Symbol fürs Leben obendrein. Sie bedürfen einer gewissen Pflege (Ausmähen bzw. Krautmähen im Sommer und Herbst, von Hand oder mit einem Balkenmäherboot), wenn sie nicht verlanden sollen; das gilt sowohl für die kleineren Bäche als auch für den Sammelgiessen, der auf tieferem Niveau die aufgestaute Aare neben dem rechtsufrigen Damm begleitet und unterhalb des Kraftwerks Rupperswil–Auenstein in die alte Aare einmündet – an sich eine grandiose Trinkwasserverschwendung. Glücklich ein Volk, das sauberes Wasser im Überfluss hat!
Im Rohrer Schachen, an der schmalen, kurvigen Ortsverbindungsstrasse Rohr‒Biberstein, ist die Fischzucht August Nadler, die nach Bio-Grundlagen nicht nur Regenbogenforellen für hungrige Fischliebhaber, sondern auch einheimische Bachforellen zum Aussetzen aufzieht, die zum Teil in den Giessen ihren Lebensraum finden. Die Fischzuchtbecken, die mit Netzen überspannt sind, ziehen viele fischliebende Vögel wie Graureiher und Eisvögel an, welch letztere der Geograf Gerhard Ammann wegen ihres nervösen Verhaltens als „blaue Blitze“ bezeichnet. Der ehemalige, heute pensionierte, in Aarau lebende Kantonsschullehrer Ammann hat dem Rohrer Schachen im Periodikum „Aarauer Neujahrsblätter“ (Ausgabe 2008, Preis: 20 CHF), herausgegeben von der Ortsbürgergemeinde Aarau, ein fundiertes Denkmal gesetzt: „Der Rohrer Schachen: Landschaftsentstehung, Giessen und Fischzucht.“
Am Nachmittag des 3. Januars 2008 war ich als Spaziergänger im Rohrer Schachen unterwegs gewesen, von der neuen, eleganten, erst für Fussgänger benützbaren Aarebrücke für den Staffeleggzubringer bis hinunter nach Biberstein. Auf der Rohrer Seite sind neue Dämme entstanden, auf dass die Aare wieder mehr Auslauf erhalte. Auch Bäume sind gepflanzt, und sie werden von Plastikumhüllungen gegen Wildverbiss geschützt.
In einer Radiosendung (AG/SO-Lokalsendung vom 04.01.2008), die mich auf den Neujahrsblättertext aufmerksam machte, sagte Ammann, auch eine ebene Fläche könne ein „Ort der Kraft“ sein, und damit hat er offensichtlich vollkommen Recht; denn er ist ja ein weiser Mann. Jedenfalls sieht man in diesem an sich unspektakulären Gebiet viele Spaziergänger, Wanderer, Jogger, Velofahrer, Reiter usf., die sich in dieser friedlichen, ruhigen und doch interessanten Landschaft erholen und sich von den Alltagslasten befreit fühlen.
Ich bin hier einer netten Dame begegnet, die in einem durch die Unternbergstrasse und eine Mauer abgetrennten Nachbarhaus lebt und die ich nur wenig sehe: Anna Aberg. Und hinzu kam der ehemalige Onkologe vom Kantonsspital Aarau, Karl Giger, mit Ehefrau Edith, der mich noch von meiner früheren Zeitungstätigkeit her kannte, der Beweis eines exzellenten Gedächtnisses. Wir unterhielten uns über die Natur, die menschlichen Einflüsse (die Zurlindeninsel wird gerade mit Spundwänden und Steinböschungen befestigt). Und der Arzt im Ruhestand erzählte die mir bisher unbekannte Geschichte („La grande muraille“) von Claude Michelet. Sie spielt zur Zeit des 1. Weltkriegs und handelt von einem jungen Burschen namens Firmin, der von seinem Onkel Malpeyre ein 80 Aren umfassendes steiniges Land in der damaligen südwestfranzöischen Provinz Quercy (heute: Départements Lot und Tarn-et-Garonne) geschenkt erhielt, um ihn das Leben zu lehren. Unter den Steinen war fruchtbares Land, und Firmin „commence à déperrier“ – er entsteinte also das Land und baute damit die grosse Mauer um sein Land. Anschliessend pflanzte er Reben und Fruchtbäume. Er hatte das Land fruchtbar gemacht. Den Krieg überlebte er wahrscheinlich deshalb, weil er die Mauer fertig bauen wollte, also noch einige dringende Aufgaben zu erfüllen hatte.
Für solche Gedanken und Weisheiten werden die Spaziergängerhirne im besagten Schachen frei, wo ebenfalls vieles in Umgestaltung begriffen ist und Mauern als Dämme in Erscheinung treten. Dort treffen sich Natur, Menschen und Kultur. Die menschlichen Bemühungen, der einst zurückgedämmten Natur zu ihrem Recht zu verhelfen, sind unverkennbar und stimmen zuversichtlich.
Und das Gehen an sich ist eine inspirierende Tätigkeit. Die Peripatetiker aus der philosophischen Schule des Aristoteles, welche ein Thema mit dem Ort und dessen sinnlicher Wahrnehmung verbinden, entwickelten ihre Lehre und fanden ihre Erkenntnisse im Gehen, beim Umherwandeln, auch in der Wandelhalle.
Als anregende Freiluft-Wandelhalle bietet der Rohrer Schachen als Bestandteil des rund 1 km breiten Aaretals zwischen Jura und der würmeiszeitlichen Niederterrasse bei Rohr AG, wo alles fliesst, beste Voraussetzungen.
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