BLOG vom: 09.02.2008
Eggenwil/Reusstal: Wasser und Sonne als Lebenselemente
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Das Spazieren an Flüssen und vor allem in Auenlandschaften ist bei Regen meines Erachtens besonders attraktiv. Dann stimmt in den Wasserlandschaften wirklich alles. Die Regentropfen schlagen sich in Form von Kreisen auf der Wasseroberfläche nieder. Die Kreise dehnen sich aus, überlappen sich und werden durch neue überlagert, ein faszinierender Bewegungsablauf von ineinander aufgehenden Kettengliedern, der darauf hinweist, dass alles fliesst, alles Bewegung ist. In sandigen Böden schaffen die schweren Regentropfen ein flächendeckendes Netz aus kleinen Dellen, einem Spätzlisieb ähnlich.
Selbst im Winter sind solche Wanderungen stimmungsvoll, wie ich aus eigener Anschauung berichten kann. Am Nachmittag des 4. Februar 2008 begann ich mit der Auskundschaftung des Reusstals direkt unterhalb der Brückenstadt Bremgarten AG, die sich in einer Reussschlinge befindet und in der ein starkes Kapitel habsburgischer Geschichte wohnt; die Habsburger brauchten dieses Gebiet bereits um 1200 als wichtigen Reussübergang. In der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts schenkte Landgraf Adelbert II. von Habsburg seinen Besitz in Eggenwil dem Kloster Muri.
Weiter reussabwärts gibt es bis nach Gnadental keinen Flussübergang mehr, bloss noch 2 Seile für Fähren unterhalb Eggenwil auf der Höhe von Sulz. Der Reusslauf und seine Umgebung von Bremgarten bis zur Einmündung in die Aare im Wasserschloss (unterhalb von Brugg) ist eine der vielfältigsten und am besten erhaltenen Flusslandschaften des schweizerischen Mittellands, die auch im Winter grosse Reize offenbart. Die unbelaubten Bäume, vor allem Weidenarten, ermöglichen Ein- und Durchblicke, die sonst hinter Laubvorhängen verborgen sind.
Das Reussuferschutzgebiet
Ich erkundete vorerst einmal das Reussuferschutzgebiet mit seinen Auen und einem Flachmoor von nationaler Bedeutung zwischen Eggenwil und Göslikon/Künten-Sulz. Hier darf die Reuss in aller Freiheit ohne Stauhaltungen munter fliessen. In einer Aargauer Volksabstimmung vom 16. Mai 1965 über das „Gesetz über die Freie Reuss“ wurde das so festgelegt: „Die Reuss von Bremgarten (Au) bis zur Einmündung in die Aare ist von neuen energiewirtschaftlichen Anlagen frei zu halten. Durch Modernisierung bestehender Kraftwerke darf das Landschaftsbild nicht beeinträchtigt werden.“ Das ist die einzige materielle Bestimmung des Gesetzes, das sich bewährt hat. Seit 1966 sind Motorboote und die Erstellung von weiteren Bauten an den Ufern verboten, dank einer Verordnung des Regierungsrats des Kantons Aargau. An den Flussufern finden sich heute Auengebiete mit Flussnebenarmen, Auenwald, Schotterbänken und Tümpeln. Allein das Gebiet „Foort“, das im Besitz der Pro Natura (www.pronatura-aargau.ch) ist, umfasst 10 Hektaren. Es gehört zum Auenschutzpark Aargau – Flussrandgebiete, die ständig erweitert und renaturiert werden, bis sie 1 % der Kantonsfläche einnehmen. Die gesetzlich vorgeschriebene Aufgabe wird von Behörden und Naturschützern offensichtlich mit Geschick und Begeisterung für die gute Sache vollzogen und nicht einfach als Pflichtübung empfunden.
Im Foort haben Eisvogel, Pirol, Biber, Laubfrosch, Bachneunauge, die in ihrem Bestand gefährdete Schwarzpappel usw. ihren Lebensraum. Vielfältigere Biotope als Auen müsste man zuerst noch erfinden!
Wanderung ab Eggenwil
In Eggenwil stehen für Reusswanderer genügend Parkplätze bereit. In der Talebene haben sich grosse Gewächshäuser breit gemacht; der Gemüsebau spielt in dieser Gegend eine wichtige Rolle. Während meiner Exkursion wurde im Freiland von einem halben Dutzend Arbeitern ausländischer Herkunft gerade Nüsslisalat geerntet; die Erntearbeit war mühsam, der Ertrag bescheiden.
Weiter flussabwärts hatten sich auf der Reuss weisse Schaumkronen gebildet – das musste dort sein, wo sich die ARA (Abwasserreinigungsanlage) in den Fluss entwässert. Vielleicht liefen die Abbaubakterien in der Kläranlage wegen der verhältnismässig tiefen Temperatur (4 °C) nicht eben zur Hochform auf. Das Herausfiltrieren gelöster Stoffe aus dem Abwasser unter eigener Vermehrung (zum Belebtschlamm); das Umwandeln der Stickstoffverbindungen in Nitrat (Nitrifikation) und dann in Luftstickstoff (Denitrifikation) war im Moment nicht ganz ihre Sache; sie froren. Im Übrigen machte das Reusswasser einen ausserordentlich sauberen Eindruck.
Im Foort
Auf dem sandigen Weg, der manchmal tiefe Löcher hat, erreicht der Spaziergänger bald das bereits erwähnte Naturschutzgebiet „Foort“ (Furt, Furtächer = seichte Stelle eines Flusses, die das Überqueren erlaubt) im Innern einer Reussschlaufe, das nationale Bedeutung hat. Es wurde 2004/05 von der Naturschutzorganisation Pro Natura renaturiert, das heisst, dass auf einer Länge von 1200 m die herkömmliche Uferverbauung mit den vor Ort gegossenen Betonblöcken und Steinen vollständig entfernt worden ist; diese wurden während des 2. Weltkriegs in völlig unnötiger Weise wahrscheinlich als Beschäftigungstherapie herangekarrt. Und zur Naturferne trugen auch die Fichtenaufforstungen bei. Bei der kürzlich vorgenommenen Renaturierung wurden ferner 2 je 500 m lange Seitenarme ausgegraben (hier waren früher schon Flussläufe), wobei 2 grosse Flussinseln entstanden sind.
Vieles ist nun korrigiert. Die Seitenarme werden manchmal geflutet, dann bleiben Tümpel zurück. Unterschiedliche Wassermengen und Strömungsverhältnisse dienen Amphibien und Fischen zum Laichen. Die Fichten wurden zugunsten von standortgerechten Laubbäumen entfernt. Auch ein Picknickplatz ist entstanden. Seither wird das Gebiet der Natur überlassen. Umgestürzte Bäume bleiben liegen, und die Überflutung des Auenwalds bei Hochwasser ist gern gesehen. Ein extremer Wasseranfall ergab sich hier Ende August 2005: 860 m3 pro Sekunde; im Sommer sind es laut einer Informationstafel im Mittel 200 m3.
Nördlich oder nordöstlich des Ufers hat die Landwirtschaft grosse, ebene Flächen mit sandigen Böden zur Verfügung. Ich sah ein riesiges Rüeblifeld (Karottenfeld), wie es zum Aargau als Rüebliland gehört. Dass man hier Karotten selbst im Winter im Freien wachsen lassen kann, wusste ich bisher nicht. Und nebenan sah es aus wie während der Lavendelblüte in der Provence: Dort warteten Blaukohlpflanzen mit inzwischen faustgrossen Köpfen auf wärmere, wachstumsfrohere Zeiten.
Grüsse vom Waffenplatz Bremgarten
Auf der gegenüberliegenden Reussseite, im Dickhölzli/Eichholz, übten Soldaten des Waffenplatzes Bremgarten mit scharfer Munition. Sie schossen und brachten, wohl am Ende von Stosstrupps, gelegentlich eine Sprengladung zur Detonation. Jeder einzelne Schuss widerhallte vom oben mit Schnee bedeckten Heitersberg und Hasenberg, so dass das akustische Vergnügen doppelt genossen werden konnte.
Wahrscheinlich gehörte dieser Einsatz zu den Bestrebungen zur Natoisierung der Schweizer Armee, damit immer dann, wenn aus den USA via Nato Einsatzpläne kommen, alles zur Genugtuung der weltführenden Kriegsmacht mit deren gigantischen Rüstungsindustrie, die ständig auf Trab gehalten werden muss, erledigt werden kann. Das erfährt im Moment gerade Deutschland: Im Rahmen der Unterwerfung von Afghanistan haben die USA zur weiteren Zerstörung des Landes und Verstärkung von dessen Widerstandsbereitschaft nach Taliban-Manier eine Truppenaufstockung verfügt. Deutschland aber bietet den Kriegsherren in Amerika erfreulicherweise die Stirn, wenigstens was den verlangten Einsatz in Süd-Afghanistan anbelangt, ein für Europa ganz untypisches Verhalten – und schickt nun doch eine schnelle Eingreiftruppe (Quick Reaction Force/QRF) in den Norden von Afghanistan. Solidarität. Unterwürfigkeit. Wer den USA nicht gehorcht, wird bestraft.
Doch sind wir ja immer noch an der Reuss bei Eggenwil, wo sich der 2. Seitenarm und der lebendige Fluss sich wieder vereinigen. Ich begriff, dass das nicht nur ein Erholungsraum für Pflanzen und Tiere, sondern auch für menschliche Wesen ist und freute mich einmal mehr über diesen vorbildlichen Aargau, der immer wieder die Kraft findet, ein Stück der begehrten Landfläche an die Natur zurückzugeben, grosszügige Wiedergutmachungsarbeit zu leisten. Wenn sich Israel den bestohlenen Palästinensern gegenüber so verhalten würde ... In der Ökologie und in der Politik sind Friedensaktionen möglich, wenn Menschen mit Ethik, Grosszügigkeit und Weitblick am Ruder sind.
Eggenwil wächst
Ich lustwandelte auf dem teilweise morastigen Boden an den Ausgangspunkt zurück und erblickte bald wieder die Krane, die Pirouetten drehten und dem Dorf Eggenwil und damit der Region Mutschellen zu einem weiteren, offensichtlich verdichteten baulichen Wachstum verhalfen; stattliche Mehrfamilienhäuser sind reihenweise im Bau. Selbst am Hang scheinen die Böden also fruchtbar zu sein. Seit 1970 hat sich die Einwohnerzahl von Eggenwil mehr als verdoppelt.
Dieses Eggenwil, ein ehemaliges Weinbaudorf (inzwischen ist der Rebbau spurlos verschwunden), das im 19. Jahrhundert wirtschaftlich blühte, ist die selbstbewusste nördliche Nachbargemeinde von Bremgarten; die Gemeindegrenze ist beim Restaurant Frohburg, wo auch die Inner- bzw. Ausserortstafel BREMGARTEN steht.
Markant tritt am Abhang aus der typischen Terrassensiedlung die katholische Kirche St. Laurentius, eine Bilderbuchkirche mit Käsbissenturm (steiles Satteldach parallel zum Hauptfirst) und runder Turmuhr mit schwarz-rotem Zifferblatt, in Erscheinung (in der Acta Murensia von 1140 war schon am gleichen Ort eine Kirche erwähnt). Das heutige Gotteshaus hat 6 Bauphasen hinter sich gebracht. Über die Entstehung dieses Bauwerks erzählt die Legende (nach Pfarrer Michael Huber: „Beitrag zur Geschichte der Pfarreikirche von Eggenwil“, 1876): „Von seinen Stammgütern, an der oberen Reuss gelegen, nach seiner Burg hinunter fahrend, soll ein Graf von Habsburg auf der Höhe von Eggenwil in Sturm und Lebensgefahr geraten sein. In seiner Not gelobte er, sollte er gerettet werden, an diesem Ort eine Kirche zu bauen. Der Graf konnte sich aus den Fluten der Reuss retten und stiftete den versprochenen Kirchenbau.“
An den Turm der Kirche ist eine Sakristei angefügt. Sie hat ein romanisches, 1870/74 verlängertes Schiff und einen dreiseitig geschlossenen Chorbau von 1683. In der Kirche sind wesentliche Kulturschätze vorhanden, so eine silbervergoldete Hostienmonstranz, ein reich verzierter Spätrenaissancekelch, ein Barockkelch von Hans Georg Ohnesorg und 14 Kreuzwegbilder, die am Anfang des 18. Jahrhunderts von einem Innerschweizer Künstler geschaffen wurden. Neben dieser Landkirche auf der steilen Hügelkuppe steht auch das Pfarrhaus von 1748/49 mit einem Pfarrhof, wie er für das Freiamt typisch ist. Auch das Räbhüsli gehört dazu.
Die politische Gemeinde Eggenwil besteht seit der Aargauer Kantonsgründung 1803. Noch wesentlich älter ist das Restaurant Sternen, ein klassizistisches Bürgerhaus mit französischem Walmdach im Dorfzentrum. Das währschafte Gebäude diente vor 400 Jahren dem Kloster Muri als Verwaltungsgebäude und Weinkeller. Vor dem Haus ist eine kunstvolle Pflästerung mit einem Stern zu bewundern und zu begehen. Ich wäre gern eingekehrt, fand aber eine verschlossene Tür: Montag, Wirtesonntag. So begab ich mich stattdessen in die Gemeindekanzlei an der Kustergasse 1 im Oberdorf, wo mich Ursula Staubli u. a. mit der Informationsschrift „Gemeinde Eggenwil“ (www.eggenwil.ch) eindeckte, der ich einige Angaben über Eggenwil entnommen habe. Der Gemeindeammann Thomas Endres schreibt darin zu dieser „ländlichen Idylle mit Stadtanschluss“: „Mit seiner Südwesthanglage bietet Eggenwil Sonne von früh bis spät und Aussicht auf Reuss, Jura und Alpen.“
Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Wer will denn schon den Feststellungen eines Gemeindeammanns zuwiderhandeln? Doch ohne Regen würden die Auen nicht richtig funktionieren. Und ein gelegentlicher Sturm ist auch nicht zu verachten, kann er doch ganze Kirchen initiieren, wie man sah.
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