BLOG vom: 05.03.2008
Slow Food Schweiz: Glücksgefühle bei Tische in Arbor felix
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Wie die Vereinigung Slow Food, so hat auch das thurgauische Städtchen Arbon am Bodensee römische Wurzeln. Der Ort hiess, nachdem die frühbronzezeitliche Pfahlbau-Phase überwunden war, Arbor felix ‒ also „glücklicher Baum“. Doch wäre es eine unverzeihliche Untertreibung, die Arboner Glücksgefühle ausschliesslich bei einem einzigen Baum zu suchen, sondern die Arboner kennen nichts anderes als solche, und identische Gefühle stellen sich wahrscheinlich bei allen Besuchern automatisch ein.
Die Weite des Bodensees, in den Arbon als spornförmige Halbinsel hinausragt, das auf einer Strecke von 3 km öffentlich zugängliche Seeufer neben den angegliederten Parkanlagen, die mittelalterliche Altstadt mit den originell und kühn bemalten Riegelbauten und dem turmbewehrten Schloss, wo vorher (ab 720) eine Burg gewesen war und die historischen Saurer-Bauten sind auffallende Attribute von Arbon, dieser drittgrössten Stadt des Kantons Thurgau (13 100 Einwohner), hinter der Kantonshauptstadt Frauenfeld und Kreuzlingen.
Das jetzige Schloss Arbon innerhalb des Römerkastells wurde 1515 im Auftrag von Bischof Hugo von Hohenlandenberg errichtet, wobei der Turm allerdings viel älter ist und schon 993 aufgebaut worden sein soll. Stadtammann Martin Klöti, Landschaftsarchitekt und seinerzeit Mitbegründer einer Lachsräucherei im Toggenburg, kann noch heute nicht begreifen, dass der irische Wandermönch und Missionar Gallus nach einem langen Aufenthalt in Arbon im Jahr 612 „aus unerfindlichen Gründen“ den Entschluss fasste, der Steinach in Richtung der heutigen Stadt St. Gallen zu folgen, wobei er noch einen auftauchenden Bären zu überlisten hatte, falls uns kein Bär aufgebunden wurde. Zumal die bekannten Bratwürste dort oben noch nicht einmal erfunden waren, wie dem beizufügen ist. Klöti sprach am Empfang der Slow-Food-Gäste im Schloss.
Unmittelbar beim kleinen Bahnhof, der 1868/69 nach Plänen von Friedrich Seitz entstanden ist und in dem noch eine manuell betriebene Weichenstellanlage alter Schule hinter Glas Nostalgikern zuwinkt, erinnern die ausgedehnten Backstein-Industriebauten mit den weiss gefassten, teils mit Rundbögen versehenen Fenstern an die einst stolze Saurer-Geschichte. Das Saurer-Unternehmen war einst eine berühmte Produktionsstätte für stabile, nicht umzubringende Lastwagen und Webstühle. Wahrscheinlich hatte man vergessen, verdeckte Mängel einzubauen, um den Umsatz zu fördern. Davon ist heute noch die Oerlikon Saurer Arbon AG übrig geblieben, die etwa 200 Personen beschäftigt und führend in der Stickmaschinen-Produktion ist.
Arbon ist immer noch die Industriemetropole des Oberthurgaus: Zu erwähnen sind die Arbonia-Forster-Gruppe AFG, die sich im Saurer-Eigentum befindende Zwirnmaschinenfabrik Hamel, ein Lastwagenmontagewerk von Mercedes-Benz NAW, ein Motorenforschungsunternehmen von Iveco im Fiat-Konzern und die Stanzmaschinenfabrik Bruderer AG neben vielen gewerblichen Unternehmen.
Auftakt zum Tafel-Marathon im Schloss
In diesem Arbon wurde am 01.03.2008 die Delegiertenversammlung von Slow Food Schweiz durchgeführt (siehe Blog vom 04.03.2008) ‒ man könnte dem Slow Food ja auch Happy Food sagen, wenn es schon amerikanisch sein muss, um es vom globalisierten Schnellfrass abzuheben und ans Arbon-Glück anzupassen.
Nach getaner vereinsmeierischer Filigranarbeit, welche die Führung eines komplexen Zusammenschlusses Gleichgesinnter nun einmal erfordert, begab sich die Gesellschaft ins Schloss Arbon mit seinem Quaderwerk aus gewaltigen, abgeschliffenen Steinen. Die Kräfte der Delegierten reichten gerade noch, um sich über die Treppe an der Südmauer im Schlossinneren zum 3. Stock hinaufzubewegen, wo neben dem bereits erwähnten Stadtammann Klöti der thurgauische Regierungsrat Claudius Graf-Schelling ebenfalls einige Worte der Begrüssung sprach: Der Thurgau sei als „Kanton der kurzen Wege“ bekannt, sagte er, was auch rasche Entscheide bedeute. Und er fand auch den Link zur Slow-Food-Philosophie: Es sei sinnvoll, wenn die Bauern dort ihre Produkte herstellen könnten, wo sie, die Produkte, gegessen werden. Er verspürte eine Seelenverwandtschaft zur den Slow-Food-Mitgliedern.
Weil die Bauern nur eine Existenzgrundlage haben, wenn ihre Erzeugnisse gekauft und gegessen werden, schritten wir zur Tat. Bei der Vorspeise tat sich eine Galantine hervor, ein hoch veredeltes Mostbröckli, wie es zum Thurgauer Kantonalcharakter gehört, mit Schinken, dazu ein Tatar und junges Gemüse.
Die delikaten Weine stammten vom Weingut Burkhart in Weinfelden (www.weingut-burkhart.ch), ein 5,5-Hektaren-Betrieb, der auf Spezialitäten ausgerichtet ist. Eine Neuentdeckung war für mich der Kernling (eine Kerner-Mutation) mit frischen Zitrus- und Grapefruitnoten, der die vielfältige Vorspeise in noch höhere Sphären erhoben hat. Und ein nachfolgender Pinot blanc, im Eichenfass ausgegoren, kam überraschend leichtfüssig, ja jugendlich daher, eine Delikatesse für gehobene Ansprüche auch dieser. Die Weine wurden vom Seniorchef Willi Burkhart persönlich und mit dem Engagement des nach Wahrheit suchenden Önologen vorgestellt.
Anschliessend erfolgte ein Ortswechsel: Im Yachtclub-Gebäude wurde eine Fürstenländer Käsesuppe mit Trüffelschaum aufgetragen, an die ich mich mit Vergnügen erinnere, sozusagen ein mit Rahm und schwarzen Wintertrüffeln veredeltes, luftig, ja übermütig gewordenes Fondue.
Der Sturmwind „Emma“ hatte sich gelegt, und so waren die Ortswechsel im Rahmen des so genannten „Dine around“, des Herumdinierens zu Fuss, vergnügliche Verdauungsspaziergänge. Zum Hauptgang kehrte man ins Hotel „Metropol“ am Seeufer zurück, ein 1964 entstandener, monumentaler, horizontal gegliederter Betonbau mit Bezügen zur Marinearchitektur mit gläsernem Lift-Vorbau.
Das Rindsfilet war auf den Punkt gebracht, ebenso die Wildspargeln aus Italien und die Babykarotten. Auch der Weinfachmann Willi Burkhart lief zur Hochform auf. Der Pinot noir Reserva, der mindestens 12 Monate in einem Barrique gereift war, überzeugte selbst die strapazierten Geschmackspapillen durch seine abgerundete Komplexität. Da sei kein Tropfen Verschnitt drin, versicherte mir der Winzer glaubwürdig, nachdem ich ihn darauf angesprochen hatte. Mostindien, das offensichtlich auch ein Weinindien ist, überzeugte mich einmal mehr.
Das Dessert, ebenfalls vom talentierten, aus England stammenden Koch Gery Pettinger kreiert, bestand aus einem Fruchtkuchen mit Sorbetkugeln, darunter ein Pfefferminzeis ‒ ein durchaus erträglicher gastronomischer Hauch aus England. Der Dessertwein „Winner“ aus der „Siegerrebe“ (eine eigene Sorte), angebaut beim Hause Burkhart, hielt all dem auch sprachlich stand: ein Aromenfeuerwerk, das in einem vielfältigen Obstgarten eingefangen worden zu sein schien. Es wurde um jene Zeit genossen, als das Bodenseegebiet von einem Meteoriten erhellt wurde.
Ufer- und Altstadtrundgang
Damit war die Bettschwere erreicht. Wir gingen aufs Zimmer, warfen einen Blick auf den Bodensee, den Sturmwarnlichter punktweise illuminierten, und schliefen gut. Am nachfolgenden Sonntagmorgen, 02.03.2008, wanderten Eva und ich am Adolph-Saurer-Quai und auf der gebogenen Mauer beim Alten Hafen und wurden von der wiedererwachten „Emma“ fast ins Wasser geblasen. Das Adolph Saurer (1821‒1920) gewidmete Denkmal, ein tonnenschwerer Granitfels, aber stand unverrückbar da; Saurers Unternehmen beschäftigte bei seinem Tod in Arbon rund 2900 Personen.
In der Altstadt war es beinahe windstill, und sogar einige Sonnenstrahlen beleuchteten die Fachwerkfassaden, an denen man sich kaum sattsehen kann. Wo die Holzbalken der Riegelhäuser himmelblau oder grau bemalt sind, wirkt das nicht etwa kitschig, sondern fröhlich, lebensfroh. Und das berühmte Bohlenständerhaus (ein zweigeschossiger Holzbau mit senkrechten, genuteten Balken und dicken Wandbrettern = Bohlen) auf einem gemauerten Erdgeschoss (von 1471) erinnert an eine weitgehend in Vergessenheit geratene mittelalterliche Bauweise, die günstiger als ein Steinbau war, oft aber dem Feuer zum Opfer fiel (Quelle: NIKE, Nationale Informationsstelle für Kulturgütererhaltung, CH-3000 Bern 25, www.nike-kultur.ch).
Die Arboner Industrie- und Handelsgeschichte hat sich befruchtend und prägend auf das Stadtbild ausgewirkt. So ist das übermächtig wirkende Stadthaus identisch mit dem ehemaligen, um 1730 erbauten Leinwand-Handelshaus von Michael von Eberz aus Memmingen D. Von1827 bis 1905 diente das opulente Gebäude als Textilfabrik, und heute wird die Stadt von hier aus verwaltet. Im Rathaus seinerseits, einem Eckturm der Stadtmauer, hat sich das Bezirksgericht niedergelassen.
Arbon ist gleichermassen übersichtlich wie wohlgeordnet: Seebereich, Altstadt und Industriezone beim Bahnhöfli, wo der Thurbo die ohnehin kurzen Thurgauer Wege noch abkürzt. Hier herrscht keine Hektik, keine kriecherische Anbiederung an die globalisierende Moderne. Die Ostschweizer haben ihre Traditionen bewahrt und tun es weiterhin. Und unverhofft und ungewollt sind sie dadurch hoch aktuell geworden.
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