BLOG vom: 19.04.2008
Burgunderblust-Wanderung zwischen Delphin und Seerose
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Der grösste Erholungsdruck am Hallwilersee macht sich auf dem Gemeindegebiet Meisterschwanden AG am Ostufer des Sees bemerkbar. Direkt unterhalb der Gemeinde ist das Hotel „Delphin“, im Norden davon Tennwil (gehört zu Meisterschwanden) mit einem grossen Schwimmbad, und südwärts erreicht man in 20 Minuten das Hotel „Seerose“, das zu einem richtigen Komplex geworden ist.
Die „Seerose“ ist ein seit 1977 bestehendes, rustikales Haus (heute „Classic“ genannt) mit viel geschnitztem Holz. 2003 kam, hangwärts anschliessend und ohne architektonischen Bezug, das Designhotel „Elements“ hinzu, ein Bau mit Turm, in dem 57 Designzimmer und 3 Turmsuiten sowie das thailändisch ausgerichtete Spezialitätenrestaurant „Samui-Thai“ untergebracht sind. Die 4 Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft dienten dem neuen, inzwischen mehrfach ausgezeichneten 4****-Superior-Hotel, das sich auch für Seminare und Bankette anbietet, als gestalterische Idee. Da ich erst im Gartenrestaurant des Altbaus in der Nähe einer bronzenen Wassernixe mit einem Muschelgehäuse einen Kaffee Crème (3.90 CHF) getrunken habe, kann ich mir noch kein Urteil erlauben; jedenfalls aber hinterlässt die Multikultianlage zwischen Heimatstil und Exotik den Eindruck von Gepflegtheit und initiativer Leitung.
Meisterschwanden
Meine kleine Exkursion im Rahmen der etappenweisen Hallwilersee-Umrundung begann ich am 12. April 2008 bei der riesigen Schulanlage der Gemeinde Meisterschwanden auf einem äusseren Ausläufer des Lindenbergs, wo es einen grossen Parkplatz gibt (1 CHF/Stunde; man muss die Aufenthaltszeit im Voraus abschätzen). Aufgrund der Dimensionen des Schulzentrums würde man nie erahnen, dass Meisterschwanden nur etwa 2400 Einwohner zählt. Die ausschweifende, 2001 erweiterte Schulanlage „Eggen“ wurde nach den Kriterien des von der Form des Reissbretts inspirierten Neuen Bauens geplant. Von dort führt eine steil abfallende, asphaltierte Strasse hinunter zum „Delphin“. Am sonnigen Abhang, zweifellos eine gefragte Wohnlage, wird gerade ein grosses modernes, kubisches Haus erstellt.
Der Hafen
Drunten beim „Delphin“ ist der Hafen der Schifffahrtsgesellschaft Hallwilersee SGH, die ihre gemütlichen Zirkulationen von Anlegestelle zu Anlegestelle bereits wieder aufgenommen hat und gelegentlich das Nebelhorn selbst bei schönem Wetter ertönen lässt, weil das zur Schifferromantik gehört. Im Schlepptau eines schweren Traktors wurde gerade ein kleines Ruderboot angekarrt, und mit einem Allradfahrzeug mit Büffelgitter brachte ein ergrauter Hobbykapitän mit Latzhosen auf einem Anhänger sein stattliches Segelboot „Lucky“ herbei. Ein Traktor mit einem Greifarm und kreuzförmiger Aufhängevorrichtung war bereits in Entladeposition gegangen. Das gereinigte, aufgefrischte glückliche Boot wurde mit Bandagen unterfangen und möglichst im Gleichgewicht aufgehängt. Der erfahrene Kapitän konnte den Gewichtsmittelpunkt ziemlich genau bezeichnen. Als das Schiff an der Aufhängevorrichtung baumelte, wurde der Transportanhänger weggezogen, und der Traktorfahrer fuhr auf der schwach abfallenden Böschung etwas in den See hinein, um das Schiff zu wassern, das sich dafür gleich mit einem sanften Schaukeln bedankte und wenig später in den still ruhenden See stach, auf dem bereits einige kleine Segelschiffe nach etwas mehr Bioenergie lechzten. Eine schwarze Wolkenwand im Norden verbreitete Gewitterstimmung und stimmte hoffnungsfroh.
Der Wanderer kann sich dort, im Seezopf, auf einem Ruhebänklein erholen und auf einer kaum noch lesbaren, von moos’gem Grün eingefärbten Informationstafel über die Namen der sich hier tummelnden Wasservögel informieren: Stockenten, Schnatterenten, Kormorane, Graureiher und viele andere mehr. Da gerade die Blütezeit der Burgunderblutalgen war, waren die Wasservögel, denen etwas Blutrot im Gefieder angeboren ist, eindeutig im Vorteil, da ihre künstliche Rotfärbung weniger auffiel: Tafelenten, Schwarzhalstaucher im Sommerkleid, Kolbenenten, Pfeifenten, Löffelenten. Etwas Leid taten mir die an sich schneeweissen Höckerschwäne, deren Kleid an der Eintauchstelle mit einem rotbräunlichen Rand umgeben war wie der Rand einer Badewanne nach der Verwendung eines Henna-Shampoos. Auch Köpfe und Hälse, die hungrige Schwäne gelegentlich ins Wasser eintauchen, waren rötlich eingefärbt.
Wie gesagt: Die Burgunderblutalgen feierten in dem ungenügend durchlüfteten und allzu sehr mit Nährstoffen gesättigten See ihr Frühlingsfest. Die Ursache ist bekannt: Der Wasserdurchfluss des Hallwilersees ist mehr als bescheiden, unterproportional zu seiner Grösse. Dazu die Kenndaten: Wasseroberfläche:10,2 km2, Seevolumen: 256 Millionen m3, mittlerer Seeabfluss; 2,4 m3/sec. Das bedeutet also, dass sich das Wasser im Mittel 3,8 Jahre lang im Hallwilersee aufhält, bis es sich endlich entschliessen kann, zwischen Boniswil und Seengen via Aabach der Aare, dem Rhein und dem Meer zuzusteuern. Das Seetal lässt einen nicht so leicht los.
Die Seebelüftung
Seit 1964 ist ein heroischer Kampf um die Verbesserung des Hallwilerseewasserzustands im Gange. Damals wurden zuerst einmal die Abwasserreinigung und die Siedlungsentwässerung einwandfrei gelöst; der Kanton Luzern als Oberlieger liess sich mit seinem Baldeggersee bis 1980 Zeit dazu. Viele Nährstoffe wurden diesen Gewässern aus den saftigen Landwirtschaftsflächen zugeführt. Vom direkten Einzugsgebiet des Hallwilersees (ohne Baldeggersee) von 55 km2 sind 64 % Landwirtschaftsflächen.
Seit langem wird versucht, auch das Problem der Nährstoffauswaschung aus überdüngten Böden zu lösen, und seit 2001 ist das „Phosphorprojekt“ mit Massnahmen in der intensiv betriebenen Landwirtschaft am Laufen; die Behörden wollen also bei den Ursachen ansetzen. Das heisst, dass die Kantone Aargau und Luzern finanzielle Beiträge an ergänzende Massnahmen zur Verminderung der Auswaschung und Abschwemmung von Phosphaten aus der Landwirtschaft leisten. So haben Pufferstreifen von 6‒15 m Breite an Bächen und am Seeufer Nährstoffe zurückzuhalten. Ferner sollen Direkt- und Streifenfrässaaten die Bodenerosion eindämmen, und die Böden sollen weniger gedüngt werden, das wohl Wesentliche an der Sache.
Das alles genügt noch nicht; denn der liebliche See schlummert träge vor sich hin. Dabei würde sich das Wasser doch am Besten reinigen, wenn es bewegt und von Sauerstoff durchsetzt wäre, wovon jeder Bergbach und Wasserfall sein Lied singen kann. Weil in der sanften Mulde Seetal sowohl Bergbäche als auch Wasserfälle fehlen, hat der Wasserkanton Aargau 1986 dem kranken See eine Zirkulationshilfe mit Tiefenwasserbelüftung zukommen lassen; die Maschinen sind in der Nähe des „Delphins“ installiert.
Die komplexe Belüftungsanlage ist von einem Schiffsfriedhof begleitet, wo Boote ihre Winterruhe verbringen und eine nette Dame stundenlang mit einem Schleifgerät an ihrem Katamaran-Boot herumpolierte, etwas vom Ufer entfernt. Man sieht neben einem Betriebsgebäude vor allem einen grossen, runden, stehenden Sauerstofftank und eine Verdampfungsanlage für Flüssigsauerstoff wie ein überdimensionierter Radiator. Von hier aus wird zuerst unterirdisch und dann unterwasserisch an der tiefsten Stelle des Sees (rund 40 m), die etwas südlich von Meisterschwanden liegt, das sauerstoffarme Tiefenwasser mit feinblasigem Sauerstoff angereichert; 300 bis 650 t werden pro Sommer eingesetzt. In den Wintermonaten unterstützt grobblasig eingetragene gewöhnliche Druckluft (etwa 350 m3 pro Stunde) die Wasserzirkulation, auf dass der See an der Oberfläche wieder etwas Atem holen könne. Bei Bedarf kann Reinsauerstoff zudosiert werden, wie auf einer ausführlichen Informationstafel zu lesen ist. Darauf sind auch die Jahreskosten für den Betrieb dieser Intensivstation angegeben: 180 000 bis 350 000 CHF.
Wie alle Wasseruntersuchungen ergeben haben, ist der Hallwilersee auf dem Weg zur Gesundung, und die Burgunderblutalgen sind sogar ein positives Indiz dafür; wäre der See nämlich stärker überdüngt, würden sie nicht auftauchen. An warmen, windstillen Tagen bilden sich die weinroten Algenblüten an der Seeoberfläche, und sie werden ans Ufer geschwemmt. Im Sommer aber leben sie in 5 bis 10 m Tiefe, und der See wirkt dann klar und ladet zum Bade. Inzwischen ist es auch Schlammröhrenwürmern und Insektenlarven wieder möglich geworden, den gesamten Seegrund zu besiedeln. Die jedermann sympathischen Schlammröhrenwürmer, die sich am liebsten im Schlamm von stehenden Gewässern aufhalten und keiner Alge etwas zu Leide tun, passen wunderbar zum See – wegen ihrer rötlichen Farbe, die vom geschlossenen Blutkreislauf herrührt. Sie können sogar als Messgeräte für den Verschmutzungsgrad des Wassers benutzt werden: Je länger der aus dem Boden herausragende Wurmköper ist, desto bescheidener ist das Sauerstoffangebot. Richtige Zeigerwürmer.
Die Anzeichen von erfolgreicher Wiederbelebung haben auch den Effekt, dass die Felchen wieder den gesamten See als Lebensraum nützen können; die Fischzuchtanlage beim „Delphin“ dürfte aber weiterhin nicht überflüssig werden, wenn alle Fischliebhaber gefüttert werden sollen. Die Felchen werden sich im See erst dann wieder natürlich fortpflanzen können, wenn ihre Eier auf dem Seegrund nicht mehr im Faulschlamm ersticken.
Begegnungen am Ufer
Doch tauchen wir aus den Seetiefen wieder an die frische, bewegtere Luft auf: Das Wandern am rötlichen Seeufer bietet schöne, ungewohnte Bilder in Rot; falls man den Algen positiv gegenübersteht, kann man sich daran erfreuen. Wie eine dünne Rotweinsauce umspült das Wasser den Schilf und die Sockel der Bauten aller Art und Grössenordnungen vom Schuppen bis zum Wohnhaus, die sich ins Wasser vorgewagt haben; nördlich des „Delphins“ gibt es eine Dutzendserie davon.
Das Schlimmste sind nicht sie, sondern die Umfassungsmauern aus armierten Betonplatten, welche die Schwimmbäder bei der Seerose und in Tennwil (zirka 1 km nördlich von Meisterschwanden) einsargen. Der Wanderweg umrundet diese langgezogenen, trennenden Rechtecke aus Betonplatten, die in genutete Betonpfähle eingeschoben sind. Wären die grausigen Wände höher, würde man sich in Israel fühlen. Der Wanderer fragt sich, ob diese Schwimmbäder-Einfriedung nicht etwas freundlicher gestaltet oder wenigstens mit Büschen oder Kletterpflanzen getarnt werden könnten. Obschon es sich um traditionelle, also seit langem bestehende Mauern handelt, hätte gewiss auch der Heimatschutz nichts dagegen einzuwenden, wenn sie entsorgt und durch eine gefälligere Lösung ersetzt würden.
Störend wirken auch die in Wiesen am Uferweg immer wieder anzutreffenden richterlichen Verbotstafeln, die meines Erachtens vollkommen unnötig sind. Jeder vernünftige Mensch weiss doch, dass man auf Privatgrundstücken nicht einfach ungefragt seine Freizeitbedürfnisse campierend ausleben darf. Zudem gibt es am Hallwilersee sogar windgeschützte Bänklein und öffentlich zugängliche Ufertreppen genug, um sich vom Wandern oder Joggen auf dem angenehmen, manchmal leicht hügeligen Uferweg zu erholen. Auch Liebespärchen können sich bis zum Auftauchen des nächsten müden Spaziergängers ziemlich sicher fühlen.
*
Ich möchte diese mir seit Jahrzehnten lieb gewordene Seelandschaft in keiner Weise heruntermachen – ganz im Gegenteil. Herkömmliche Anlagen, die man lieber nicht mehr sehen würde, haben sich hier verkrallt, und die modernen Ansprüche nach Freizeitnutzung einerseits und Naturbelassenheit anderseits ergeben ein ständiges Ringen um Kompromisse, die je nachdem auf diese oder jene Seite ausschlagen. Insgesamt hat der Hallwilersee bei alledem ganz offensichtlich seine Attraktivität bewahrt; denn zu jeder Zeit begegnet man dort vielen Wanderern, Verliebten und abgeklärten älteren Ehepaaren, joggenden drahtigen Figuren, die aus dem Atelier von Alberto Giacometti zu stammen scheinen, und Erholungssuchenden.
Das System Hallwilersee funktioniert – auch wenn gelegentlich etwas Nachhilfe nötig ist.
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