BLOG vom: 21.04.2008
Ermässigung für und Raubzug gegen ausgewiesene Rentner
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
„Schmeichelei ist eine falsche Münze,
die ihren Kurswert nur durch unsere Eitelkeit erhält.“
La Rochefoucauld
Die meisten Menschen haben ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Alter. Die Jungen möchten älter sein, um die Hürden beim Verkauf unerlaubter, den Erwachsenen vorbehaltenen Dinge wie Raucherwaren, alkoholische Getränke zu überwinden oder offene Kinotüren zu finden, also das Schutzalter hinter sich bringen, um ungeschützt handeln, leben und geniessen zu können. Wie die Grossen.
Mit zunehmendem Alter kehrt sich die Wunschlage um, wobei hier angemerkt werden soll, dass alle Menschen älter und älter werden, selbst Säuglinge ab dem Tag ihrer Geburt. Bei den gereiften Damen muss man besonders vorsichtig sein: Man darf sie nicht nach dem Alter fragen, und bei entsprechenden Schätzaufgaben hat man kräftig nach unten abzubiegen, hemmungslos, bis an die Grenze des gerade noch Unverdächtigen, damit die Verdrehung nicht offensichtlich wird. Denn alle Menschen möchten nach vollendeter Teenagerphase, spätestens ab 30, jünger aussehen als sie tatsächlich sind, eine Folge des grassierenden Jugendkults.
Jugend wird mit Schönheit und Gesundheit gleichgesetzt. Ein Mittelalter kennt man im deutschsprachigen Raum nur als geschichtliche Epoche zwischen Antike und Neuzeit in der europäischen Kultur, nicht aber beim Menschen. Unserer Sprache fehlt ein entsprechender Begriff. Man könnte die Spannweite zwischen Jugend und Alter zwar umschreiben: Er ist mittleren Alters (englisch: middle-aged); doch diese Formulierung ist nur wenig gebräuchlich, so dass man sprachlich von der Jugend auf direktem Wege ins Alter überzuwechseln hat. Das funktioniert problemlos, weil Alter (Bejahrtheit) ein so schön dehnbarer Begriff ist und ja schliesslich auch für jede beliebige Anzahl Lebensjahre stehen kann.
Ich bin jetzt 71 und sicher alt in des Eigenschaftsworts reinster Bedeutung. Mir gefällt es, alt zu sein. Ich weiss nicht, ob ich jünger aussehe, ob ich genau wie ein 71-Jähriger aus der Wäsche schaue, oder ob ich einen älteren Eindruck hinterlasse; das hat mich weiter auch nicht zu interessieren, solange ich mich nur wohlfühle. Mir hat noch niemand gesagt, ich sehe doch wesentlich älter aus als ich sei; aber viele haben sich zu diesem Kompliment aufgeschwungen: „Das (über 70) gäbe man dir nie!“ Ich halte es ja meinen Mitmenschen gegenüber auch so: „An Dir geht die Zeit spurlos vorbei“, sage ich oft, wenn ich einen alten Bekannten nach vielen Jahren wiedersehe und ihn vor lauter Runzeln, geweisseltem Haar und geniesserisch angefressener Körperfülle kaum noch erkannt hätte. Man kennt ja die Befindlichkeiten. Denn selbst das ehrenwerte Alter schützt vor Torheiten nicht.
Heikel wird die Sache, wenn diskrete Alterssignale ausgesandt werden. Was der gealterte Schweizer Kabarettist Franz Hohler in einem seiner köstlichen Sketches thematisiert hat, habe ich selber ebenfalls schon leicht schockiert erfahren: Eine höfliche junge Dame steht in der Bahn oder im Tram auf und macht einem Platz. Das kann passieren, und das muss man dankend ertragen, ohne gleich in eine Altersdepression zu verfallen.
Delikat ist die Situation für uns Rentner an Kassen von Museen, Bahnschaltern, Bädern oder anderen mildtätigen Organisationen aus der Freizeitindustrie, welche uns am Hungertuch nagenden, ihr angespartes Kapital aufzehrenden, hutscheligen Geschöpfen eine Ermässigung offerieren. Ich habe kürzlich mit der Kassiererin Rita Borner im Thermalbad Schinznach aus gegebenem Anlass darüber gesprochen. Unter der Woche offeriert das Bad uns armen Menschen, die wieder einmal etwas Wärme brauchen können, eine Ermässigung; das dient offensichtlich auch der Besuchersteuerung: Die Alten sollen ausserhalb der Spitzenzeiten kommen. Ich vergesse im Übrigen allerdings meistens, dass ich unter diese Rentiere falle und zahle voll.
Als tierfreundlicher Mensch nenne ich uns Pensionisten tatsächlich Rentiere als Ableitung aus der französischen Sprache, weil dort ein Mensch als Rentier (bitte französisch aussprechen: rɛnˈtje) bezeichnet wird, der vom Ersparten lebt, allenfalls unter Einbezug einer Rente (wie der Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV in der Schweiz).
Also sagte ich an der Kasse, ich sei ein Rentier, wenn ichs nicht vergesse, was besonders zur Winter- und Frühlingszeit glaubwürdig erscheint, weil das männlichen Rentier (Ren) sein stangen- bis schaufelförmiges Geweih im Herbst abwirft und die dem Weiss zuneigende Farbe des Fells im Winter viel heller als im Sommer ist.
Selbstverständlich hätte die Kassiererin bei solchen Gelegenheiten durchaus das Recht, einen entsprechenden Ausweis zu verlangen, was dann, vom Standpunkt jugendkultischer Betrachtungsweise aus betrachtet, beim Ren als Kompliment einfahren würde (und nicht etwa als Misstrauensbeweis). Das hiesse: Man sieht ihm das Alter nicht an. Aber in der Regel sind die kundenfreundlichen Kassiererinnen gläubig (im weltlichen Sinn).
An der Kasse im Bad Schinznach fragte ich die Dame von mir aus, ob sie meinen Ausweis (Identitätskarte) sehen wollte. Das war auch wieder delikat, weil man dadurch signalisiert, man sehe einem das Alter ja nicht an … Die Kassiererin lehnte ab, was ich als Beweis dafür interpretierte, dass ich alle Ansprüche erfülle, die man ans Äussere eines Rentiers stellt. Auch das trug ich mit Fassung und orientierte die sehr freundliche Frau Borner entsprechend. Ihr ist die Problematik von Berufes wegen bekannt: „Ich frage vorsichtshalber nie nach einem Ausweis“, sagte sie. Das heisst: Sie gewährt den Rentnerrabatt nur auf Verlangen, aber nicht etwa um die Kasse intensiver zu füllen, sondern vorsichtshalber. Man stelle sich bei unserem gestörten Verhältnis in Bezug aufs Alter vor, sie würde einen 60-Jährigen nach dem Rentnerausweis fragen, weil dieser über die landessübliche Geschwindigkeit hinaus an Falten zugelegt hat, sagen wir einmal mit Tempo 70.
Die weiteren Jahre und Jahrringe werden das Problem vereinfachen, oder aber das Alter geht verloren. Wie sagte Françoise Sagan doch so wunderschön: „Der ideale Mann ist der, den man auf den ersten Blick liebt, ob er 20 oder 80 ist, spielt keine Rolle, denn der ideale Mann hat kein Alter.“
Die wohlhabenden Alten
Ich muss mir beim Abholen des mir vorläufig noch ordentlich zustehenden Rentnerrabatts eine sinnvolle Strategie ausdenken, eine knifflige Aufgabe für mein alterndes Gehirn (jedes Gehirn altert übrigens). Doch nachdem in der Schweiz in einer kuriose Studie der Universität Genf auftragsgemäss statistisch ermittelt worden ist, dass viele alte Menschen ihre letzten Lebensjahre bei guten wirtschaftlichen Verhältnissen geniessen (sie haben viel gearbeitet, viel gespart und zahlen viel Steuern), sind nun Diskussionen in Gang gekommen, ob Ermässigungen aus Bejahrtheitsgründen überhaupt noch nötig seien. Allenfalls würde das erwähnte Ausweisproblem so elegant gelöst.
Die Sache mit den als wohlhabend entlarvten Alten wird sogar noch weitergetrieben – vielleicht hatte die Genfer Studie ja auch die Aufgabe, mit der Kunst statistischer Manipulationen uns Alte stärker zur Kasse zu bitten. So hat der Bund (Bundesamt für Sozialversicherungen BSV), der wie andere Regierungen (vor allem Grossbritannien, USA) zunehmend von Manipulatoren (Spin doctors = Verdrehern) beeinflusst wird, gleich nach Bekanntwerden der Genfer Studie die Idee lanciert, reiche Rentner sollten Junge unterstützen. Was für ein Zufall! Die Genfer Studie war vom BSV bestellt worden.
Wahrscheinlich will das erwähnte Bundesamt der AHV an den Kragen (die 12. Revision steht bevor), in die die Alten während Jahrzehnten einbezahlt haben, und gleich auch eine Art Alterssteuer einführen, damit jene höchstpersönlich die AHV retten, für die sie eigentlich bestimmt ist und die sie aufgebaut haben. Die Genfer Studien-Konstukteure wollen nämlich herausgefunden haben, dass jedes 5. Rentnerpaar über ein Bruttovermögen von über 1 Million CHF verfügt … und ich alter Esel habe immer gemeint, es komme auf das Nettovermögen an: Wer ein 2-Millionen-Haus besitzt, das mit 1,8 Mio. CHF Schulden belastet ist, hätte nach diesem statistischen Trick nicht 200 000 CHF Nettovermögen (das unter den Teppich gekehrt wird), sondern 2 Mio. CHF Bruttovermögen, er ist also ein „Brutto-Millionär“. So schafft die Statistik unendlichen Wohlstand! Ein einfacher Taschenspielertrick, auf den der Medienmainstream hereingefallen ist. Und so gelten denn nur noch 6 Prozent der Schweizer Rentner als arm.
Bereits weiter oben habe ich festgestellt, dass alle Menschen alt werden, falls sie nicht bereits in der Jugendphase hinweg sterben. An die jüngeren unter den Lebenden erginge bei ausgebauten Raubzügen auf die Alten die Aufforderung, spätestens im mittleren Alter dafür besorgt zu sein, dass ihnen nicht das Missgeschick passiert, im Alter ein gewisses Vermögen angespart zu haben und zur „Generation Gold“ gezählt zu werden, weil man ihnen sonst das Ersparte aus Solidaritätsgründen abzwacken wird. Schon Junge sollten sich hüten, sich anzustrengen, gar beruflich Karriere zu machen und sich gar ein Sparbüchlein zuzulegen. Die Rolle als „Working Poor“ liegt gerade noch drin. Also Vorsicht! Das Herumhängen und ein massloses Schuldenmachen nach US-Vorbild sind intelligentere Verhaltensweisen. Bei der Pensionierung steht man am Besten mittellos da. So kann das bekannte Schweizer Dreisäulensystem (private Vorsorge, Pensionskasse, AHV) endlich zum Einsturz gebracht werden, und dann fliesst das Geld am Ende der Lebenskarriere in der entgegengesetzten Richtung, und man wird zum Empfänger statt zum Zahler. So könnte das Armutsrisiko, das ab 80 wieder zunimmt, sogar vorverlegt werden.
Gewusst wie!
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