BLOG vom: 06.06.2008
Liebegg bis Leutwil: Das gerissene Seil der Hochzeitsglocke
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Zur Anlage des Schlosses Liebegg gehört ein markantes, kühn geschwungenes Tortürmchen mit Zifferblatt und kühn geschweiftem rotem Dach über einem Eingang zum Innenhofgeviert. In diesem Türmchen befinden sich eine alte mechanische Uhr mit Zahnrädern sowie Pendel und ganz oben eine einsame Glocke, die mit einem Zugseil in Bewegung versetzt werden kann. Magnus Würth, der Präsident des Vereins Schloss Liebegg, zeigte mir am 28.05.2008 im Rahmen einer gemeinsamen Wanderung zwischen Liebegg – Trostburg – Dürrenäsch – Wandfluh und Dorf Leutwil die mittelalterliche Schlossanlage von innen. Vom umfangreichen, stil- und geschmackvoll restaurierten und teilweise mit Möbeln aus der Zeit ausstaffierten Innenraumangebot, das für Tagungen, Kongresse usf. gemietet werden kann, war ich überrascht. Auch Hochzeiten finden dort beinahe serienmässig statt, eingedenk der verkürzten Ehedauer mit zunehmender Kadenz, welche die Schlossfrequenz belebt. Wie in der Wirtschaft finden Fusionierungen und Auslagerungen sowie Rückzüge aufs Kerngeschäft auch nach partnerschaftlichen Neugründungen immer schneller statt.
Da es mir auf Wanderungen immer wieder passiert, dass ausgerechnet ich in Dörfern mit Glockengeläute empfangen werde, wollte sich auch der Schlossherr Magnus Würth nicht lumpen lassen. Er kramte einen reich bestückten Schlüsselbund aus der Hosentasche, wählte das passende Exemplar für die Holztür zum erwähnten Türmchentor aus, ein Schlüssel mit Ring und Bart. Er steckte ihn ins Schloss; doch das Schloss bot Widerstand. Erst als er den Schlüssel um die Hälfte zurückzog, liess sich in der Führung drehen und die Tür öffnen. Magnus, eine kraftvolle, zupackende, gross gewachsene Gestalt, welcher der Schalk ins Gesicht gezeichnet ist, zog kräftig am Glockenseil, die denn auch kräftig zu läuten anfing, währenddem Magnus ein Schimpfwort entfuhr: Er hatte fast das ganze Seil in der Hand. Es war weit oben entzwei gerissen. Doch sogleich zeigte er sich dankbar: Besser das Missgeschick geschah jetzt statt bei einer der vielen kommenden Hochzeiten auf dem Schloss, wobei ja jeweils die Glocken besonders süss zu erklingen haben. Da Magnus und Vera Würth sowie Eva und ich Ehejahre, die am besten in Jahrzehnten zu zählen sind, hinter uns wissen und gefestigt sind, war das frühzeitige Ausklingen der Glocke weniger tragisch und frei von Symbolik. Dann rettete Magnus noch schnell eine Bachstelze, die sich in der Laube des Schlosses verflogen hatte.
Unsere anschliessende Wanderung führte vorerst zur Trostburg (in Teufenthal) und hinauf zum Siebenzwingstein (Wanderwegweiser-Schreibweise: Siben Zwingstein) oben im Liebeggerwald; den Weg dorthin habe ich im Blog vom 25.05.2008 ausführlich beschrieben. Bei der Trostburg war eine Kindergartenklasse aus dem Oberwynental beim Znüni. Auf den Mützen zweier Knaben, die Magnus sofort als Zwillinge identifizierte (er ist selber solch ein rares Exemplar) stand „Schlossgeischt“, zur Umgebung passend. Die Kinder begaben sich dann zu den Sandsteinhöhlen bei der Liebegg.
Richtung Dürrenäsch
Wir aber folgten dem gelben Wegweiser „Dürrenäsch 1 Std. 5 Min.“ durch den Wald nach Osten, oberhalb der Alten Dürrenäschstrasse, an der die alte Stumpenfabrik Eichenberger kürzlich selber Feuer gefangen hat. Die Würths hatten Pandi mitgenommen, ein friedfertiger Brightbud-Parson Russell Terrier, der interessiert zwischen den langen Augenbrauen hervorschaute und den Auslauf genoss. Der Wald, in dem der Schlangenknöterich (Polygonum bistorta L.) blühte, war an jenem tropischen Tag angenehm kühl und ein guter Filter für den Saharastaub, der den Weitblick einschränkte. Von einem Hochsitz auf einem Scania-Lastwagen mit kranartigem Greifer aus lud der Chauffeur lange, elastische Buchenstämme auf.
Wir erwiesen dem Siebenzwingstein die Ehre, verliessen den Wald nach diesem kleinen Abstecher und waren sogleich im Landwirtschaftsgebiet Bampf (630 m ü. M.), wo die gemeinsame Gemeindegrenze Teufenthal und Dürrenäsch verläuft, und passierten zuerst ein grosses Erbsenfeld mit einem Gewebe aus blauen Schnüren in der Horizontale. Auf dem asphaltierten Strässchen (Höchweidstrasse) trafen wir im Schatten einer Linde den temperamentvollen Bauern Kurt Reubi-Maibach, der auf der Dürrenäscher Seite wohnt, verschiedene kleinere Höfe gekauft hat und nun zusammen mit seiner Familie etwa 40 Hektaren Land an bester Aussichtslage bewirtschaftet. Innerhalb etwa einer Viertelstunde bewältigten wir das gesamte Elend der schweizerischen Landwirtschaftspolitik mit dem zu geringen Milchpreis, währenddem ein riesiger Fendt-Traktor mit Schweizer Flagge und kubischem Behälter Jauche abführte. Besonders bedauerten wir, dass das Prinzip der Selbstversorgung aufgegeben worden ist, kleinere und mittlere Höfe wegrationalisiert werden, wie das auch auf der Bampf geschah, und die Bauern ihre berechtigten Anliegen eher schwach vertreten. Ich schlug vor, diesen Kurt Reubi ins Bauernverbandspräsidium zu wählen, damit endlich einer dem politisch aktiv geförderten Bauernsterben Einhalt gebietet und sich einer dafür einsetzt, dass sich das statistische Grundlagenmaterial über die Landwirtschaft den tatsächlichen Verhältnissen verstärkt annähert, damit weitere Fehlentscheide unterbleiben.
Nach diesem Kapitel „Landwirtschaft heute“ erreichten wir bald das „Höi-Bänkli“, „gespendet im Sommer 1997 von einer Dürrenäscherin in dankbarer Erinnerung an die glückliche Jugendzeit in diesem schönen Dorf“, wie es auf einer Tafel mit farbiger Gravur heisst. Vera hiess uns Platz nehmen, und Magnus kramte dreiviertelfette Parmino-Pronto-Käsestücklein aus Rohmilch von Kühen, die kein Silofutter essen mussten, aus Alpnach-Dorf hervor, ebenso eine Flasche Weisswein „Mont-sur-Rolle“. Pandi genoss sein Trockenfutter, das er mit Wasser hinunterspülte.
So erfrischten wir uns alle auf unsere Weise, betrachteten das Dorf Dürrenäsch an der Wasserscheide zwischen dem See- und Wynental mit seinen wachsenden Anlagen zur Sagex-Produktion (Isolier- und Kunststofffabrik Sager AG) und der Lastwagenflotte der Bertschi AG, einem grossen Transportunternehmen. Diese gepflegte, wohlhabende Gemeinde gehörte einst zur Herrschaft Trostburg in Teufenthal. Die Inhaber waren die dortigen kyburgisch-habsburgischen Dienstleute: die Herren von Rynach und seit 1486 jene von Hallwyl, bevor die Berner auftauchten.
Von der Oberen Höhi (Höhe) her mündeten wir ins Dorf ein und folgten, im Unterdorf angekommen, dem Wanderwegweiser „Wampfle“ (Wandfluh): 1 Stunde. Hier könnte man auch den Regionalbus Lenzburg besteigen, der einerseits nach Teufenthal, anderseits ins Dorf Leutwil und weiter nach Boniswil, Seengen, Seon und Lenzburg fährt.
Zur Wampfle
Da unser Wanderbedürfnis noch nicht gestillt war, zogen wir weiter, vorerst auf dem Bäniweg, vorbei am hohen Haus mit Krüppelwalmdach und schwarz-rot schräggestreiften Fensterläden, in dem der Bauerndichter Friedrich Walti seine Romane und anregenden Gedichte (wie „Jenseits der Strasse“ oder „De Guschti im Grand-Hotel“) schreibt. Es handelt sich um die ehemalige Untervogtei von 1591, neben dem ein Bohlenständer-Speicher aus dem 18. Jahrhundert steht. 1961 habe ich Waltis Lyrikbändchen „Uf em Stallbänkli“ im „Wynentaler-Blatt“ ausführlich rezensiert; ich bin seither stolzer Besitzer eines mir gewidmeten, persönlich signierten Exemplars „mit Lebensweisheiten, die zum Nachsinnen anregen“, wie es einleitend heisst. Sein Sohn betreibt eine naturnahe Baumschule. Auch an anderen perfekt restaurierten Bauernhöfen führt der Weg im „Obersädel“ vorbei. Beim Aemetspiel-Brunnen kühlten wir uns etwas ab, und kurz darauf begegneten uns nochmals Zwillinge, diesmal Mädchen im Kindergartenalter, die dort wohnen.
Im Wald, 15 Wanderminuten vor der Wandfluh (705 m), haben romantisch veranlagte Naturliebhaber aus Tannenästen eine kleine Grotte gebaut, die diesmal nicht mit religiösen Symbolen, sondern erfreulicherweise mit herzförmigem Holz und Farbbildern mit Fantasiepflanzen und Waldtieren geschmückt ist: Hasen, Rehe, eine ganze Wildschweinfamilie. Weniger erbauend war eine Windwurffläche mit Hochsitz und gepflanzten Fichten, die mit Draht vor dem Wildverbiss geschützt sind, obschon hier eine Naturverjüngung problemlos möglich wäre. Da kam etwas viel Natur-Unverständnis zusammen.
Die Wampfle liegt zwar auf der Wynentaler Seite (oberhalb von Zetzwil), gehört aber noch zur Gemeinde Leutwil. Und wir hätten gern bei Rolf Ludwig im Restaurant Wandfluh getafelt – Mittag war längst vorbei. Doch das Haus feierte an diesem Mittwoch seinen Wirtesonntag.
Wir verschoben uns deshalb ins nahe 700-Seelen-Dorf Leutwil (20 Minuten dauert das auf dem Leutwilerweg) mit Blick über den Hallwilersee, und unter einem grossen Rosskastanienbaum erstanden wir im Restaurant Linde im Vorstadium des Austrocknens einige Stangen Bier, Salate, Pommes Frites und Pouletflügeli. Das Angebot war zu diesem Zeitpunkt beschränkt, der Service perfekt. Nachdem sich Eva nach der Herkunft der Pouletflügel erkundigt hatte, kam es mit der naturverbundenen Béatrice Gerber zu lebhaften, weiterführenden Gesprächen über die Zusammenhänge zwischen Essen und Wohlbefinden. Und die Männerriege von Dürrenäsch verpflegte sich hier nach getaner turnerischer Arbeit genüsslich mit Nussgipfeln.
Offensichtlich gibt es verschiedene Methoden, um zu Durst und Hunger zu kommen. Pandi bettelte um eine Extraportion Trockenfutter und lappte Wasser. So schlagen sich zwei- und vierbeinige Wanderer auch bei Tropentemperaturen eben durch. Wir hatten einen schönen Tag und brauchen nicht zu klagen.
Ein Glockenläuten haben wir in Leutwil nicht gehört, obschon wir uns ganz in Kirchennähe verpflegten. Schliesslich hat der Gemeindename nichts mit dem Läuten zu tun, ansonsten es ja Läutwil heissen müsste. Der alemannische Dorfname bedeutet „Hofsiedlung der Liuto“. Ich nehme an, dass das ein Personenname war, denn was sich hinter dem italienischen Begriff Liuto (= Laute“) verbirgt, ist zweifellos nicht das Markenzeichen des stillen Dörfchens auf dem Homberg-Rücken.
Genaueres habe ich nicht herausgefunden. Denn manchmal reissen selbst bei einem Erklärungsversuch alle Stricke.
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