Textatelier
BLOG vom: 07.06.2008

Euro 08 und Unten-Haltung: Patriotismus und Nationalismus

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
So viel Vaterlandsliebe wie im Sport existiert sonst nicht mehr. Da kann die EU über ihren Lissabonner Vertrag die Nationalstaaten auflösen und in der EU-Einheitssuppe aufgehen lassen (Blog vom 04.06.2009: Vertrag von Lissabon: „Die EU schafft souveräne Staaten ab“) – und kein Knochen regt sich auf. Aber wenn es darum geht, ob ein paar Gastarbeiter mit lockeren Fussgelenken in diesem oder jenem Trikot in Nationalfarben dieses oder jenes Staats den Ball öfters als eine andere Gruppe ins Netz tschutten, dann müssen die Polizeidirektoren Ausnahmegenehmigungen erfinden, damit man die Nationalflagge ans Auto stecken kann. Alles ist beflaggt, verflaggt sozusagen. Der exzessive Fähnchenkult, den es in den USA seit je zeit- und flächendeckend gab, hat uns nun auch mit voller Wucht erreicht.
 
Ich habe ja nichts gegen den Patriotismus: Eine Liebe zum Heimatland, eine vaterländische Gesinnung ist wohl jedem Menschen mehr oder weniger in die Wiege gelegt worden, auch wenn diese noch nicht in den Nationalfarben bemalt war. Das ist schön, hat mit Wurzeln, mit Heimat zu tun – man könnte da in romantische Schwärmereien geraten. Für mein Empfinden ehrt es jedermann, der zu seinem Herkunftsland steht; es geht ums Ganze, nicht um Details. Manchmal wächst sich dieses patriotische Gefühl, dem US-Vorbild folgend, zu einem übersteigerten Nationalismus aus, was dann in Richtung Engstirnigkeit tendiert. Der Übergang zwischen Patriotismus und Nationalismus ist fliessend. Vielleicht sind Fans aus einem bestimmten Land, die anderen Fans aus einem anderen (im Sportwettkampf gegnerischen) Land, nur weil jene eben eine andere Nationalität haben und für einen anderen Fussballclub schreien, eigentlich in diesem Sektor anzusiedeln. Eine weitere Steigerung war der nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland aufgekommene Nationalsozialismus, eine extreme politische und rassistische Bewegung, die antidemokratisch ist, nach dem Führerprinzip funktioniert und eine totale Herrschaft anstrebt. Aktuell geschieht das über die vorgängige Eroberung von rohstoff- bzw. erdölreichen Zonen und der Beeinflussung der Finanz- und Rohstoffmärkte, der Lebensmittel und der Industrieproduktion. Der neue Begriff lautet jetzt Neoliberalismus. Hier ist der Patriotismus im Sinne der Selbstentscheidung und Selbstvorsorge verpönt und unerlaubt. Er hat sein letztes Refugium im Sport, obschon dieser auch zum Kommerz gehört, weil er die Geschäfte belebt.
 
Selbstverständlich sind die heutigen Zustände das Resultat der Massensuggestion, einer permanenten Beeinflussung der Menschen über alle Kanäle. Dementsprechend ist die Stimmung im Hinblick auf diese Fussball-EM 08 (EURO 2008) medial und werbetechnisch seit Monaten systematisch mit allen Mitteln aufgeheizt worden, so dass jedermann den Eindruck erhalten musste, es gebe nichts Wesentlicheres als den Fussball. Das Volk hat sein neues Opium. Das Denken wird eingeengt, auf ein einzelnes Ereignis aus dem Unterhaltungssektor fokussiert. Dazu hat mir dieser Tage eine Textatelier.com-Leserin, Katrin Lorenz aus Deutschland, eine neue Definition für das Wort Unterhaltung zugeschickt. Es gehe darum, das Volk unten zu halten, wie bei den römischen Gladiatorenspielen. Es müsste also Untenhaltung heissen.
 
Wenn ich einerseits erleben muss, was für nationalistische Gefühle offensichtlich in den Menschen schlummern und anderseits die Globalisierung mit der Vereinheitlichung von Gemeinden, Regionen, Ländern und Kontinenten, die Fusionen von Wirtschaftsunternehmen zu monotonen Grosseinheiten, die Nivellierung kultureller Unterschiede einschliesslich der Sprachenvielfalt hinunter zum US-Kommerz usf. beobachte, dann verstehe ich diese neoliberale Welt nicht mehr. Ich kann mir diesen Widerspruch nur daraus erklären, dass die Untenhaltung der Menschen tatsächlich funktioniert hat.
 
Die Fussball-Europameisterschaft 2008 beginnt heute, am 07.06.: Schwenken Sie das Fähnchen Ihrer Nationalität! Bleiben Sie aber schön ruhig, wenn man ihre Nation abschafft und in der trostlosen, zentral verwalteten Einheitswelt rückstandsfrei aufgehen lässt. Damit können Sie beweisen, dass Sie ein nützliches, angepasstes Mitglied dieses funktionstüchtigen Systems sind.
 
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