Textatelier
BLOG vom: 24.06.2008

Franche-Comté 2: Dimensionen des stilreinen Mittagessens

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Manchmal kennt man seine Nachbarn schlecht. Ich stelle das aus Schweizer Sicht mit Bezug auf die Franche-Comté (die ehemalige Freigrafschaft Burgund) fest, eine der 26 Regionen von Frankreich, die immerhin eine rund 230 km lange gemeinsame Landesgrenze mit der Schweiz hat (fast die gesamte Westgrenze). Die Erklärung für den Mangel an Wahrnehmung liegt meines Erachtens darin, dass wir selbst das einsame Schweizer Gebiet westlich von Neuenburger- und Bielersee mit den Juraketten eher vernachlässigen – zu Unrecht. Denn es ist voller Charme, Melancholie und Überraschungen. Die grossen Verkehrswege führen nicht dort vorbei, auch wenn das Strassennetz bestens ausgebaut ist. Das kann ja auch eine Erhaltung der relativen Unversehrtheit bedeuten, weshalb es z. B. im Hochtal von Les Ponts-de-Martel NE noch eines der letzten grossen Hochmoore der Schweiz gibt.
 
Doch diesmal wollten wir tatsächlich über die Landesgrenze hinaus schauen: Zur Franche-Comté gehören die 4 Departemente Doubs, Jura, Haute-Saône und das Territoire de Belfort; Verwaltungssitz ist Besançon. Seit 1970 hat sich die Einwohnerzahl der Region um rund 10 % auf 1,1 Millionen Francs-Comtois (wie man die Bewohner nennt) erhöht. Früher wanderten viele Schweizer dort ein, und umgekehrt fanden viele Comtois Arbeit und Verdienst in den Uhrenbetrieben des Neuenburger und Waadtländer Juras wie in le Locle, La Chaux-de-Fonds, Fleurier und Sainte-Croix.
 
In der Region Franche-Comté ist dann ebenfalls eine Uhrenindustrie entstanden, die gegebene Arbeit für den langen und harten Winter, eine Hingabe an die Präzision. Geografisch hat die Region Anteil am mittleren und nördlichen französischen Jura und dessen Randgebiet. Dieses erstreckt sich im äussersten Norden von den südlichen Vogesen bis zum Elsässer Belchen und der Burgundischen Pforte, im Nordwesten und Westen ins obere Saône-Becken mit dem von Brüchen durchsetzten Buntsandsteinplateau der Vogesen und den Jurakalkplateaus des Départements Haute-Saône sowie Teilen der Bresse. Hier gibt es viele ausgedehnte Wälder und eine dominante Viehwirtschaft.
 
Wie im vorangegangenen Blog beschrieben, hat uns der Wunsch nach einem Besuch der Kapelle von Ronchamp (Haute-Saône) in dieses Gebiet geführt, in dem der kuriose Doubs, der manchmal im höhlenreichen Kalk des Untergrunds verschwindet und dann wieder auftaucht, eine wichtige Rolle spielt und Bilder wie aus Romanen von Marcel Aymé oder Bernard Clavel erzeugt. In den verstreuten Dörfern tragen die Kirchtürme meist jene merkwürdigen Hauben, die man „Clochers comtois“ nennt; sie erinnern mich an alte Militärhelme mit leicht nach aussen abgebogenem unterem Rand; am Kulminationspunkt ist eine einfallsreich gestaltete kleine Spitze. Etwa 700 Glockentürme dieser Art soll es in der Region geben; manchmal sind sie mit farbigen Ziegeln bedeckt. Selbst die Vorgängerinnen der Le-Corbusier-Kapelle waren damit bestückt gewesen. Ähnliche Konstruktionen kennen wir auch in der Schweiz, so auch ganz in der Nähe meines Wohnorts, in benachbarten Rupperswil AG.
 
Kulinarische Annäherung
Für mich ist ein regionstypisches Essen immer eine hervorragende und sehr beliebte Möglichkeit, mit einer Region einen innigeren Kontakt aufzunehmen. Besonders wichtig ist das in Frankreich, wo das Essen in ausgeprägtem Masse ein Ausdruck der Kultur ist; das Essen und Trinken ist ein bedeutendes gesellschaftliches Thema, was sich in der Praxis niederschlägt. Deshalb hatte ich bei der Reisevorbereitung den Michelin-Führer „France 2008“ gekauft, und zudem liess ich mich im touristischen Informationsbüro von Ronchamp eingehend informieren; eine hübsche „Comtoise“ hatte sich dort alle Mühe gegeben, mir behilflich zu sein. Auf meine Frage nach gastronomisch hochstehenden Restaurants in der näheren Umgebung nannte sie „Le Rhien“ in Ronchamp und „Le Pré Serroux“ im etwa 5 km entfernten, landwirtschaftlich geprägten Nachbardorf Champagney (Département Doubs); beide seien etwa gleichwertig. Wir entschieden uns für „Le Pré Serroux“, weil es auf dem Prospekt genau so aussah wie wir uns ein französisches Restaurant mit inneren statt übertrieben betonten äusseren Werten vorstellten: Einfacher, ländlicher Baustil aus 2 abgewinkelten Gebäuden mit Giebeldach und üppigem Blumenschmuck vor dem Haus und an den Fenstern.
 
In Wirklichkeit machte das Gebäude einen noch besseren Eindruck als auf dem leicht vergilbt, blass wirkenden Prospekt. Das Speiserestaurant im Stil der Belle Époque gefiel uns hervorragend, doch zogen wir es vor, auf der ebenerdigen Sommerterrasse unter einem grossen beigefarbenen Sonnenschirm zu tafeln. Wir entschieden uns fürs regionale Menu, das für 30 Euro angeboten wurde und liessen uns vom offensichtlich weinkundigen Kellner den Gewürztraminer von Klein-Brand, Vendages Tardives, aus Soulzmatt (Haut-Rhin) empfehlen, eine Spätlese (40 Euro), die wir am recht warmen Sommertag (18. Juni 2008) eisgekühlt über die Runden brachten.
 
Le Menu
Das Menu bestand nach bewährtem französischem Muster aus 4 Gängen: Vorspeise, Hauptgericht, Käse und Dessert. Nach einer frischen Spargelcrèmesuppe als Amuse-gueule, die nicht als Gang zählte, wurde ein Cocktail aus Écrevisses (Edel- oder Flusskrebsen) mit einer rahmigen Sauce auf einem papierdünnen, wie zerknüllt aussehenden Knuspergebäck aufgetragen, üppig, gut gewürzt, Resultat einer inspirativen Küche. Der süssliche Wein adelte diese Vorspeise. Ein dekorativer roter Krebs auf dem Tellerrand erinnerte mich daran, dass ich im Buch „Le Corbusier“ von Jean-Louis Cohen zum soeben besuchten Ronchamp-Bauwerk dies gelesen hatte: „Der Grundgedanke (bei der Planung der Kapelle Notre-Dame-du-Haut) ging vom Fund eines leeren Krabbenpanzers am Strand von Long Island aus (…). Der Panzer gab dem auf 4 dicken Betonmauern ruhenden Dach der Kapelle seine Form.“ Vielleicht hatte der im Stillen wirkende Koch das ebenfalls zur Kenntnis genommen.
 
In diesem vom Meer abgewandten Teil von Frankreich sind die Butter-, Fett- und Ölküche vertreten. Wegen der Krustentiere war ich im Zweifel darüber, ob diese Küche wirklich regionstypisch war. Allerdings steht im Buch „In Frankreich schlemmen“ von Waverley Root: „Eine (…) Spezialität der Franche-Comté sind Krebsschwänze, die in Käse gekocht werden: Gratin de queues d’éecrevisses, eine delikate Schöpfung der Stadt Nantua.“ Manchmal führt die Logik zu Fehleinschätzungen, was die Speisen anbelangt, und so empfanden wir das alles als opulentes französisches Mittagsmahl, das den Charakter der grossen kulinarischen Nation spiegelt, und genossen auch die weiteren Gänge sehr, erfrischten den Mund zwischendurch mit einem Schluck stillem, neutralisierendem Mineralwasser von der „Source Badoit“.
 
Die Entenbrust mit den geschmacksfördernden Fetträndern als Hauptspeise lockte in einem satten Rot und brillierte durch ihr natürliches Aroma – wohl ein Gruss aus der nahen Bresse, wo nicht nur Hühner mit blauen Füssen, Kehllappen und Kämmen pfannenfertig gemacht werden. Sie war von einer kräftigen braunen Sauce und verschiedenem Gemüse, Pilzen und einem vereinsamten Kartoffelcroquette flankiert.
 
Bezug zum Lokalen und zu ganz Frankreich hatte auch der Käsewagen, von dessen Inhalt die blonde, ein bisschen introvertiert wirkende, aber vielleicht gerade dadurch angenehme Serviererin mit der weissen Blouse üppige Stücke abschnitt. Vom Chèvre (Ziegenkäse) bis zu einem gruyère-ähnlichen Käse aus der Region, dem „Conté“, und dem Camembert du Calvados aus der Normandie war Wesentliches vorhanden. In den 1930er-Jahren waren praktisch alle Käsereien der Franche-Comté in der Hand von Schweizern gewesen, und das spürt deutlich, wer den einheimischen Käse kostet. Und wieder entfaltete der Gewürztraminer seine besten Seiten; er schien süsser als sonst zu sein, der Käse aber besonders herb, ein wundervoller Kontrast.
 
Beinahe erschrocken bin ich, als dann noch ein üppig beladener Dessertwagen herbeigestossen wurde: Heidelbeerkuchen, ein überbackener Eischnee-Berg (formal mit mehr Bezug zu den Hochalpen als zum volumenmässig bescheideneren Jura) mit Schlagrahm, ein Cake aus geschmolzener Schokolade, Pflümlisalat usf. Fruchtsalat und Eischnee wurden in separaten Tellern serviert. So etwas habe er noch nie erlebt, sagte Urs, ein üblicherweise spartanisch lebender Mensch, der gastronomischen Genüssen zur gegebenen Stunde aber nicht abhold ist.
 
So hatten wir, von der Ronchamp-Kapelle in die Niederungen des Doubs-Zuflusses Ognon abgestiegen, tatsächlich wie Gott in Frankreich gelebt und in einem Haus im herkömmlichen Stil der Franche-Comté eine ideale Zuflucht für eine verlängerte Mittagspause gefunden. Urs war als ehemaliger Militärfahrer anschliessend immerhin noch fit genug, um uns fast 150 km durch die Region Doubs nach Pontarlier zu chauffieren (Bericht folgt). Dadurch war ich in der Lage, die vorbeiziehende Flusslandschaft mit ihren Hügeln, Felsen und Dörfern unbeschwert und bei vollständiger Entspannung so zu geniessen, wie vorher die Kapelle Ronchamp und das Essen in Champagney. Am richtigen Einspuren liegt alles.
 
Hinweis auf das vorangegangene Blog über die Franche-Comté
23.06.2008: Franche-Comté 1: Die Wallfahrt zum Licht von Ronchamp F
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