BLOG vom: 22.07.2008
Meiental UR: Die Wanderer sind beliebter als die Abwanderer
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Das Meiental beginnt in Wassen UR, falls ein Tal seinen Anfang ganz unten hat. Es ist schliesslich üblich, ganz unten anzufangen. Auch die 1946 eröffnete Sustenpassstrasse nimmt dort ihren Anfang, für die Berner allerdings eher in Meiringen BE. Die Sustenpassstrasse führt als Hauptschlagader durchs Meiental und nach der Passhöhe hinunter ins Haslital und damit in den Kanton Bern.
Dieses Tagebuchblatt beschränkt sich aufs Meiental, eine einigermassen überblickbare Thematik. Zu seinen spärlichen Lebensadern gehört neben der alten und neuen Passstrasse Meienreuss (Mayen-Reuss), die im Gebiet des Sustenhorns und der Spannörter entspringt und das Wasser von den beidseitigen Berghängen sammelt. Sie ist ein wilder, erfreulicherweise noch weitgehend ungezähmter Bergbach, kaum verbaut, eine wohltuend urtümliche Sache also, welche die Kraft der Elemente spürbar macht. Das mit Luft durchmischte weisse, an Alpenmilch erinnernde Wasser windet sich um grosse Felsbrocken, schäumt und rauscht, und je nach den Einflüssen von Steinschlägen, Lawinen und dem Wasser selber verändert sich der Lauf im höhenbegrenzten Rahmen. Die Schluchten bei Färnigen, beim Dörfli (Meien) und ganz unten beim Dorf Wassen, und bei der Einmündung in die richtige Reuss lehren, was eine geduldige, zielstrebige Arbeit während unendlich langer Zeit alles zu schaffen vermag, selbst im kristallinen Untergrund, im Granit und im Gneis. Früher sollen sich wagemutige Fischer in diese Schluchten abgeseilt haben, um dort gute Beute, bestehend aus harmlosen, friedfertigen Tieren, zu machen.
Das Tal ist unten stärker, oben, wo die Waldgrenze verläuft, kaum noch bewaldet. Die Vegetationszeit währt nur kurz – und von was soll man hier überhaupt leben, wenn nicht vom Fischen und Jagen? Die Jagd spielt hier noch heute eine grosse Rolle, neben der Schafhaltung. Der grösste Teil des Walds ist Schutzwald und also nicht zu bewirtschaften, auch der Steillagen wegen. Seit der Inbetriebnahme der Gotthardbahn können die Bauern nicht einmal mehr Heu für Saumtiere nach Wassen liefern.
Inzwischen, seit des Baus der neuen Sustenstrasse während des 2. Erdkriegs, ist noch der Tourismus als neuer Erwerbszweig hinzugekommen. Dass es in dieser wild-romantischen Gegend Wander- und Klettermöglichkeiten in Hülle und Fülle gibt, versteht sich vollauf. Der Erstfelder Gneis mit seinen betonten Strukturen, Leisten und Kanten ist für Kletterer das ideale Biotop. Daran kann man sich festhalten. Es soll in der Gegend noch einige Speckstein-Vorkommen geben; man sagt dem im Meiental Giltstein. Die gut bearbeitbare Masse aus Serpentin, Talk und Asbest wird wegen der guten Wärmespeichereigenschaften für Öfen und Pfannen verwendet.
Man könnte die ganze Strecke zwischen Sustenpasshöhe und Wassen (oder umgekehrt) auf einem gut beschrifteten Wanderweg abwärts in etwa 4 Stunden bewältigen. Der Pfad führt oberhalb von Wassen an der Meienschanze vorbei, die von den wehrhaften Urnern im 2. Villmergerkrieg (1712) unter der Leitung des Kriegsbaumeisters Pietro Moretti aus dem Maggiatal gebaut wurde – zum Schutz vor den Bernern. Die „Meienschanz“ aber wurde von den Franzosen teilweise zerstört, so dass nur noch wuchtige Mauertrümmer hinterblieben sind.
Die neue Strassenanlage war unmittelbar oberhalb von Wassen ins unendlich schwierige, stotzige Gelände eingefügt – sie führt über Brücken und durch Tunnels. Man spürt, wie unendlich delikat es gewesen sein muss, in diesem felsigen Bereich und mit Rücksichtnahme auf die Gotthardbahn eine komfortable Linienführung zu finden. Das wurde hervorragend gelöst – mitten in den Kriegswirren zwischen 1939 und 1945 notabene.
Für mich als Tourist war es zwingend, nach dem Eintauchen ins Meiental im Restaurant Alpenglühn in Meien einzukehren, um den Fremdenverkehrsertrag zu erhöhen. Ich liess mich gleich vom erstbesten Angebot verführen: „Heidelbeeren mit Schlagrahm Fr. 7.50.“ Die Beeren stammten aus frischer, heuriger Ernte – es war am 16.07.2008. Ich hätte nie gedacht, dass diese kleinen Saft- und Kraftkugeln schon reif sein könnten. Die Wirtin trug ein ganzes Schälchen voll auf und hatte 4 Rahmhäubchen darauf gesetzt, die zu den Schneebergen einwandfrei passten. Sie stellte einen Zuckerstreuer dazu, damit ich selber noch etwas schneien konnte, und ich wühlte mich lustvoll in diese dunkelblaue Versammlung von kleinen und entsprechend aromatischen Beeren hinein, die richtig nach Heidelbeeren schmeckten – wonach denn sonst …! Aber dass sie es so intensiv taten, war schon ein Erlebnis. Und so konnte ich die luftgetrockneten Urnerli vom Fleischhandel Imhof in Erstfeld, die ich im Volg Wassen gekauft hatte, unversehrt heimnehmen; diese würzigen Würstchen aus magerem Fleisch waren ein Fest – post festum.
Ich sass und ass vor dem Restaurant, unmittelbar an der Sustenpassstrasse, die hier bei mässiger Steigung in geschwungenem Verlauf Höherem zustrebt. Ich fragte die Wirtin, wo denn eigentlich die alte Sustenpassstrasse geblieben sei. Im Schweizerischen Kunstführer „Wassen und seine Kirche“ von Thomas Brunner hatte ich gelesen, dass jene Strasse, mit deren Bau 1811 begonnen wurde, vom Sustenpass her durch die Weiler Färnigen und Meien und nach 1818 weiter hinunter bis Husen führte, zu einem kleinen Weiler mit einer dem heilig gesprochenen Rochus gewidmeten Kapelle und einigen Häusern; in einem davon kann man jetzt Alpkäse kaufen. Doch das letzte Teilstück, hinunter nach Wassen, fehlte; bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts musste man dort unten mit einem Saumpfad vorliebnehmen.
Die Wirtin zeigte auf ein leicht ansteigendes Naturweglein neben dem Gasthaus und sagte: „Gleich hier.“ – „Ist das alles, erkundigte ich mich?“ Ja, so war es. Der Weg überquert wenige Meter unterhalb des Hauses „Alpenglühn“ die neue Strasse und taucht dann, an schön von Pflanzenbouquets begleiteten Natursteinmauern vorbei, zur Meienreuss ab, ein lebendiges Band in Weiss und Blau, überbrückt von einem hölzernen Steg für Fussgänger.
Ich folgte dem Weg hinauf zum oberen Meien-Dörfli – denn Meien ist vom Lawinenzug des Schlierbachs in 2 Teile getrennt. Vorerst führte der teilweise asphaltierte und teilweise mit Weissklee, Löwenzahn und verschiedenartigen Gräsern überwachsene und von Brennnesseln begleitete Wege im Unterdorf, wie ich es einmal nennen will, zwischen einigen mit Schindeln bzw. Eternit verkleideten Häusern und einem Stadel mit rostigem Wellblechdach sowie niedrigen Mäuerchen vorbei, wo Enzian und Steinbrech blühten. Das Restaurant „Sustenpass“ mit den Sonnenschirmen und dem Blumenschmuck ums Haus war gerade geschlossen. Gegen das Weilerzentrum verlaufen die alte und die neue Passstrasse gleich nebeneinander. Das Eisengeländer neben der neuen Strasse muss jeweils im Herbst demontiert werden (auf der Berner Seite begrenzen Granitstein-Reihen die Strasse, die den Winter heil überstehen). Und ein teilweise in eine Halbschale verlegtes Wiesenbächlein begleitet den Pfad ins Dörfchen. Offenbar gibt es Pläne für die Wiederherstellung der alten Passstrasse in diesem Bereich; doch unterhält man sich darüber, wie viel der Kanton Uri und wie viel die Gemeinde Wassen daran zu bezahlen haben. Vielleicht findet man ja noch weitere Geldgeber, zumal die Wiederbelebung alter Kulturwege erfreulicherweise wieder sehr en vogue ist.
Gleich oberhalb des „Alpenglühns“, das jetzt nur als Restaurant-Inschrift stattfand, begegnete ich einem sportlichen Mann, Tony Enderli aus Zürich, der aus familiären Gründen meistens die Sommermonate hier oben verbringt, eine belesene Persönlichkeit, die eigentlich alles über das Meiental weiss, ein Glücksfall für mich. Wir unterhielten uns ausgiebig. Zwischen dem Schildplanggenstock und dem Aprigenstock im Norden und dem Fedistock und Schwarz Stock im Süden sowie angesichts der umfangreichen Lawinenverbauungen an der Hasenplangg unter dem Rinistock unterhielten wir uns über das karge Leben, das sich in solch einer manchmal bedrohlich anmutenden Gebirgswelt zwangsläufig einstellt. Ja, 26 Lawinenzüge gehörten zum Meiental, sagte mein Gesprächspartner. Und der Sustenpass sei regelmässig der letzte der zahlreichen Urner Pässe, die im Frühjahr wieder geöffnet würden. Der Grund liegt unter anderem darin, dass die Steinschlaggefahr erheblich ist. Die Tunnels werden im Winter beidseitig mit Holzbrettern verschlossen.
Diese Zustände, die den Auslauf erheblich einschränken, sind der Grund dafür, dass sich das Meiental, das zur Gemeinde Wassen gehört, zunehmend entvölkert; nur noch insgesamt etwa 80 Personen leben in einem der Weiler (Husen, Dörfli/Meien, Eisten, Aderbogen, Fürlaui, Rüti und Färnigen). Es sollen laut dem Urner Geschichtsschreiber „nervige, arbeitsame Leute mit etwas leichtsinnigem Charakter“ sein, und Konrad Escher von der Linth beschrieb sie 1798 als „dick, klein, unförmig, aber intelligenter als man glaubt“. Ich weiss nicht, was daran stimmt; dass aber eine Lebensweise unter härtesten Bedingungen die Menschen formt, versteht sich – gewiss nicht zum Schlechten. Der Dorfladen in Meien Dörfli ist seit langem geschlossen, die Post auch, und seit 2002 wurde durch einen Landratsbeschluss des Kantons Uri selbst die Schule nach einem über 100-jährigen Bestehen dichtgemacht, ein Hauch von Globalisierung. Die Kinder werden nun mit einem Bus nach Wassen oder Göschenen geführt – falls es die Strassenverhältnisse erlauben – und sonst bleibt man eben daheim. Hier wirken also allerhand höhere Gewalten.
Wie das Schicksal so spielt, belegt das architektonisch schön in den Weiler Dörfli eingepasste Schulhaus aus dem Jahr 1988. Offenbar sind darin Wohnungen entstanden. Das Tor zur Kirche St. Margaretha, gleich um die Ecke, mit den Rundbogenfenstern und dem Kupferhelm auf dem Turm war verschlossen, so dass ich guten Gewissens an der frischen Luft bleiben konnte. Auf dem angrenzenden Friedhof war ein mit ladenfrischen Blumen üppig bedecktes Grab die visuelle Attraktion. Rote Sonnenschirme mit Schweizerkreuzen und Coca-Cola-Schriftzug spendeten Schatten, um das Welken der teuren Pflanzen zu verzögern. In der Nähe der Kirche las ich einen Anschlag der 1981 gegründeten „Vereinigung Pro Meien“, die Zuversicht verbreitet: „Die Vereinigung Pro Meien bezweckt die Erhaltung und Förderung des Lebens für die Einwohner des Meientales durch das Schaffen von besseren wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Grundlagen.“ Ich wünsche ihr von Herzen gutes Gelingen.
So fuhr ich, die Gebirgsgruppe Fünffingerstöcke neben den Zinnen der Spannörter vor Augen, gegen die Sustenpasshöhe weiter. Die Schneefelder kamen näher und passten zu meinem weissen Prius. Beim Café Sustenbrüggli wurden Alpenrosen verkauft, die hier in Riesenmengen ihre Farbenpracht zur Schau stellten. Ein saisonaler Geschäftszweig hatte sich aufgetan. Nur das Vieh kann mit dieser botanischen Pracht nichts anfangen, weil die Stängel verholzt und die Blätter ledrig sind und obendrein das giftige Andromedoxin enthalten. Also sind diese alpinen Schönheiten allein für uns Menschen bestimmt …
Vor der Sustenpasshöhe (2224 m beim Tunnel) absolviert die neue Strasse, die zwischen Innertkirchen und Wassen total 45 km lang ist, je 26 Brücken und Tunnels aufweist und 32 Mio. CHF kostete, ihre engsten Serpentinen, die reinste Kletterpartie. Von dieser Hanglage aus wird noch einmal ein schöner Überblick übers Meiental frei, das von hier idyllisch anmutet, doch in Wirklichkeit aber seine Ecken und Kanten hat. Wie es sich für alpine Landschaften gehört.
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