BLOG vom: 27.07.2008
Traumtag in Hastings: Ein Stückchen Ewigkeit erhascht
Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
Der Wetterbericht stimmte: Kein einziges Wölkchen war am Himmel weit und breit. Der Küstenort Hastings empfing uns nach 2-stündiger Bahnfahrt mit wohlig warmem Sonnenschein. Lily und ich setzten uns auf die von den Gezeiten gerundeten und geschliffenen Kiesel am Gestade. Das blaue Himmelszelt überspannte das Meer: Himmel und Meer verflossen am Horizont nahtlos ineinander.
Kinder tummelten und bespritzten sich gegenseitig, aber wagten sich nur wenige Schritte in die Wellen. Kiesel rollten hin und her, vom Wellenspiel erfasst. Möwen segelten kreischend übers Meer und landeten da und dort auf den glitzernden Wellen und verwandelten sich zu kleinen Enten.
Befreit von allen Gedanken sass ich einfach da. Mir schien, als ob ich mich mit jedem Atemzug erleichtert von meinem Selbst befreite. Habe ich das Gefühl der Ewigkeit erhascht?
Nein, es war bloss ein Augenblick der Ewigkeit, denn der Hunger meldete sich. Heute Morgen, unterwegs zum Wimbledon-Bahnhof, hatte ich ausgerechnet den Anschlag gelesen: „Frische Fische aus Hastings.“ Ich finde es immer merkwürdig, wenn mich der Zufall in einer Zielbestimmung bestätigt.
Das Dorschfilet
Ich irrte mich in der Annahme, dass es in Hastings nur so von „Fish and chips“-Lokalen wimmle. Erst bei der Altstadt fanden wir das ersehnte Fischlokal. Unübersehbar lockte in Grossbuchstaben der Menü-Anschlag, ans Fenster geklebt: „Cod and chips“ mit einer Scheibe Brot und einer Tasse Tee – alles zusammen für nur £ 5.60 zu haben. Wie es sich gehört, war das Lokal schlicht und einfach eingerichtet: Auf dem Laminatfussboden standen wachstuchbedeckte Tische und Plastikstühle. Das Lokal war von betagten Leuten besetzt. Wir fühlten uns jung zwischen ihnen. Nur eines hatte sich verändert: Türkisches Personal wartete uns auf, wogegen ich nichts habe. Das panierte Dorschfilet schmeckte ausgezeichnet. Endlich konnte ich mir wieder einmal den Luxus erlauben, das Gericht mit Ketchup reichlich zu übersprenkeln.
Der Pier
Von Ferne hatten wir den Pier gesichtet, der wie ein ausgestreckter Zeigefinger ins Meer ragte, und wir befolgten diesen Fingerzeig. Dieser Pier wurden 1872 eingeweiht und ist, wie alle anderen auch, auf schmiedeeiserne Stützen und Tragbalken errichtet; und jeder Küstenort war einst stolz auf seinen Pier mit Domkuppel.
Wohl der schönste und berühmteste Pier ist in Brighton. Die Städter pilgerten damals aus dem „Smog“ zum „Doktor Brighton“, um sich im Frühling mit „Iodine“ (jodhaltiger Meeresluft) aufzutanken. Das vertreibt auch heute noch den hartnäckigen Winterkatarrh. Der Pier von Hastings bot den Gästen Unterhaltung bis in die 1970er-Jahre: Tanzabende, Konzerte, Zirkusakrobatik usf.
Viele Piers wurden vom Salzwasser zerfressen und stürzten ein. Der Pier im benachbarten Städtchen St. Leonards wurde im 2. Weltkrieg als Schutzmassnahme gegen deutsche Angriffe in 2 Stücke geschnitten und anschliessend ganz abgebrochen.
Wiederum sahen wir viele Betagte in den Liegestühlen – und dann erschienen 2 junge Männer mit einem Riesenkrug Bier, womit sie ihre Pint-Gläser wohl dreimal nachfüllen konnten. Auch ich kriegte Lust auf wenigstens „a half a pint of beer“ und bestellte ihn stracks, um dem Durst und auch dem Tee entgegen zu wirken. Lily – ist „teetotal“ – (also Abstinentin) und begnügte sich mit einer Tasse Kaffee. Ich enthielt mich, des Friedens wegen, ihre „half pint“ nachzubestellen …
Der Pier in Hastings ist leider arg verlottert, und nur der 1. Teil ist begehbar. In den nächsten Jahren soll er wieder in seiner alten Pracht entstehen. In diesem Küstenabschnitt sind inzwischen die schmucken Gebäude, worunter viele Hotelpaläste aus der Viktorianischen Zeit, renoviert worden.
Sollen, wollen wir hier übernachten? Wir gingen an etlichen ****-Hotels vorbei. Dazwischen entdeckten wir ein **-Hotel. Wiederholt klingelten wir, bis uns eine Polin zwischen der halb geöffneten Türe mitteilte, dass in diesem Hotel nur Studenten beherbergt würden. Das muss sich ein ewiger Student sagen lassen … Immerhin beschlossen wir, beim nächsten Ausflug wahrscheinlich in Richtung Devon (und entsprechend besser gerüstet) zu übernachten.
Arg gekürzter geschichtlicher Seitensprung
WilliamThe Conqueror (1028–1087) war ein Franzose: Le Duc Guillaume Le Conquérant, Herzog der Normandie. Er besiegte am 28. September 1066 in der Schlacht von Hastings die Truppen von Harold I. und liess sich einen Monat später als Wilhelm l. zum König von England krönen. Das von William l. erbaute Schloss ist heute eine Ruine auf einer Anhöhe, die Hastings überragt. Die für England schicksalsträchtige Schlacht von Hastings (Battle of Hastings) ist im Teppich von Bayeux veranschaulicht.
Es dauerte Jahrhunderte, bis sich beide Nationen statt der Kriege endlich auf eine manchmal eher wankelmütige Entente cordiale einigten. 2 Mal steckten die Franzosen Hastings in Brand (1339 und 1377).
Hastings war eine der Cinque Ports (eine Gruppe von 5 Häfen), die ab dem 11. Jahrhundert dem König zu Kriegszeiten mit Schiffen zum Schutz der südöstlichen Küste beistanden.
Wer kreidet es mir an, dass ich an diesem einzigartig schönen Sommertag die Geschichte hier links liegen lasse?
*
Die „High Street” ist eine der ältesten Altstadtgassen. In der „All Saints Street“ sind noch einige ursprüngliche Riegelbauten erhalten geblieben.
Wir flanierten nur eine Viertelstunde in der Altstadt; denn wir wollten uns von der Sonne bei der Küste verabschieden und noch einen Augenblick Ewigkeit geniessen.
So verzichteten wir auf die Fahrt mit Seilbahn auf den Ost- oder West-Hügel und begnügten uns mit dem bewegt ausgerollten glitzernden Meeresteppich direkt vor unseren Füssen.
Hinweis auf ein weiteres Blog mit Bezug zu Hastings von Emil Baschnonga
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