Textatelier
BLOG vom: 07.08.2008

Unterwegs in Tschechien (III): Endlich – mein Geburtshaus!

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Mehr denn je braucht der Mensch im Zeitalter der Globalisierung Verankerung in der Heimat, um sich den weltweiten Herausforderungen erfolgreich stellen zu können. Deshalb suchen junge Menschen heute intensiver als früher nach ihren Wurzeln und nach den Spuren, die ihre Vorfahren hinterlassen haben.“
(Bernd Posselt, Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe)
 
„Die ursprüngliche Heimat ist eine Mutter, die zweite eine Stiefmutter.“
(Aus Russland)
*
Als 4-jähriger Bub hatte ich meine besondere Freude daran, im Dorfbach mit anderen Kindern zu spielen. Das war ein Plantschen, Toben und ein Hüpfen über die glatten Steine! Aber eines Tages geschah ein Unglück. Ein Junge trat in eine Glasscherbe. Das Geschrei war gross. Die herbeieilende Mutter wusste sich zu helfen. Sie nahm den Schnitt im Fuss in Augenschein und rannte wieder ins Haus zurück. Dann kam sie mit einer Flasche, deren Inhalt sie über die Wunde goss. Es schäumte und zischte, wie ich in Erinnerung habe. Dann wurde das verletzte Bein verbunden.
 
Ein anderes Mal landete in den Kriegstagen ein Flugzeug auf einer Wiese in der Nähe von Zossen. Die Dorfjugend und auch meine Mutter liefen zu diesem Vehikel hin und beguckten das Objekt von allen Seiten. Wie ich später erfuhr, ist dem Piloten nichts passiert.
 
Meine damals 17-jährige Tante Anni war besonders scharf auf eine Süssigkeit, die meine Mutter aus geröstetem Mehl, Butter und Zucker zubereitete (eine Art „Mehlschwitze“ bzw. „Einbrenne“). Sie wollte nicht, dass ich etwas abbekomme, schnappte sich den Topf mit Inhalt und verkroch sich unter dem Bett. Ich hatte das Nachsehen.
 
Mein Grossvater – er war von Beruf Schuster – hatte einen Hasenstall im Garten meines Geburtshauses. Dort durfte ich die Hasen füttern, so viel ich wollte. Ich war jedoch einmal unachtsam; ich verschloss wohl den Riegel eines Stalls nicht fest genug, und schon waren die Hasen im Freien und hoppelten vor Freude im Gras herum. Sie genossen die neue Freiheit. Aber das Donnerwetter seitens meines Opas war enorm. Von nun an durfte ich die Hasen nur noch unter Aufsicht füttern.
 
Dies waren einige markante Erinnerungen an meine Kindheit. Dies kam mir alles in den Sinn, als wir am 15.07.2008 Zossen, meinen Geburtsort, ansteuerten. Von Erzählungen wusste ich schon Etliches über den Ort meiner Vorfahren und den umliegenden Gemeinden. Denn immer wieder hörte ich nach der Vertreibung Rühmliches über die Heimat meiner Eltern und Grosseltern.
 
Wir fuhren zu Viert (Jürgen, Toni, Walter und ich) an diesem sonnigen und zeitweise bewölken Tag von Jesenik über Karlova Studánka (Bad Karlsbrunn) über Freudenthal (Bruntál) nach Bennisch (Hor. Benešov). In der über 750 Jahre alten Stadt Bennisch tranken wir einen „Türkischen Kaffee“ für 15 Kc. In dieser Wirtschaft wurde ein 3-gängiges Menü für 58 Kc angeboten. Die Stadt Bennisch mit dem sehr schönen Marktplatz liegt 24 km westlich von der einstigen österreichisch-schlesischen Landeshauptstadt Troppau (Opava) und 13 km östlich von Freudenthal. Wir fuhren von Bennisch auf der Staatsstrasse 11 in Richtung Troppau und bogen dann vor Malé Heraltice in Richtung Zossen (Sosnová) ab. Wir fuhren auf einer schmalen und holprigen Strasse durch eine hügelige Landschaft, die mich an die Schwäbische Alb erinnerte. Am Rande sah ich viele Getreide- und Rapsfelder.
 
Je näher wir Zossen kamen, umso unruhiger wurde ich. Sollte wirklich alles zutreffen, was ich gehört hatte? Und wo mochte mein Geburtshaus stehen? Von Erzählungen wusste ich, dass wir in der so genannten „Burg“ wohnten und das Gebäude direkt am Bach Horschina lag.
 
Zum Glück erhielt ich vom Ortsbetreuer von Zossen, Ludwig Neu aus München, die Adresse von Paul Weyrich, der uns durch den Ort führen sollte. Da Paul Weyrich mit einer Tschechin verheiratet ist, wurde er nach Kriegsende nicht ausgewiesen. Seine Frau ist Organistin, und sie hat einen Schlüssel für die Kirche, die ich unbedingt sehen wollte. Telefonisch hatte ich mich vorher mit Paul Weyrich auf 11:00 Uhr verabredet.
 
Dann war es bald so weit. Wir näherten uns Zossen. Am Ortsrand hielt Toni an und ich machte das 1. Foto von Zossen. Das 2 km lange Reihendorf mit Waldhufenflur lag verträumt in einem schönen Tal, umgeben von Getreidefeldern und kleinen Wäldchen. Im Dorf selbst ragen viele Bäume in die Höhe, so dass man nur wenige Giebel erblicken konnte. Das viele Grün im Dorf überraschte mich, zumal ich auf alten Aufnahmen kaum Büsche und Bäume im Ort entdeckt hatte. Ich sah die Kirche vor lauter Bäumen nicht.
 
Toni fuhr etwas weiter, und nun sah ich die alte, im Barockstil erbaute Kirche St. Katharina. Wir parkten vor der Kirche, und ich machte mich auf die Suche nach meinem Ortsführer. Schliesslich entdeckte ich das Haus in der Hauptstrasse Nr. 65. Es war wohl das schönste Gebäude des Dorfs. Es war frisch verputzt, hatte einen sehr gepflegten Garten und einen neuen Gartenzaun. Man merkte gleich, dass hier ein gebürtiger Deutscher wohnt.
 
Nach der Begrüssung führte uns Frau Weyrich in die Kirche, in der meine Grosseltern (1921) und Eltern (1941) getraut wurden. Das Gotteshaus macht heute von aussen einen nicht so guten Eindruck, der Putz blättert ab, und so manche Ziegelsteine kommen zum Vorschein. Auch die Mauer um die Kirche ist marode. Vom ehemaligen Friedhof war kaum noch etwas zu sehen. Auf dem ehemaligen Gottesacker steht heute ein Kriegerdenkmal. Das barocke Kircheninnere sieht sehr ansprechend aus. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein kleines Juwel. Hier haben die Kunstexperten bei der Renovation gute Arbeit geleistet. Die Bilder der Kirche wurden in Prag restauriert.
 
Unweit der Kirche, am Ufer des Dorfbachs und in der Nähe der Brücke, befinden sich die Standbilder des Hl. Nepomuk und des Hl. Florian. Die verwitterten Heiligenfiguren, die auf Sockeln stehen, sind von 3 hoch gewachsenen, schmalen Lebensbäumchen umrahmt: viel Grün um die Heiligen, aber eine Wohltat für gestresste Augen.
 
Mein Geburtshaus
Dann führte uns Paul Weyrich entlang des Dorfbachs zu meinem Geburtshaus. Unterwegs trafen wir noch einen deutsch sprechenden Tschechen, der uns mit seinen Kriegserlebnissen konfrontierte. Dann erblickte ich mein Geburtshaus. Das einstöckige, grosse Haus machte einen etwas heruntergekommenen Eindruck, der Verputz blätterte an manchen Stellen ab und die ehemals ockerfarbene oder gelbe Farbe war an vielen Stellen verblasst. Wie Paul Weyrich bemerkte, wohnen heute Roma in dem Haus.
 
Mein Geburtshaus mit der Nummer 137 hat eine interessante Geschichte. Es wurde von Daniel Rieger erbaut. Er war ein bekannter Mühlenbauer. So schuf er die Obermühle in Zossen samt einer Brettersäge und die Windmühlen in Zossen und in Aubeln. In der so genannten „Burg“ baute er eine Brettsäge ein. „Dieses Haus hat mit einer Burg nichts zu tun, obwohl es einen imposanten Eindruck macht. Lehrer Eduard Frieben, ein lustiger und zu jedem Ulk aufgelegter junger Mann, wohnte in den Jahren 1893‒1894 in diesem Hause und bezeichnete das Haus als ,meine Burg’. Das Wort fand bei der Bevölkerung Anklang und heisst heute im Volksmund ,die Burg’.“ Dies schrieb Julius Weyrich 1933 im „Goldenen Buch der Gemeinde Zossen“ nieder. Jetzt weiss ich endlich, wie der Name entstanden ist.
 
Daniel Rieger scheint ein erfindungsreicher Mann gewesen zu sein. Er schuf zum Beispiel ein Windrad aus Holz und ein zweirädriges Fahrrad mit Windsegeln. Damit segelte er in der Umgebung von Zossen herum. Aber damit noch nicht genug: Er schuf auch den Kreuzweg auf dem Annaberg.
 
Wir schritten ums Haus und da entdeckte ich den alten Pumpbrunnen. Bevor eine zentrale Wasserleitung im Dorf eingebaut wurde, holten die Bewohner meines Geburtshauses und der umliegenden Häuser das Wasser aus der Tiefe. Der Pumpbrunnen ist mit einer blauen Farbe angestrichen und versiegelt.
 
Auf der Rückseite des Hauses ist heute der Eingang (dieser war früher auf der Bachseite). Aus diesem Eingang starrten uns 2 Jugendliche und ein vielleicht 8-jähriges Mädchen an. Dieses Mädchen wich bei unserem Rundgang nicht von unserer Seite. Sie plapperte tschechisch drauf los, ich verstand nur Bahnhof, dann erblickte sie eine Katze, mit der sie zu spielen begann. Als ein Ruf von der Mutter ertönte, flitzte sie nach Hause.
 
Wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, hatte ich vom Bach und vom Haus eine grössere Vorstellung. Der Bach schien mir riesengross zu sein. Heute ist er ein Rinnsal, der von überwucherndem Gras an der Böschung fast verdeckt ist. Wie ich von meiner Tante Anni Schneidereit erfuhr, war der Bach früher tatsächlich grösser gewesen. Inzwischen soll eine Quelle des Bachs versiegt sein.
 
Die Geschichte von Zossen
Interessantes erfuhr ich über die Geschichte von Zossen. Der Ort wurde 1377 erstmals erwähnt. Die Ortschaft wurde 1608 aufgeteilt in den Schäferhof, den Freihof und den Meierhof. Freiherr Julius von Frobel kaufte 1689 den Meierhof, und die Nachfahren gründeten 1772 die Kolonie Frobelhof, auch „Waldhäuser“ genannt. Ritter Julius von Frobel war es auch, der an Stelle einer Holzkirche das heutige Gotteshaus errichten liess.
 
Neben der Landwirtschaft und den wichtigsten Handwerken bestanden vor dem Zweiten Weltkrieg 6 Kaufläden, 4 Gasthäuser, das Landwirtschaftliche Kasino, die Spar- und Darlehenskasse, eine Spirituosenbrennerei, die Molkereigenossenschaft, die Elektrizitätsgenossenschaft und 2 Druschgenossenschaften. Zossen hatte damals 771 deutsche Bewohner.
 
Nach dem Rundgang verabschiedeten wir uns von dem liebenswürdigen Ehepaar Weyrich und besuchten die Kapelle, das St. Annabrünnel, das heute noch ein gern besuchter Wallfahrtsort am Ortsrand von Zossen ist. Das „Brennlawasser“ nehmen die ehemaligen Bewohner bei ihren Besuchen als Mitbringsel in ihre neue Heimat mit.
 
Im „Thale der Freuden“
Kurz darauf fuhren wir in die Kreisstadt Freudenthal (Bruntál). Ich habe mich immer gefragt, woher der Name wohl stammen möge. Ich dachte mir immer als Kind, hier in diesem glücklichen Tal müssten freundliche Menschen leben. Der Name stammt ab von: „Freuden“ der Bergknappen, die in diesem „Thale“ reiche Erzfunde (Gold- und Silbererze) machten. Im Stadtwappen von Freudenthal weist ein Bergmann auf diese Zeit hin.
 
Was ich nicht wusste, ist die Tatsache, dass Freudenthal die älteste Stadt der tschechischen Republik ist und heute 18 000 Einwohner hat. Vor der Vertreibung lebten 96 % Deutsche in der Stadt. Sie zählte 1945 rund 11 000 Einwohner und besass 1200 Häuser.
 
Bevor wir die Stadt näher unter die Lupe nahmen, speisten wir im „Restaurace Terezka“. In diesem Lokal gab es eine tschechische und deutsche Speisekarte. Ich ass einen Rinderbraten mit Gurken und tschechischen Knödeln (eine Art Serviettenknödel) für 58 Kc. Als Getränk wählte ich Pilsner Urquell vom Fass (0,5 Liter für 37 Kc).
 
Beim Hinausgehen entdeckte ich eine Tafel im Flur. Darauf stand in Deutsch, dass hier die Schauspielerin Therese Krones geboren und dann auch das Restaurant nach ihr benannt wurde. Die am 07.10.1801 geborene Schauspielerin feierte in Wien grosse Erfolge. Besonders hat sie die Giovinczza in Raimunds Spiel „Mädchen aus dem Feenreich“ ausgezeichnet dargestellt. Sie spielte aber auch Rollen in Theaterstücken von Shakespeare und Schiller. Lieder starb die talentierte Schauspielerin im blühenden Alter von 29 Jahren.
 
Danach machten wir einen Rundgang durch Freudenthal. Besondere Schmuckstücke sind das Deutschordensschloss, die Piaristenkirche „Maria Trösterin“ mit dem Kloster und die Pfarrkirche „Maria Himmelfahrt“. Die Piaristenkirche mit dem Kloster wurde in den 50er-Jahren des 18. Jahrhunderts im Rokokostil vom Baumeister Glycerius Picher fertiggestellt.
 
Die Piaristen sind eine katholische Ordensgemeinschaft von Männern. Die Priester wirken hauptsächlich in der Erziehung und im Schuldienst.
 
Im Schlosspark, den wir durchwanderten, befinden sich Originale von Plastiken aus dem 18. bis 19. Jahrhundert und Reste der ursprünglichen Befestigung.
 
Sehr ansprechend ist der Friedensplatz. Einige Häuser enthalten Renaissanceelemente. Die meisten wurden später im Empirestil oder Klassizismus umgebaut. Das schönste Haus befindet sich neben dem „Restaurace Terezka“ an einer Ecke des rechteckigen Friedensplatzes. Es ist das im Renaissancestil erbaute Gabrielhaus.
 
Als wir die schöne Stadt verliessen, erblickten wir auf einem Hügel in der Ferne die Wallfahrtskirche „Maria Hilf“. Die Kirche wurde auf dem Kegelrest eines erloschenen Vulkans erbaut. Zur Wallfahrtskirche führt eine fast 200 Jahre alte vierreihige Lindenallee. Schade, dass wir aus Zeitgründen diese Sehenswürdigkeit nicht aufsuchen konnten.
 
Wir hatten nämlich noch den Besuch des Priessnitz-Sanatoriums bei Jesenik (früher Bad Gräfenberg) auf unserem Programm.
 
Fortsetzung folgt.
 
Infos im Internet
www.mubruntal.cz/de_willkommen.asp (Infos über Freudenthal)
www.heimatkreis-freudenthal.de (historische Bilder, Infos über das Heimatmuseum Freudenthal/Altvater in Memmingen)
 
Literatur
„Nordmährisches Heimatbuch“, 1992, Helmut Preussler Verlag, Nürnberg.
„Bundestreffen: 50-jähriges Patenschaftsjubiläum“, Stadt Memmingen und Kreis Freudenthal, Preussler Druck, Nürnberg 2006.
Weyrich, Julius: „Das Goldene Buch der Gemeinde Zossen“, 1933.
„Freudenthaler Ländchen“, Monatsschrift Heimatkreis Freudenthal/Altvater e.V., 79. Jahrgang, Folge 5, Amberg 2008.
 
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