BLOG vom: 19.08.2008
Irland-Impressionen 5: Der 5-Sterne-Himmel des Cäsar Ritz
Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
Die Unterkunft, die mir auf Reisen durch fremde Länder am besten behagt, heisst „Bed & Breakfast“ („B&B“), weil man so aus nächster Nähe den Volkspuls erspüren kann, in die landes- oder ortstypische Lebensweise einbezogen wird. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich auch die gastfreundlichen Familien für die Personen und Herkunft ihrer Gäste interessieren, die ihnen den Duft der weiten Welt ins Haus bringen und vielleicht noch ein Souvenir aus dem Herkunftsland zurücklassen. In Irland muss man nicht einmal den Übernachtungspreis aushandeln; denn die Iren befolgen das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ aus tiefer Überzeugung.
Auf die B&B-Lösung habe ich mich bei unserer Irland-Rundreise vom Frühjahr 1991 eingelassen, und meine Erinnerungen sind ausschliesslich gut. Das Frühstück, fernab von Max Bircher-Benners Müesli-Einflüssen, war überall gleich: Fruchtsaft, gebratener Schinken und Speck, Eier, bleiche Tomatenviertel, gebratene Blutwurst (Irish Pudding), die wie frisch gestochener Torfmull aussieht und ähnlich schmeckt. Dazu wurden getoastetes Brot und wahlweise Kaffee oder Tee verabreicht. Und so reist man dann mit schwerem Bauch und nachhaltigen Sättigungsgefühlen weiter, oft die Anregungen der Gastgeber einbeziehend. Ein Mittagessen braucht man nach diesen morgendlichen Kraftfutterladungen nicht mehr. Und das ist auch kein Verlust, weil, was ein rechter Ire sein will, unter einem 7-Gang-Menu eine Portion Bratkartoffeln und eine Sechserpackung vollmundig-bitteres Guinness-Bier versteht.
Schon damals gab es in Irland eine Reihe von Biohöfen mit Übernachtungsmöglichkeit und auch zahlreiche vegetarische Restaurants. In diesen verpasst man aber das ausserordentlich schmackhafte Freiland-Rindfleisch und die Koteletts von Bergschafen. Wer in Irland bei Tische tüchtig zugeschlagen hat, wird vom Gefühl übermannt, er habe Teile der meisterhaft gefügten Natursteinmauern verschluckt, die mir dort, besonders bei Gweedore am Fusse des Errigal-Bergs, aufgefallen sind. Sie legen ein grobmaschiges Strickmuster über die Landschaft im sagenhaften Grün.
Da ich diesmal nicht das ländliche, sondern das hauptstädtische Irland auskundschaftete, war auch eine andere Art der Unterkunft sinnvoll. Mein Bruder Rolf reservierte uns in „The Ritz-Carlton Powerscourt“ in Enniskerry eine Unterkunft, weil in dessen Umgebung der grösste Teil der Hochzeitsfeierlichkeiten stattfand, und er fragte erst hinterher, ob das standesgemäss genug sei. In unserer Familie ist es ein alter, schöner Brauch, dass immer jene Personen die Entscheide trifft, welche die entsprechenden besten Sachkenntnisse hat. Mit dieser speziellen Form von Demokratie sind wir alle bisher ausgezeichnet gefahren.
Und so war es auch diesmal. Der im Oktober 2007 eröffnete Hotelpalast mit seinen 201 Zimmern, Wellness- und Sporteinrichtungen wie 2 Meisterschaftsgolfplätzen, die meinen Bruder magisch anzogen, liegt in einem riesigen Park in Enniskerry (irisch: Ath na Scairbhe = die holperige Furt), in der Provinz Leinster und etwa 30 km südwestlich von Dublin entfernt. Er hat unzweifelhaft eine architektonische Ähnlichkeit mit dem Inbegriff der Ritz-Hotels, jenem an der Place Vendôme in Paris nämlich, abgesehen von der Dachpartie. Wie das Pariser Vorbild ist es in einem Halbbogen angelegt, und die romanischen (und romantischen) Rundfenster im Parterre und die dem Klassizismus zuneigenden rechtwinkligen Fensterreihen darüber gleichen sich tatsächlich (http://www.ritzcarlton.com/en/Properties/Powerscourt/Default.htm).
Die symmetrische Lobby mit den 2 Cheminéeeinbauten ist festlich und wohnlich zugleich; im Mittelpunkt sind geschwungene Treppengeländer. An den Fenstern betonen schwere Vorhänge die Wohnlichkeit, die auch durch ein gedimmtes Licht gesteuert ist. Und Gemälde zeigen urtümliche irische Landschaften. Die Rezeption ist etwas in eine Nische versetzt, wohl der Diskretion wegen. Die Otis-Lifte, innen mit Holz und Spiegeln ausgekleidet, bewegen sich fast lautlos; die Fahrt ist nicht zu spüren. Eine zarte Lautsprecherstimme erklärt, auf welcher Etage man sich gerade befindet.
Unsere zum Garten mit dem runden Weiher mit Springbrunnen ausgerichtete Unterkunft war geräumig, und die Betten, mit je 4 grossen Kissen bestückt, waren etwa anderthalbmal so breit wie üblich. Falls sich also ein Paar zum Entschluss aufraffen sollte, zwecks Entlastung des Zimmerpersonals in einem einzigen Bett zu schlafen, wären auch hier genügend Bewegungsmöglichkeiten vorhanden. Die übrige Einrichtung vom Eingangsbereich, den vielen Kästen mit Safe und dem Badezimmer, mit Bulgari-(Bvlgari)-Luxusartikeln bestückt, sind ebenfalls auf das Hausmotto „Celebrating travel, life and leisure“ (Feiern das Reisen, das Leben und die Freizeit) ausgerichtet. Nur der penetrante Chlorgeruch des Leitungswassers gefiel mir nicht. Anfänglich kam mir die Dimension des Wohnraums etwas übertrieben vor, zumal ich durchaus in der Lage bin, in einer provisorischen Schneehöhle zu nächtigen. Doch bemerkenswerterweise gewöhnt man sich sehr schnell an das Zusammenleben mit den 5 Sternen.
An einem der vielen mit weissen Tischtüchern und ebensolchen Stoffservietten bestückten vierplätzigen Frühstückstisch habe ich mich an die Lektüre des Buchs „Cäsar Ritz. Ein Leben für den Gast“ von Werner Kämpfen aus dem Rotten Verlag in Brig (1991) erinnert. Aus jenem Werk hatte ich gelernt, dass der Hotelgründer Ritz (1850‒1918), ein ehemaliger Bauernbub aus dem Goms (Niederwald, Wallis/CH), die einzelnen kleinen Rundtische, den „service par petites tables“, zu einer Zeit einführte, als man allgemein noch an überlangen Banketttischen sass und mit Schreien versuchte, mit anderen Gästen ins Gespräch zu kommen oder deren Meinung aus dem Gebärdenspiel zu erraten. Ritz liess nun möglichst runde Tische für 6 bis 8 Personen herstellen. Er hatte ausschliesslich das Wohlbefinden, die Behaglichkeit des Gasts im Auge. Ob man die Gründe dafür erfasst oder nicht, man spürt noch heute das eindeutig.
So war, um ein Beispiel zu nennen, das Frühstücksbuffet in mehreren Räumen bzw. Nischen so dezentralisiert aufgebaut, dass kein Gedränge entstehen kann, auch wenn sich viele hungrige Siebenschläfer gleichzeitig darüber hermachen sollten. Dass alles von höchster Güte ist, versteht sich von selbst: frisch gepresste Fruchtsäfte, marinierter Lachs aus Wildfängen, auserwählte Wurstspezialitäten und warme Speisen wie die irischen Blut- und Leberwürste („Irish Pudding“), Porridge, Bratkartoffeln, Rührei, aber auch frische, hausgebackene Brote und Brötchen, Getreide aller Arten, Nüsse, sorgfältig aufgeschnittene und arrangierte Früchte, Beeren usw. Landestypisches wird mit Internationalem kombiniert. Und wenn immer ein Gast sich zu einer 2. oder 3. Runde in den Buffetbereich begibt, wird sein Platz gesäubert; das verwendete Geschirr abgetragen, die Stoffserviette neu gefaltet. Das Personal ist darauf geschult, Wünsche des Gasts im Voraus zu erkennen, ohne irgendwie aufdringlich zu wirken.
Dass die Ritz-Hotels bis heute die Philosophien des „Hoteliers der Könige und König der Hoteliers“ (so ein Bonmot des Prince of Wales, des späteren englischen Königs Edward VII.), hochgehalten haben und nicht einfach auf trendige Innovationen setzten, die dem Gast nichts brachten, ist sicher die Grundlage für den Dauererfolg. Das ist in diesen Zeiten der Globalisierung, die ja kein Festhalten an bewährten Erfolgsgarantien zu dulden scheint, schon eine beachtliche Erscheinung. Sie ging im Übrigen zwar auch an den Ritz-Hotels nicht vorbei: Seit 1998 gehört die Ritz-Carlton Hotel Company, L.L.C., zu 99 % der Marriott International, eine amerikanische Hotelkette, die rund 2800 Hotels, welche unter 15 Namen laufen, in 68 Ländern zusammenfasst.
Die Ritz’schen Philosophien waren offenbar so stark, dass sie nicht auszulöschen sind. Dem einstigen Hotelkönig wird sogar die Erfindung der Hotel-Ladenstrasse zugeschrieben. Damit konnte er bauliche Verbindungen zwischen einzelnen Hotelbestandteilen beleben. Läden und Auslagen sollten Farbe in die finsteren Gänge bringen. Das war auch ein Impuls für die später aufkommenden Boulevard-lèche-vitrines, den Schaufensterkästen als Werbegelegenheit für exzellente Häuser, die dafür respektable Summen zu bezahlen hatten.
*
Als wir im Flughafen Zürich-Kloten die Untergrundbahn zum und vom E-Terminal benützten und während der 2-Minuten-Fahrt das Matterhorn und das küssende Heidi die Tunnelwände garnierten, von Weidegeräuschen akustisch untermalt, kam die Vermutung in mir auf, das sei eine Weiterentwicklung auf der Grundlage von Ritz’ Vitrinenidee. Bei der Heimkehr aus den Ferien wird damit verhindert, dass man im Tunnel in ein schwarzes Loch fällt.
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