BLOG vom: 28.09.2008
Elsass-Reise (3): Wie der Gugelhopf zum Kougelhopf wurde
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Zwischen Obernai/Ottrott und Barr (Département Bas-Rhin) im Elsass sind es etwa 7 km. Bereits hier verspürten wir nach dem Mittagessen im „Le Parc“ (Obernai) das Verlangen, ein paar Schritte zu tun. Unter leicht dunstigem Himmel war die Luft kühl, das Licht stark; die farbigen Fachwerkhäuser standen an jenem 21.09.2008 in ihrer vollen farblichen Opulenz da.
Barr
Das Dörfchen F-67140 Barr mit seinen 4400 Einwohnern am Ausgang des Kirnecktals ist von Weinbergen umgeben; von hier kommt ein bekannter Gewürztraminer. Der lokale Kirchberg liefert Weine der Spitzenklasse (grand cru classé); er gilt als eine der besten Lagen im Elsass überhaupt. In der Altstadt fällt vor allem das Renaissance-Rathaus, auch Hôtel de Ville genannt, von 1640 mit Hof, Hofgalerien und dem schmucken Fassadenerker und Treppengiebeln auf. Es steht auf den Grundmauern eines ehemaligen Schlosses. Offenbar überstand es die letztmalige Zerstörung der Stadt unter Ludwig XIV. von Frankreich im Jahr 1678. Um den Rathausplatz schaffen Fachwerkhäuser und ein Brunnen eine Kulisse, die von einem fantasiereichen Theatermaler stammen könnte. Viele Winzerhäuser haben hinter grossen Torbögen stimmungsvolle Innenhöfe.
In der Nähe des Rathauses steht ein elegantes Bürgerhaus aus dem 18. Jahrhundert, die Folie Marco im Stil des Ludwig XV. Louis Félix Marco war Verwalter des Lehens von Barr. Eine Folie ist eine Eskapade, wohl ein architektonischer Seitensprung, oder aber man kann es als „Lusthaus“ bezeichnen, wie sie in grosser Zahl im glückseligen 18. Jahrhundert entstanden sind. Dort empfingen Wohlhabende ihre Freunde zu Festessen und Weinproben oder aber zum Musizieren oder Philosophieren, abseits des harten Alltags. Darin befindet sich heute ein Museum, das einen Einblick in die Wohnkultur des Orts (Möbel und Fayencen) gibt. Bei der evangelischen Kirche St-Martin (1850) steht noch der romanische Turm aus der Zeit um 1200.
Die gepflasterten, gekrümmten Gassen, die zwischen den abwechslungsreich gestalteten Häuserzeilen mit ihren variablen Dachformen, ihrem Blumenschmuck und den von Lamellen (drehbaren Querklappen) durchsetzten Fensterläden hindurch führen, eröffnen immer wieder neue Gemälde. An den Fensterläden hängen manchmal zu all dem Überfluss noch Dekorationsgegenstände: farbige kleine Giesskannen, geschnitzte und knallig bemalte Blumen und Schmetterlinge aus Holz. Viele Fassaden wirken wie senkrecht gestellte Gärten. Die Fachwerkbalken wurden selber als Zierelemente gestaltet.
Der Ort war häufig umkämpft (Durchzug der Engländer, Armagnaken-Plage, Revolutionstrubel, Brand, gelegt durch lothringische Truppen usf.). Das Städtchen verlor die Burg 4 oder 5 Mal; doch davon spürt man heutzutage nichts mehr. Alles steht da, als ob es schon immer da gewesen wäre.
Kaysersberg
Zum Schluss unseres Ausflugs wollte ich nachschauen, was denn aus F-68240 Kaysersberg (dem Berg Cäsars) geworden sei. Wir folgen der berühmten Weinstrasse nach Süden und hätten immer wieder Anlass zum Anhalten gehabt. Wie kann man nur an Riquewihr (Reichenweier) vorbeifahren!
Das Städtchen Kaysersberg hatte ich letztmals im Mai 1981 besucht und in der rustikalen Gaststätte „Au Lion d’Or“ frische Spargeln genossen.
Ich warf diesmal am Rande der Altstadt 2 Euro (Tarif unique = Einheitstarif) in einem verblassten, von der Witterung arg mitgenommenen Münzschlucker ein, der aber funktionierte und sogar die Zeit anzeigte: 16.24 Uhr. Ein nicht weniger antiquierter Stadtplan vermittelt nebenan die wichtigsten Informationen. So erkennt man, dass der Bach „Le Weiss“ mit Wasser aus den Quellen des Bergs Linge und dem Orbeytal mitten durch den Ort und teilweise unter den Häusern fliesst, dass sich an der 124 rue G. de Gaulle das Geburtshaus von Albert Schweitzer (1875‒1965) befindet, in dem ein Museum an sein Leben und Werk im afrikanischen Lambaréné (Gabun) erinnert.
Und es war eigentlich noch alles so, wie ich es in der verblassenden Erinnerung behalten hatte. Ganze Touristenrudel zwängten sich durch die Gassen. Die architektonische Gesamtheit der im 16., 17. und 18. Jahrhundert herangewachsenen Altstadt blieb erhalten, eine denkmalschützerische Glanzleistung. Die vor den Fassaden und an Erkern mit Spitzdächern hängenden Gärten mit üppigen Geranien und Petunien scheinen diese Beständigkeit mit ununterbrochenen Farbenfesten zu feiern. Ein Plüschbär blies ununterbrochen Seifenblasen von der 1. Etage aus, die sich vor dem Platzen noch schnell unter die Fussgänger mischten. Auch der runde Wachtturm des Château ist noch da, wie seit 1200, als er im Auftrag der Gräfin von Horbourg, einer Vasallin von Rappolstein, errichtet wurde. Viele Unruhen entstanden im Zusammenhang mit der Reformation, wobei der Theologe Johann Geiler von Kaysersberg (1445‒1510) als Vorkämpfer des Reformationsbewusstseins gilt, indem er die Habgier der Äbte, Prioren, Bischöfe und Kanoniker anprangerte, aber die lutherische Reformation dadurch nicht zu verhindern verstand. Vielleicht konnte sich im reichen Elsass eine derart ausgeprägte Volkskultur ausbilden, weil nicht das meiste Geld den Kirchengewaltigen zufloss, sondern zur Erhöhung des Lebensstandards des Volks eingesetzt werden konnte.
Selbstverständlich steht auch in Kaysersberg eine mächtige Kirche, die ebenfalls im 18. Jahrhundert entstanden und der Auffindung eines als heilig betrachteten Kreuzes gewidmet ist, das heisst der Auffindung von Holzstücken eines Kreuzes durch die heilig gesprochene Helene, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin (306‒337). Das romanische Westportal mit den Säulen und Kapitellen in den Rücksprüngen und einem skulpierten Tympanon (reliefartig geschmücktes Giebelfeld) dieser Kirche Ste-Croix war gerade offen, und ich warf einen Blick ins Kircheninnere: eine dreischiffige, gewölbte Basilika, in der ein überproportioniertes, riesiges Triumphbogenkruzifix, flankiert von Maria und Johannes, mit dem angenagelten Gekreuzigten und klaffender Wunde auf dem rechten Brustkorb optisch alles erschlägt, leider auch das filigrane Altarbild (Flügelaltar) von Hans Bongart, das die Passion Christi im Detail darstellt.
Ich kaufte der Dame unter dem Eingangsportal den Stadtführer „Kaysersberg“ für 6 Euro ab, der von La Société d’Histoire de Kaysersberg 2007 herausgegeben wurde und den es nur in französischer Sprache gibt. Die freundliche, bejahrte Torwächterin wies mich auf die fortlaufende Nummerierung der Gebäudebeschreibungen in dieser Broschüre hin; die entsprechenden Nummernschilder seien an den Gebäuden angebracht … allerdings seien die meisten von ihnen in den letzten Tagen gestohlen worden, obschon sie schwer zu demontieren gewesen seien, fügte sie bei, Mühe bekundend, die Zustände in dieser gottlosen Welt zu erfassen.
Ein Kapitel Elsass-Geschichte
In einem nahen Buchantiquariat fand ich das Werk „Tausend Brücken“ von Friedrich Hünenburg, 1954 im Hünenburg-Verlag in Stuttgart erschienen. Darin ist romanhaft das deutsch-französische Verhältnis dargestellt. Es wird als „offene Wunde Europas“ bezeichnet, ein menschliches Zeugnis „für die Tragik dieser Nachbarschaft“, aber auch eines der schönsten Beispiele für den Verständigungswillen, der hier aus dem gleichnishaften Erleben eines Einzelnen im Brückenland Elsass emporgewachsen ist, liest man auf dem Umschlag. In dem gleichermassen geschichtlichen wie philosophischen Buch sind auch wunderschöne Naturschilderungen enthalten, wie etwa ein morgendliches Walderlebnis: „Durch die stille Luft zitterte die Wärme der lichthungrigen Steine, auf denen die Eidechsen und Spinnen lebendig wurden.“ Das lebendige Elsass. Das Buch unterhält, belehrt und erschüttert.
Dieser Fund, der mir sofort ins Auge sprang, war ein Glücksfall. Die aus Deutschland stammende Geschäftsinhaberin sagte, beeindruckt von meinem sicheren Zugriff, sie habe das Buch soeben gelesen – es sei grossartig, und sie zeigte Freude darüber, dass es in gute Hände kam, was wohl heissem mochte, dass es jemand mitnahm, der ein wirkliches Interesse zeigte. Wie ein offenes Lexikon erzählte mir diese reife, beeindruckend liebreizende Dame mit dem rehbraunen Haar die französisch-deutsche Geschichte des Elsass, das immer zwischen den beiden Ländern hin und her gerissen wurde und sich heute eindeutig als Teil Frankreichs fühle, wie sie sagte. In etwa 50 Jahren würden die letzten Erinnerungen an die deutschen Spuren Vergangenheit sein, fügte sie prophetisch bei.
Es ist schwer, diese lebhafte Geschichte gerafft wiederzugeben. Wahrscheinlich waren die Kelten hier im 5. Jahrhundert von unserer Zeitrechnung die ersten Siedler, wie man aus der Heidenmauer (mur paien) bei Obernai (siehe Elsass-Reise 1 und Blog von Heinz Scholz; die Links sind unten angefügt) schliessen könnte. Nach der Vertreibung des germanischen Fürsten Ariovist (101‒54 vor unserer Zeitrechnung) wurde die Landschaft zwischen Rhein und Vogesen von Cäsar erobert, und um 400 nahmen es die Alemannen in Beschlag. Später wurde das Elsass Teil des Fränkischen Reichs. Bei dessen Teilung kam es durch den Vertrag zu Verdun 843 zu Lothringen und mit dem Vertrag zu Mersen bald darauf (870) zum Ostfränkischen Reich. Nach dem Zerfall des staufischen Reichsguts in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden viele Reichsstädte wie das Paradebeispiel Strassburg. Im Mittelalter und in der unruhigen Reformationszeit blühte die Kultur auf. Und nach dem von Zerstörungen und Plünderungen begleiteten Dreissigjährigen Krieg kamen mehrere Reichsstädte zu Frankreich; den Rest erwarb Ludwig XIV. bei seinem Streben nach der Ausweitung seiner Herrschaft bis zur Rheingrenze, und was noch fehlte, wurde während der Französischen Revolution durch Frankreich eingezogen. Doch 1871 schlug das Pendel wieder nach der anderen Seite aus: Durch den Friedensvertrag von Frankfurt kam das Elsass als erweitertes Reichsland „Elsass-Lothringen“ ans Deutsche Reich. So war es bis 1919, als das begehrte Gebiet durch den „Versailler Vertrag“ an Frankreich zurückfiel. 1940 bis 1944/45 war es wieder ins deutsche Reich eingegliedert – und seit 1945 sind das Elsass und auch Lothringen wieder Bestandteile der Französischen Republik. Ein gefundenes Fressen für Historiker, die Turbulenzen lieben.
Der vom Deutschen durchsetzte Elsässer Dialekt bildet sich seither immer mehr zurück. 1972 wurde an den Schulen im Elsass Deutsch als Lehrfach aufgegeben; seit 1990 gibt es die Zweisprachigkeit als Unterrichtssprache nur noch in bescheidenem Umfang, obschon dem Elsass seit 1976 eine gewisse kulturelle Autonomie zugestanden worden ist – die es wahrscheinlich so oder so in Anspruch genommen hätte.
Viele Elsässer Ausdrücke und Ortsnamen haben nach wie vor einen traditionellen Bezug zum Deutschen. Der Gugelhopf wurde zum Kougelhopf, blieb als schmackhafter, luftiger Hefe-Napfkuchen aber inhaltlich und zubereitungsmässig unverändert, und das Sauerkraut zum Choucroute. An einer Fassade stand „Choucroute Maison comme la faisait ma Grand’Mère“. Zu meinem Pech war dieses Sauerkrauthaus in Kaysersberg geschlossen, die rettende Grosstochter unauffindbar.
Elsässer Spezialitäten
Beim Einkauf von Spezialitäten gibt’s keinerlei Sprachprobleme; viele ältere Elsässer verstehen ohnehin Deutsch. Wir deckten uns bei Fortwenger mit Gugelhöpfen, in anderen Bäckereien mit Broten und Nussgebäck, in einem Gewürzhaus mit einem duftenden, kräftig gewürzten Ingwerfrüchtebrot, dann mit Nougat usf. ein, auf dass wir unser Körpergewicht weiterhin halten können. Und sogar einen Elsässer Absinth „Libertine“ (72 Volumenprozent) von René de Miscault trieb ich auf, neben klaren „Eaux de Vie“ aus Zwetschgen (Quetch), Himbeeren, Williamsbirnen usf. Wir konnten den Absinth im Laden gleich probieren – ein ganzer, von Wermut dominierter, gaumensprengender Kräutergarten, der uns den Hunger wieder zurückbrachte. Und überall gibt es bäuerliches, verziertes Steingut zu kaufen, vor allen ovales mit Deckel für den Baeckeoffe, ein althergebrachtes Eintopfgericht mit allerlei Fleisch und Gemüse, im Weisswein mariniert und im Backofen 2 bis 3 Stunden bei 180 °C erhitzt.
Einer schwarz gekleideten, zierlichen, schwarzhaarigen Strassensängerin mit Sonnenbrille warf ich eine Münze in einen umgedrehten Zylinder. Sie sang „Je t’aime“ – galt es mir? –, sie sang auch von sich reimenden „problèmes“ und davon, dass sie diese mit ihrer Liebe lösen werde. An Problemen hatte ich gerade nichts zu bieten, aber ich freute mich an diesem klaren, warmen Timbre und applaudierte ihr kräftig, und sie setzte zu neuen berauschenden gesanglichen Höhenflügen an.
Die Zeit, an die Heimfahrt zu denken, war da. Ich wählte, dem Stadtplan folgend, jene Ausfahrt aus Kaysersberg, die an der spätgotischen Chapelle St. Wolfgang vorbei führt, ein Bauwerk, das aus dem Felsen herauszuwachsen scheint. Es gehörte zum ehemaligen Leproserium, wo im Mittelalter an der Lepra und ähnlichen Krankheiten Leidende in sicherer Distanz zum Stadtzentrum verwahrt wurden.
So wird man im Elsass immer wieder mit geschichtlichen Abläufen konfrontiert, hin und her geschüttelt – mitten in eine Welt des Geniessens, des Leidens und der einstigen Instabilität. Aber das Resultat, wie sich das Elsass heute präsentiert, ist etwas, das Bewunderung abverlangt und Begeisterung hervorruft. Niemand, der die Geschichte einigermassen kennt, würde so etwas erwarten.
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