Textatelier
BLOG vom: 17.10.2008

Börsentag-Analyse: Von Paketeschnürern und von Mitläufern

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Das war wieder einmal einer von jenen vor mitläuferischer Einfalt triefenden Börsentage, die ein typisches Schlaglicht auf das hirnlose Verhalten des Finanz- und Bankgewerbes werfen. Im Zeichen der Nachäfferei hängt man wie der Tender an der Dampflokomotive an den US-Vorgaben. Die USA gelten als Dampflokomotive für die Weltwirtschaft, auch wenns steil bergab geht. Unsere Vorbilder geben sich auch dann noch selbstbewusst, wenn sie die übelsten Dreckgeschäfte und Plünderungsfeldzüge einfädeln und durchführen. Und das hereinfallen ist für uns Ehrensache. So macht man sich drüben beliebt.
 
Der 16. Oktober 2008
Das möchte ich hier am Beispiel des Donnerstags, 16.10.2008, näher erläutern. So gab der Schweizer Bundesrat am frühen Morgen, kurz vor 7 Uhr schon, Kenntnis von einem „Rettungspaket zum Schutz der Finanzbranche“, das insbesondere auf die Grossbank UBS zugeschnitten ist, die eine mit 68 Milliarden CHF gefüllte Finanzspritze in Anspruch und in Kauf nimmt. Noch bis am Vorabend hatte sich die Schweiz über all die weltweit um sich greifenden staatlichen Rettungsaktionen, die zu einer Teilverstaatlichung des Bankengewerbes führen, haushoch erhaben gefühlt; so etwas sei hierzulande unnötig, hiess es. Offenbar trifft das vorerst nur für die CS zu. Am anderen Morgen war dann plötzlich alles anders. Und der Bund erwartet, wie alle anderen Paketschnürer auch, am Ende gerade noch ein Geschäft aus seiner Hilfsaktion zu machen. Geschäft ist Geschäft. Das Gespött in den US-Medien war den Schweizern sicher; man muss sich ja von dort alles (Betrügereien und den Spott) bieten lassen, ausgerechnet von dort.
 
Man entschuldige meine aus dem Verpackungsgewerbe stammende Sprache; doch wird der Begriff „Paket“, ursprünglich ein Wort voller Unschuld, sicher zum Unwort des Jahres 2008 gekürt werden. So haben die US-Amerikaner, die ihr angeberisches Leben auf hohen Rössern weit über ihre Verhältnisse hinaus mit Krediten finanzierten, die oberfaulen Banken- und Kreditkartenunternehmen-Guthaben zu Paketen geschnürt, den umhüllten Sondermüll falsch deklariert (AAA) und der Welt auf betrügerische Weise angedreht. Diese Guthaben werden selbstverständlich nie einzutreiben sein; denn die Amerikaner leben weiter auf Pump. Und wie immer im Banken- und Börsengewerbe: Wenn einer kauft, dann kaufen alle (und umgekehrt). Also kauften alle in aller Welt den Schund zusammen. Sie warfen weit über 1000 Milliarden USD zum Fenster hinaus, als ob der paketbeladene Weihnachtsmann eine Sonderaktion veranstaltet hätte, und kamen sich als Schnäppchenjäger von der Sonderklasse vor, als halbe Amerikaner.
 
Als dann eine Bank nach der anderen in die Agonie geriet, sich nebenbei ein Bankenkannibalismus breit machte, die Banken einander selber nicht mehr trauten, als die von blindem Vertrauen erfüllten Anleger ihre Guthaben in irgendwelchen Paketen auf Nimmerwiedersehen verschwinden sahen und sich sogar Staatsbankrotte à la Argentinien und Mexiko abzeichneten (Island, USA/Kalifornien?, Ungarn?), wurden staatliche Rettungspakete geschnürt. So weit sind wir jetzt gerade. Die Verpackungsindustrie blüht.
 
Die Börsianer waren von dieser noch nie da gewesenen Situation überfordert, wussten nicht, was tun. Wegen des blödsinnigen Umstands, dass in Europa die Sonne zum Teil bereits scheint, wenn es in den USA noch Nacht ist, hat die alte Welt jeweils am Vormittag und bis in die Mitte des Nachmittags hinein keine Vorgaben, auf die sie sich abstützen könnte, abgesehen vom Dow Jones Indus Average (DJ) vom späten Vorabend MEZ.
 
Und so wusste denn die CH-Börse, nachdem der Bundesrat geschnürtes Paket vorgestellt hatte, wirklich nicht, was denn zu tun sei. Zum Glück hat sich für solche nationalen Fälle, für die keine ausländischen Vorgaben aufzutreiben sind, das folgende Ritual bewährt: Man ignoriert, was in der Schweiz passiert, und wartet gemütlich auf das US-Börseneröffnungsgeläut an der Wallstreet, das die Herden zusammenruft, um sich schart.
 
So war es auch am besagten 16.11.2008: Was da der Bundesrat geschnürt haben mag, brauchte die Zürcher Börse nicht weiter zu interessieren. Der Swiss Market Index (SMI) verharrte bis gegen 15 Uhr leicht im Minus (zwischen 5800 und 5900 Punkten), abwartend. Um 15.04 Uhr vermeldete AWP international www.awp.ch endlich kursbestimmend: 
 
„AKTIEN NEW YORK/Ausblick: Sehr fest – Positive Daten sorgen wieder für Gewinne
NEW YORK (AWP International). Nach dem erneuten Kursrutsch zur Wochenmitte dürften die US-Börsen am Donnerstag wieder mit Gewinnen in den Handel starten. Händler rechnen mit einer Gegenbewegung, nachdem zunehmende Rezessionssorgen am Vortag erneut für tiefrote Kurstafeln gesorgt hatten. Zudem gebe es Anzeichnen, dass die Kosten für die Kreditvergabe der Banken untereinander, wieder gesunken seien und somit das Vertrauen in diesem Problembereich wieder wachse. Auch besser als erwartete Konjunkturdaten dürften Händlern zufolge den Markt antreiben.“
 
Das war für die Schweizer Börsenherde das entscheidende Signal zum Kaufen. Der SMI drehte aufgrund dieser Ankündigung sofort in den grünen Bereich, auf 5959 Punkte. Doch dann erwies sich um 15.30 Uhr, als New York mit 0,72 Prozent im Minus eröffnete, die erwähnte AWP-Prognose als unzutreffend, und der SMI fiel wieder auf fast 5800 Punkte hinunter.
 
Doch die Mitläufer-Idioten hatten die Rechnung ohne den US-Wirt gemacht: Schon wenige Minuten nach der Eröffnung war der DJ um 0,7 Prozent im Plus, und unverzüglich drehte auch der SMI wieder nach oben, überschritt die Nulllinie leicht, binnen weniger Minuten war das geschafft. Der US-Leithammel raste auf 1,6 % in den grünen Bereich und knickte gleich wieder, dem Null-Niveau entgegen.
 
Unsere CH-Mitläufer-Börsianer, bei denen sich am späteren Nachmittag eine gewisse Müdigkeit breit machte, wurden arg herausgefordert. Obschon durch Jahrzehnte langes Plagiat-Training geschult, vermochten sie kaum noch mitzuhalten. Und sie taten, was sie in Fällen eines raschen DJ-Niedergangs immer tun: In vorauseilendem Gehorsam stellen sie die Signale auf Verkauf und überholen den etwas schwerfälligeren DJ wegen der Neigung zu Übertreibungen, wie diese gerade in Asien (vor allem in Japan) wegen des dort noch stärker entwickelten Herdentriebs, so weit das noch möglich ist.
 
Da sich an dieser Stelle bei mir auffällige Brechreize einstellen und ich mir so lebhaft, wie das bei meinem Zustand noch möglich ist, vorstellen kann, dass es den über diese Zeilen geneigten Lesern ebenso ergeht, wollte ich hier eigentlich abklemmen. Doch dann sauste der DJ auf minus 2 %, und der SMI schien synchron zu verlaufen, erholte sich aber mit ganz wenig Rückstand auf den DJ zur Hälfte. Dann gings im Gleichschritt weiter in die Tiefe, prozentgenau koordiniert. Der SMI schloss mit einem Minus von 3,26 %, als der DJ mit 3,20 % im Minus stand, eine koordinatorische Glanzleistung! Auch das gesamte Rest-Europa hielt sich daran, eine entlarvende Dekadenz.
 
Zeitunterschiede angleichen!
Ich beschränke mich nur noch auf den Hinweis, dass die Zürcher Börse jeweils um 17.30 Uhr MEZ schliesst, wenn New York so richtig in Berg- und Talfahrt gekommen ist. Hier offenbaren sich die Grenzen des totalen Mitläufertums. Sie sind durch die unterschiedlichen Zeitrechnungen bedingt. Und eben aus diesem Grund verpassten die Europäer den letzten DJ-Kurswechsel: Der Leitindex schoss noch am Abend auf 4,68 % ins Plus. Aber jetzt wusste die alte Börsenwelt wenigstens, was sie am nächsten Morgen zu tun hatte. Tatsächlich wurde das am Freitagmorgen, 17.10.2008, wiederum fast punktgenau nachvollzogen: Der SMI war um 09.47 Uhr 4,33 % im Plus.
 
Man komme mir jetzt bitte nicht mehr mit Analys(t)en, Ängsten und weiser Vorausschau: Was an den Weltbörsen geschieht, ist ein reiner, hirnloser NY-Abklatsch, auch in Ländern, wo die Verhältnisse ganz anders sind. Das gilt für das Banken- und Anlegerverhalten, ein jämmerliches Niveau.
 
An sich würde man erwarten, dass die neoliberale Globalisierung doch in der Lage sein müsste, auch gerade noch zeitliche Unterschiede platt zu walzen. Die Lösung läge auf der Hand: Wie die ganze Welt die amerikanische Sprache erlernen muss, weil US-Amerikaner bekanntlich keine Fremdsprache schaffen, so müssten sich alle Börsen auch zeitlich nach New York ausrichten; nur so wäre eine perfekte Übernahme der Kursvorgaben möglich. In diesem Fall würde also die Zürcher Börse um 15.30 Uhr eröffnen, und das CH-Fernsehen (SF DRS) könnte abendfüllend über den SMI, den DJ und den Nasdaq berichten und müsste sich nicht immer mit der nationalen Landeslotterie beschäftigen, welche die besten Sendezeiten für sich gepachtet hat und ständig zum Kaufen von Losen animiert. Dabei werden nur die Gewinner gefeiert und nicht etwa jene, die damit ihr gutes Geld verloren haben.
 
Börsenspiel „Bankenkrise!“
Man gestatte mir, abschliessend zum Grundsätzlichen zu kommen – im Anklang an das lustige virtuelle Börsenspiel „Bankenkrise!“, das mir eine Bekannte soeben zugestellt hat. Dabei geht es darum, möglichst viel Geld möglichst unbedarft anzulegen und zu verlieren und den Staat einspringen zu lassen. Untertitel: RISIKOLOS.
 
Dieses infantile Spiel, für das Mami und Papi aufzukommen haben, wurde von den Amerikanern eingerichtet, und alle neoliberalisierten Mitläufer kauften, wie ihnen befohlen wurde, den Schrott zum Edelmetallpreis. Sicher eine lustige Sache, geeignet für Kinder ab 3 Jahren. Zu den Regeln, die strikte eingehalten werden müssen, gehört, dass eigene Gedanken und Entscheidungen nicht erlaubt sind. Es gilt, die US-Vorgaben exakt nachzuvollziehen.
 
Einen Haken hat die Sache. Über 5-Jährige dürften das Spiel als schwachsinnig empfinden. Erst wenn die kollektive Verblödung unter dem Globalisierungseinheitsdach perfektioniert ist, wird die Sache auch für Erwachsene wieder spannend.
 
Es ist bereits spannend.
 
Man darf sich schon aufs nächste Päckli freuen.
 
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