Textatelier
BLOG vom: 02.11.2008

Vitznau am Vierwaldstättersee zu Beginn des Winterschlafs

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Noch nirgends habe ich eine gute, treffende Beschreibung der eigenartigen Form des Vierwaldstättersees gefunden. Er ist unbeschreiblich schön, weil er stark gegliedert ist, das Resultat komplexer tektonischer Prozesse. Vergleiche zu herkömmlichen geometrischen Formen bringen nichts, da die Unregelmässigkeit das Merkmal dieses etwa 114 Quadratkilometer grossen Gewässers ist, ähnlich einer Pflanzenwurzel, die sich durch steinigen Boden zwängen muss, immer wieder zu Kurven und zur Ausbildung neuer Arme gezwungen wird, um an Säfte und Nahrung heranzukommen.
 
Ungefähr in der Mitte des bis 38 Kilometer langen Vierwaldstättersees (434 m ü. M.), wo er wie mit einem Schnörkel unter einer Unterschrift zusammengesetzt zu sein scheint, träumt Vitznau vor sich hin. Das Dorf liegt am Nordufer, zwischen Weggis und Gersau, am Fusse der Rigi. Seit dem Mittelalter und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gehörte dieses Vitznau politisch und kirchlich zu Weggis, und die Ortsgeschichten sind dementsprechend ähnlich. Ab dem 13. Jahrhundert war Vitzenowa (Vitzenöwa, die Au des Fitzo bzw. Vitzo) im Besitz der Habsburger und ging 1380 an Luzern über, das Vitznau der Landvogtei Weggis zuteilte. 1798 wurde Vitznau zur eigenen politischen Gemeinde im Kanton Luzern und 1799 auch zu einer selbstständigen Pfarrei.
 
Allerdings war diese Eigenständigkeit im Zeichen der fusionsverrückten Narretei namens Globalisierung eine Zeitlang bedroht, nachdem die Gemeinderäte (Vollzugsorgane) der 3 Gemeinden Greppen, Weggis und Vitznau sich hierüber einig waren: „Das strategische Ziel oder die Vision sind die vereinigten Seegemeinden.“ Die der Militärsprache nachempfundene Formulierung („strategisches Ziel“) mag vielleicht aus einer unbewussten Vorahnung gewisser Unabhängigkeitskämpfe gewählt worden sein.
 
Der Kanton Luzern und die Universität St. Gallen gehen aus einer beschränkten, rein statistischen Betrachtungsweise davon aus, dass 6000 Personen die ideale Gemeindegrösse wären, um professionelle Dienstleistungsbetriebe anbieten zu können und die Nähe zum Volk dennoch nicht zu verlieren. Darin sind merkwürdigerweise unter anderen die geografischen Aspekte unberücksichtigt, etwa die Distanz zwischen den Fusionskandidaten. Es folgte dann eine Machbarkeitsstudie – schon wieder so ein Prachtbegriff. Eine Umfrage in Weggis ergab, dass viele Bewohner die gute Lage der Gemeinde durch eine Fusion bedroht sieht, aber gegen ein Weiterstudieren im Sinne eines Hinauszögerns hatte man nichts. Wenn man die Webseite www.seegemeinden.ch aufruft, erhält man das Gefühl, die Fusionslüste der Gemeindepolitiker seien eingeschlafen. Neben den Gemeindeprofilen sind seit dem Januar 2005 keine weiteren Meldungen mehr über allfällige Fusionsfortschritte ins Netz gestellt worden. Und im Moment offenbart die Einheitswelt gerade ihr hässliches Gesicht; es wird zur Fratze wie die US-amerikanischen Halloween-Vorgaben, die in der Nacht vom 01./02.11.2008 in der Schweiz zu blödsinnigen Sachbeschädigungen führten, zum Beispiel Hausverschmierungen mit Ketchup, woraus jedermann seine eigenen Schlüsse ziehen mag. 
 
Augenschein in Vitznau
Eine wohltuende Ruhe aber herrschte in Vitznau, als ich das Dorf am See am Sonntagnachmittag, 26.10.2008, vom Kastanienmarkt in Greppen kommend, besuchte – schliesslich gehört die Gemeinde zum Edelkastanienland Zentralschweiz.
 
Auf dem Landweg kommt man erst seit 1866 nach Vitznau; 1886 wurde die Strasse bis Gersau verlängert. Gegen 15 Uhr bahnte sich die herbstliche Sonne gerade ihren Weg durch den Hochnebel. Die steile Nordseite des Bürgenstocks vor dem Pilatus, das Stanserhorn, das Buochserhorn, der Oberbauenstock und weitere Urner Gipfel traten aus dem Nebel hervor, zeigten ihre Silhouetten, vorne dunkelgrau und mit zunehmender Distanz heller werdend, wie ein dreidimensionales Kalenderbild von bestechender Harmonie.
 
Ich stelle das Auto beim Alten Schul- und Gemeindehaus von 1893/94 ab. Das ist ein neuklassizistischer Profanbau des Luzerner Architekten Josef Weber (1840‒1904), laut Informationstafel „ein wichtiges Wahrzeichen des enormen Entwicklungsumbruchs um die Jahrhundertwende“, das zusammen mit den grossen Hotelbauten das Dorfbild prägt, seit 1995 unter Denkmalschutz steht und jetzt als Museum dient. Zwischen Hausfassaden und einer Fächerpalme grüsste der Turm der katholischen, spätbarocken Kirche St. Hieronymus. Ich begab mich zuerst zu einer kleinen Parkanlage am See, wo alle rot bemalten Bänke mit einem Sinnspruch versehen sind, etwa: „Alkohol konserviert alles, ausgenommen Würde und Geheimnisse“ oder „Auf böse Menschen ist Verlass, sie ändern sich wenigstens nicht“, wobei allerdings ein böser Besserwisser das „nicht“ weggeschabt hatte, deplatzierte Hoffnung verströmend. Eine Sonnenuhr von Gübelin Swiss, in die auch die Tierkreiszeichen einbezogen sind, und dekorative Kunstwerke, etwa der 3,10 m hohe spitzeckige „Schwung“ aus nicht rostendem Eisen von Chris Pierre Labüsch, beleben das Panorama und können von Fotografen als Vordergrund eingesetzt werden. So etwa beim Blick zum westlich des Dorfs gelegenen Park Hotel, ein gewaltiger, schlossartiger Bau, 1901/03 nach Plänen von Karl Koller erstellt, 1987/89 renoviert und jetzt auf der Nordseite renovationshalber wieder eingerüstet. Die 5-Sterne-Anlage ist über den Winter geschlossen. Die nächste Sommersaison wird am 25. April 2009 eingeläuetet (www.parkhotel-vitznau.ch).
 
Ein weiteres Luxushotel, der „Vitznauerhof“, 1901 nach Plänen von F. Kühn erbaut, ein Gemisch von Historismus, Jugendstil und Schweizerhausstil, ist zurzeit und bis auf Weiteres geschlossen. Dieses Hotel wurde von der Pensionskasse Pro 2005 von der Arabella Sheraton-Gruppe übernommen; sie hat der Gemeindebehörde aber offenbar bis jetzt noch kein Betriebskonzept vorgelegt.
 
In dem Park geben verschiedene Tafeln Einblick ins ausgewogene, gemeindeeigene Leitbild: „Wir fördern die gezielte Nutzung von Bauland für ein massvolles und qualitatives Wachstum, dadurch sind wir für Firmen und Privatpersonen attraktiv. Durch gute Steuerzahler erreichen wir eine Steuersenkung“, oder: „Wir tragen Sorge zur Natur und sind loyal gegenüber Landwirten.“
 
Selbstredend spielt in Vitznau auch die Vitznau-Rigi-Bahn eine Rolle, deren Betrieb 1871 aufgenommen worden ist; seit 1937 ist sie elektrifiziert. Der Niklaus-Riggenbach-Quai erinnert an den Bergbahnpionier (1817‒1899), der durch die Erfindung der Zahnstange in der Mitte zwischen den Bahngeleisen und eines entsprechenden Zahnrads am Triebfahrzeug (1863) die Überwindung steiler Geländerampen ermöglicht hat. Der Bahnbau kostete damals 1,25 Mio. CHF – und das dafür nötige Aktienkapital war innert zweier Tage gezeichnet. Im Moment werden Aktienangebote gerade unter dem Deckel von Zukunftsängsten gehalten.
 
Der Rundweg Promenade
Um noch zu etwas Bewegung zu kommen, folgte ich dem Wanderwegweiser Rigi-Chestene-Weg der Pro Kastanie Zentralschweiz. Vorbei am Hotel Rigi mit den schmiedeisernen Balkongeländern und über die Zihlstrasse und die kurvige Wilenstrasse gewinnt man rasch an Höhe bis hinauf zum Weiler Huse – unterhalb dem Trasse der Rigi-Zahnradbahn folgend. Das ist die „Region Rigi-Mythen“. Der Ausblick über den sich verengenden und wieder öffnenden Vierwaldstättersee wird mit zunehmender Höhe immer eindrücklicher.
 
Ein weisser Wegweiser lehrte mich, dass ich auf dem „Rundweg Promenade“ war. Er zeigte im Gebiet Wilen/Reckholderwilen seewärts, und ich folgte dieser Richtungsangabe. Ein kleiner Weg führt in einen romantischen Wald, manchmal über Treppenstufen. In Taleinschnitten, die von viel Bergwasser-Einflüssen zeugen, liegen zwischen Nadel- und Laubbäumen riesige Nagelfluhbrocken, also Bergsturzmaterial; zeitweilig fühlte ich mich wie ins Bergsturzgebiet von Goldau versetzt, auch wenn hier die Dimensionen um Grössenordnungen bescheidener sind. Immerhin soll sich zwischen Weggis und Vitznau vor rund 3000 Jahren ein grosser Bergsturz ereignet haben. Die Steinkolosse vom Rigi sind heute mit Flechten überzogen oder mit Moosen und Farnen bewachsen. Auf dem Weg lag eine dicke Schicht frisches Laub, das die Schuhe abfederte.
 
Bald hörte ich die Fahrgeräusche von Autos, und da war ich bereits im Gebiet Underwilen an der Seestrasse angelangt, 20 Minuten vom Ortszentrum entfernt. Der Spaziergang in der Abendsonne auf dem Trottoir dem Vitznauerbecken entlang war angenehm. Eine Sitzbank neben grossen Wedeln von Pampasgras lud zu einer kleinen Rast und zum Geniessen der dunstigen Seelandschaft ein. Dann kam ich am Hotel Park vorbei, erreichte bei einer Ahoi-Tafel den Hafen und erreichte die reformierten Markuskirche, 1903/04 im englischen Stil erstellt. Das war übrigens die 1. reformierte Kirche im Kanton Luzern ausserhalb des Kantonshauptorts. Überlebensgrosse Skulpturen – Mutter, Kind und Vater, Hand in Hand ‒ standen vor dem Eingangsbereich.
 
Vitznau ist überhaupt offensichtlich eine kulturbeflissene Destination. Skulpturen sind überall, so auch beim Museum Vitznau-Rigi, wo vollschlanke Gipsfiguren von Anton Buri aus Rheinfelden den Kulturtempel bewachen; hier ist die Bulimie auf die Spitze getrieben.
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Mir gefallen Kur- und Fremdenverkehrsorte im Winterschlaf. Erst dann kommen ihre wahren Werte zum Vorschein.
 
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