Textatelier
BLOG vom: 09.11.2008

2 Mal Schinznach: Vom H2S und einer Lektion im Korbflechten

Autor: Walter Hess, Biberstein AG (Textatelier.com)
 
Sie wolle noch 3 Körbe holen, die sie zur Reparatur gegeben habe, sagte Eva auf der Heimfahrt aus Schinznach-Bad. Wir hatten uns am regnerischen 07.07.2008 gerade im Aquarena von Wasserstrahlen, die aus engen Düsen in unterschiedlichen Höhen hervorschiessen, rundum massieren lassen und waren etwas herumgeschwommen. In der Dufthöhle atmeten wir etwas Schwefelwasserstoff ein, ein Geruch, wie er sich aus Jauchegruben und im Umfeld fauler Eier ausbreitet. An sich ist das ein giftiges Gas, doch in den geringen Dosierungen geht davon eine gesundheitlich positive Wirkung aus. Der Blutdruck wird gesenkt, Cholesterin etwas abgebaut, ohne dass ich mit dieser Feststellung der Bedeutung des verteufelten Cholesterins nahe treten will. Schwefelwasserstoffhaltige Bäder werden auch gegen Schuppenflechte und chronische Ekzeme empfohlen, denn das schwefelhaltige Wasser löst die obersten Hautschichten ab und fördert die Durchblutung. Der in den Bädern gelöste Schwefelwasserstoff (H2S) durchdringt Körperzellen und -gewebe und reguliert Abwehr- und Entzündungsvorgänge, was die Wirkung bei Gelenkbeschwerden und entzündlichen Hauterkrankungen wie Schuppenflechte, Akne oder seborrhoischer Dermatitis erklärt.
 
Bei Frau Hartmann
Wir wechselten nach diesem Badevergnügen die Aareseite und fuhren an der Graströchni-Kreuzung, wo sich in der Nähe der Grastrocknungsanlage 4 Stopptafeln ein Stelldichein geben, hinauf ins Winzerdorf Schinznach. Eva wollte noch schnell bei Frau Frieda Hartmann vorbei und empfahl mir, doch schnell deren Werkstatt anzuschauen, was mir gefiel. Frau Hartmann, wohl um die 80, kam eben aus der Haustür, auf eine Krücke mit Rückstrahler gestützt. Sie trug einen grauen Traineranzug, eine grüne Gärtnerschürze, war etwas nach vorne gebeugt, fiel mir aber durch die liebenswürdige Ausstrahlung und die ausgesprochen lebhaften blauen Augen auf – eine kräftige Frau, eine Schwerarbeiterin alter Schule.
 
Ja, sie hätten hier, im Dorf Schinznach, einen etwa 6 bis 8 Hektaren umfassenden kleinen Landwirtschaftsbetrieb geführt, zu dem auch einige Reben am nahen Hang am Fusse des Buerains gehörte. Doch für die Nachkommen bot dieses kleine Gut keine ausreichende Existenzgrundlage. Schon als Bauersfrau hatte Frau Hartmann davon geträumt, einmal selber Körbe flechten zu können. Und als die Jungmannschaft ausgezogen und der Betrieb eingestellt werden musste, konnte sie sich diesen Wunsch erfüllen – das war vor etwa 35 Jahren.
 
Stolz zeigte sie uns die Kopfweiden als Rohstofflieferantinnen im Garten nahe beim Haus sowie ihre museumsreifen Maschinen zum Halbieren und Dritteln von Weidenzweigen und zum Entrinden, die mit einem schweren Eisenrad mit Griff in Bewegung versetzt werden müssen. Der letzte technische Schrei sind diese Geräte, die schon um 1970 als bestandene Occasionen gekauft werden konnten, zweifellos nicht. Die leidenschaftliche Korberin kramte eine abgegriffene, handliche Holzrolle mit einem Dreispitz auf der einen Seite hervor. Damit gehe das Dritteln der Weidenruten am besten. Mit einem Griffzungenmesser schnitt sie in die Schnittfläche behänd 3 Schnitte in Sternform, schob das Holzstück in die sich öffnende, zirka 1 cm dicke Weidenrute, so dass sich diese in 3 Ruten aufteilte. Es brauche schon etwas Gefühl, damit die Aufteilung regelmässig wird; man muss den Eigenschaften des Asts nachgeben, ansonsten der Spaltzapfen entgleist. Dann werden die Ruten mit einer anderen, ebenfalls handbetriebenen Maschine geschält, so dass sie wie gehobelt aussehen. Ob sie noch lange am Rad drehen kann? Eva half ihr dabei und stellte fest, dass dies eine recht anstrengende Arbeit ist. Offenbar liegt am Schälen manches: Siehe oben (Ablösen oberer Hautschichten durch schwefelhaltiges Wasser).
 
Nebenan stand ein Korb im Entstehungszustand. Der Boden war fertig und mit allerhand Steinen beschwert. Die wohl 1 m langen, ringförmig angeordneten Weidenruten schauten nach oben und harrten der Querverbindungen, die da noch kommen sollten. Frau Hartmann musste auf eine Bank sitzen; lange stehen mag sie nicht mehr. Aber sie war im Element: „Ich bin mit den Körben verheiratet“, sagte die unternehmerische Witfrau und lenkte unsere Aufmerksamkeit zu einem ganzen Korbwarensortiment, das sie zum Teil geflickt und zum Teil neu angefertigt hatte, darunter ein reparierter Bäbiwagen für kleine Mädchen, die noch nicht auf Plastikspielzeug umstellen mussten.
 
Korb-Qualitätskriterien
Die aus dem Ausland importierten Körbe seien zwar elegant und schön, sie sehe sie gern, sagte Frau Hartmann, doch erhalte sie diese oft zur Reparatur, weil die Henkel gern ausreissen. Sie zeigte, wie sie das besser macht: Bei den beiden Übergängen vom Henkel zum Korb werden richtige Weidenknoten gemacht, genau wie beim Befestigen eines Knopfs an einem Kleidungsstück. Meine Mutter sagte jeweils beim Büetzen (Nähen), der Knopf müsse gut „verstätet“ (Zürcher Dialekt für das Umwickeln und Verknoten des Sternlifadens) werden.
 
Und noch auf etwas machte uns die talentierte Kunsthandwerkerin aufmerksam: Ihre Körbe haben am Boden eine regelrechte Sohle: ein geflochtener Kranz, der die Stabilität des ganzen Flechtwerks erhöht und die Lebensdauer verlängert. Und so werden wir denn bei zukünftigen Korberwarenkäufen solche Qualitätskriterien berücksichtigen.
 
Schinznach Dorf einst
Damit haben wir ein Stück alt Schinznach erlebt. Im 1844 erschienenen Buch „Der Canton Aargau“ von Franz Xaver Bronner (16. Band aus der Reihe „Historisch-geographisch-statistisches Gemälde der Schweiz“, erschienen bei Huber und Compagnie, St. Gallen und Bern) habe ich die Beschreibung von Schinznach (-Dorf) gesucht und unter anderem in schöner Antiquaschrift gelesen: „Die Winzer erzielen hier einen vorzüglich guten Wein. Zuoberst im Dorfe kömmt der Warmbach unter einem Rebberge hervor, nebst zwei andern in der Nähe aus der Erde sprudelnden Quellen, die ein vorzüglich reines, gesundes Wasser führen; es gefriert niemals zu und dampft im Winter. Auch findet sich hier ein schweflig riechender Brunnen.“
 
Also: Ein feiner Schwefelgeruch auch hier, wie er (nicht allein) den Schinznachern scheint gut zu tun. Schliesslich spielt Schwefel eine wichtige Rolle im menschlichen Stoffwechsel. Damit (als keimhemmende schweflige Säure) macht man auch den Wein haltbarer, gewiss auch jenen vorzüglichen aus Schinznach. Wer mir solchen anbietet, dem gebe ich nie einen Korb. Es sei denn einen wertvollen Korb von Frau Hartmann als Zeichen der Dankbarkeit und Wertschätzung.
 
Hinweis auf weitere Blogs über die beiden Schinznach im Aargau
29.09.2006: Thalheim–Schinznach-Dorf: Schenkenbergertal-Geschenke
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