BLOG vom: 10.12.2008
Bundesratsersatzwahl 2009: Ueli Maurer mit Zittersieg Nr. 111
Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
Das mehrere Wochen dauernde Vorspiel der Ersatzwahl in den Schweizer Bundesrat für den nach einer Amtszeit von 8 Jahren zurücktretenden Samuel Schmid (zuerst Schweizerische Volkspartei SVP, dann Bürgerlich-Demokratische Partei BDP) geriet zu einem demokratischen Lehrstück mit Tiefgang. Man erkannte, auf welch komplex-komplizierte Weise politische Entscheide zustande kommen – aus Kalkül, einerseits um die eigene politische Haltung nicht über Gebühr stören zu lassen und anderseits um keine unliebsamen Quittungen gewärtigen zu müssen. Das Gesamtinteresse geht in den Machtspielen gelegentlich unter. Und auch wenn alle den Ausdruck „Spiele“ im Rahmen solcher Wahlen mit Tragweite nicht hören wollen, man kommt nicht um ihn herum. Er drängt sich auf.
Schmid stolperte vor allem über die Nato-taugliche Armeereform, die er fortsetzte. Unter seiner Führung geriet die Armee in einen desolaten Zustand. Er führte seinen Rücktritt neben gesundheitlichen Problemen auf den Hang zur Polemik und zur Polarisierung zurück, die nicht zur politischen Kultur der Schweiz gehören sollten, wie er in seiner Abschiedsrede sagte. Immer nach dem Motto: Die Anderen sind schuld.
Die SVP, die aufgrund ihres Wähleranteils von rund 30 % Anspruch auf 2 Sitze in der Landesregierung hätte, schlug 2 Kandidaten vor, die wegen ihres klaren Europa-kritischen Kurses und ihrer offenen, nicht beschönigenden Sprache bei den übrigen Parteien nicht ankamen: Christoph Blocher, der vor 1 Jahr, am 12.12.2007 bei der Gesamterneuerungswahl nicht wiedergewählt wurde, obschon er kraftvoll, hart und erfolgreich regiert hatte und ungelöste Fragen vor allem Einwanderungsbereich (Asylrecht) endlich löste. Sein Arbeitseinsatz, seine profunde Aktenkenntnis und sein Durchsetzungsvermögen, das er auch beim Widerstand der Schweiz gegen einen Beitritt zur EU bewies, wurde ihm zum Verhängnis. Gefragt sind nicht ausserordentliche Begabungen, gefragt ist anpasserischer Durchschnitt.
Christoph Blocher wurde von der SVP wieder vorgeschlagen, obschon alle, auch Blocher selber, genau wussten, dass die Wahlchancen im gegebenen politischen Umfeld gleich Null waren. Deshalb hat die SVP auch den aus dem Kanton Zürich (Hinwil) stammenden Nationalrat und ehemaligen profilierten und erfolgreichen SVP-Parteipräsidenten Ueli Maurer als ihren Kandidaten vorgeschlagen, ein so genanntes „Zweierticket“, das als Einervorschlag empfunden wurde. Denn Blocher zählte für seine politischen Gegner nicht.
Ueli Maurer hatte wegen seiner klaren, unbeschönigenden und oft auch polarisierenden Ausdrucksweise im politischen Bern viele Wunden hinterlassen, so dass sich alle Parteien schwer taten, diese Kröte zu schlucken. Und die SVP verlangte mit Hinweis auf die Konkordanz (Zusammensetzung der Bundesbehörden nach Massgabe des Wähleranteils unter Einbezug aller massgebenden Kräfte im Hinblick auf einvernehmliche Lösungen), dass einer von ihren beiden Wunschkandidaten gewählt würde. Würde jemand gegen den SVP-Willen gewählt und nähme er diese Wahl an, würde er laut den kürzlich geänderten SVP-Statuten aus der Partei ausgeschlossen. Diese Massnahme war eine Folge der aus dem Hinterhalt inszenierten Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf, welche die Wahl entgegen ihrer eigenen anders lautenden Beteuerung vor der Wahl denn doch noch annahm, gegen SVP-Willen. Auch das gehörte zum abgekarteten Spiel.
Unbestrittenermassen hat jedes Parlamentsmitglied (im National- und Ständerat) eine freie Wahl. Doch diese Wahlfreiheit ist etwas eingeschränkt: Schert nämlich eine Partei aus dem parteiinternen Einvernehmen aus, muss sie damit rechnen, die Quittung zu erhalten, wenn sie ihre eigenen Kandidaten im Bundesrat durchbringen will – gefährdet sind insbesondere die 2 Sitze der FDP. Die Fraktionschefin der Freisinnigen, Gabi Huber, steht über Hinterrücksaktionen; ihr Auftritt vor der Bundesversammlung, bei dem sie auch an die Geschehnisse vor einem Jahr erinnerte, hat mich beeindruckt. Aufgrund solcher Rahmenbedingungen gibt es dann unendlich viele Ränkespiele, die nicht immer allein auf das Volks- oder Landeswohl ausgerichtet sind, sondern auf persönliche und parteipolitische Interessen ausgerichtet sind. Und geradezu erheiternd sind in solchen Zusammenhängen die grossen vaterländischen Sprüche, die jene von sich geben, die jeden perfiden Trick anwenden, um zum Ziel zu kommen, dann aber von „institutionellen Grundwerten“ sprachen. Das war im Dezember 2007 ausgeprägt der Fall. Diesmal zeichnete sich mit einer ominösen „Gruppe der 13“ (Rechtsstaatlichkeit-Hochhalter) ein ähnlicher Vorgang ab, die aber keine Lösung fand.
Es ging den Maurer-Gegnern darum, einen anderen Kandidaten aus dem SVP-Lager zu finden und zu wählen, um der Konkordanz Genüge zu tun. Als Sprengkandidat wurde der Bauernführer Hansjörg Walter gehandelt, auf den sich die oppositionellen Kräfte zu konzentrieren schienen. Am Tag vor der Wahl liess Walter durchblicken, dass er noch einige Türen offen liess – und die SVP verhielt sich diesbezüglich merkwürdig zurückhaltend. Das Rätsel wurde am Wahlmorgen gleich gelöst: Walter sagte deutlich, dass er als Kandidat nicht zur Verfügung stehe; er nahm sich aus dem Rennen. Damit schien der Fall klar ...
… so schien es jedenfalls. Doch hatte sich knapp die Hälfte der Parlamentsmitglieder derart auf Hansjörg Walter kapriziert, dass sie nicht mehr anders konnte. Im 1. Wahlgang erhielt er bei einem Absoluten Mehr von 121 nicht weniger als 109 Stimmen, Ueli Maurer deren 67 und Christoph Blocher 54. Der offizielle Kandidat der Grünen, Ständerat Luc Recordon, figurierte unter „Diverse“; nicht einmal die Grünen stimmten für ihn. Es war eine reine Scheinkandidatur, und Recordon beendete seine Teilnahme an diesem Rennen. Das linke Lager stimmte offenbar geschlossen für Walter, verfehlte aber das Absolute Mehr.
Der SVP-Fraktionschef Caspar Baader zog dann – in Absprache mit dem Betroffenen – die Kandidatur Christoph Blocher zurück. Offenbar hatte nur die SVP Blocher gewählt, der anerkanntermassen die besten Voraussetzungen und reichsten Erfahrungen §für die Führung des Amtes in diesen schwierigen Zeiten mitgebracht hätte. Aber solche Argumente zählen nicht.
Im 2. Wahlgang erhielt bei einem Absoluten Mehr von 122 Hansjörg Walter, trotz seines ausdrücklichen Verzichts, 121 und Ueli Mauer 119 Stimmen. Das war eine wirkliche Überraschung. Wieso bekommt ein Kandidat, der nicht zur Verfügung steht, so viele Stimmen? Im „Hirschen“ Hinwil im Zürcher Oberland, wo die Maurer-Anhänger feiern wollten, war die Stimmung gedrückt. Die Wahlveranstaltung wurde zum Krimi (SVP-Präsident Toni Brunner: „fast unmenschliche Spannung“).
Und im 3. und abschliessenden Wahlgang wurde um 10.00 Uhr bei einem Absoluten Mehr von 122 Ueli Maurer mit genau 122 Stimmen gewählt – Hansjörg Walter erhielt 121 Stimmen. Knapper hätte es nicht ausgehen können. CVP-Kantonalpräsident Christophe Darbellay, offensichtlich verärgert, sprach von einem „Denkzettel“.
Maurer versicherte, mit ganzer Kraft für unser schönes Land Lösungen zu finden. Er nahm als 111. Bundesrat der Schweiz die Wahl an – und die traditionelle schweizerische, Konkordanz-basierte Stabilität ist gerettet. Und Finanzchef Hans-Rudolf Merz (FDP) wurde kurz nach seinem Herzstillstand für 2009 mit 197 Stimmen zum Bundespräsidenten gewählt. Alles wird gut.
Im „Hirschen“ und bei allen, die eine EU-kritische Schweiz und eine Schweizer Armee zu schätzen wissen, die sich nicht in die von der US-beherrschte Nato mit ihren Angriffskriegen einbinden lässt und die sich auf landesinterne Verteidigungsaufgaben beschränkt, durfte gefeiert werden. Maurer wird Vorsteher des Verteidigungs- und Sportdepartements, das seiner Auffassung nach in einer schlechten Verfassung ist. Diese Ressortzuteilung wurde unmittelbar nach der Wahl vom Bundesrat als Gesamtbehörde entschieden. Dort ist er am richtigen Ort, auch wenn es ihm nicht gelingen kann, die ganze bisherige Armeepolitik umzukrempeln. Nur schon kleine Richtungskorrekturen, die zweifellos möglich sind, werden eine Wohltat sein. Das Aufräumen kann beginnen.
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