Textatelier
BLOG vom: 26.12.2008

Kurzgeschichten-Wettbewerb: Preisträger wird bestimmt

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Lieber Leser, liebe Leserin: Manchmal gibt es flaue, träge Augenblicke über die Festtage. Vielleicht lenkt Sie dieses Blog ab und ermuntert Sie, Ihr eigenes Urteil über die  5. Kurzgeschichten zu fällen. Viel Spass dabei und weitere frohe Festtage, mit hoffentlich viel besserer Kost als jener, die vom Küchenchef in der 5. Kurzgeschichte aufgetischt wurde!
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„Warum haben wir diesen Wettbewerb durchgeführt?“ leitete Professor Hans Lehmann die Debatte der Jury ein. Er beantwortete diese Frage: „Es gibt Anzeichen, dass diese einst populäre Prosa-Kurzform wieder am Aufleben ist. Kurzgeschichten tauchen vermehrt wieder im Kulturteil der Zeitungen auf. Die Blogs mögen diese Renaissance beschleunigen helfen. Was kennzeichnet eine gelungene Kurzgeschichte?" wandte er sich an Fräulein Dr. Haasbauer.
 
Fräulein Dr. Haasbauer, eine rundliche Dame, ist als Dozentin hoch beliebt. Sie hat die Gabe, ihre Studenten zu ermutigen und entdeckt immer wieder versteckte Talente unter den Studenten, die sie hervorhebt und fördert. „Alle eingereichten Preisarbeiten bergen Einfallsreichtum, Originalität und Sprachgefühl – die Grundvoraussetzung zur gelungenen Kurzgeschichte. Sie sind die Stützpfeiler der Kreativität. Ob es richtig war, die Eingaben auf 500 Wörter zu begrenzen, sei dahingestellt. 2 der Kandidaten haben sich dagegen aufgelehnt (Kurzgeschichten 1 und 5). Also bedingt eine gelungene Kurzgeschichte Ideenreichtum und Originalität, abseits von ausgeleierten Gedankenbahnen. Sprachliche Reife ermöglicht eine freie Handhabe der Sprache, und daraus entwickelt sich der Stil persönlicher Prägung. Wieweit sie sich in den Arbeiten offenbart, gilt es zu beurteilen. Und wie steht es mit dem erzählerischen Talent? Ist es angeboren? Ist es erlernbar? Unser Erzähler und zugleich Essayist und Feuilletonist Dr. Mäder ist gewiss berufener als ich, sich dazu zu äussern“, übergab sie ihm das Wort.
 
Herr Dr. Mäder, ein hagerer Mann mit fein geschliffenen Gesichtszügen, gilt als anerkannter Meister der Kurzform. „Ist es angeboren, das erzählerische Talent und wieweit ist es erlernbar?“ bemächtigte er sich mit Gusto der Frage. „Beides, sage ich. Das erzählerische Talent gleicht einer liebevoll geschnitzten Bauerntruhe: ist urtümlich, oft volkstümlich, wie etwa die Geschichten von Felix Timmermans (flämischer Schriftsteller und Maler, 1886‒1947). Ich verweise hier auf 2 seiner Werke: ‚Die sehr schönen Stunden der Jungfer Symforosa‘ und ‚Pallieter‘. Darauf lässt sich aufbauen, bis daraus ein Schatzkästlein wird. Was immer unsere Kandidaten von angeborenem Erzähltalent mitbringen, das schulen wir auf unserer Universität. Wir vermitteln Beispiele und Vorbilder und liefern das Werkzeug zur Kunstschreinerei des Schreibens, damit die Studenten das Beste aus ihrem Talent holen können. In allen eingereichten Kurzgeschichten offenbart sich ein gewisses natürliches Erzähltalent, teilweise ein sehr ausgeprägtes, das es zu pflegen und weiterzubilden gilt.“
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Jetzt lag es an Professor Lehmann, den Weg zur Auswahl des Preisträgers in 2 Etappen zu bestimmen. „Bitte“, schlug er vor, „zuerst jeden Beitrag als in sich abgeschlossen bewerten – zwischen 1 und 5 einstufen – und die Arbeiten nicht  miteinander vergleichen. Beachten Sie dabei folgende Punkte: Stil, Inhalt, Thematik und Kreativität. Nachher bestimmen Sie ihren Favoriten. Ich benutze mein Vorrecht und beginne als Erster:
Professor Lehmann:
 
Kurzgeschichte 1:
Stil: Wie bei den meisten Arbeiten ist auch in dieser die stilistische Einflussnahme von Fräulein Dr. Haasbauer erkennbar. Note 2.
Inhalt: Etwas verworren und sprunghaft. Note 3.
Thematik: Von der Sprachhölle bis zum Beichtstuhl … Wen meinte er mit Eierkopf und Quälgeist mit gelben Zähnen? Wiederum eine 3. Die Sprache sollte sein Himmel und Erlöser sein.
Kreativität: Eher erzwungen – zwischen 3 und 4 – der Verfasser steckt in einer misslichen Röhre.
 
Kurzgeschichte 2
Stil: kraftvoll und eigenwillig: Note 1.
Inhalt: intensiv und konzentriert, verdient eine 1.
Thematik: Atmosphärisch und ergreifend – Rita entspringt dem Elternhaus voller Zank. Ihre Flucht endet im Tod. 1.
Kreativität: Hat sich dabei Chloé an einen Film erinnert? 2 bis 3.
 
Kurzgeschichte 3
Stil: Zwar flüssig geschrieben, doch könnte sie „lebendiger“, will sagen abwechslungsreicher sein. Deswegen eine wohlwollende 2.
Inhalt: Psychologisch einleuchtend. 2.
Thematik: Der arme Kerl erweckt Bedauern. Der Verfasser zeichnet ein Schwarz-Weiss-Bild zwischen Gut und Böse, also Kain und Abel, wie nach einer Formvorlage. 4.
Kreativität: Hat ihn ein Pressebericht angespornt? Eine 3 mit Vorbehalt.
 
Kurzgeschichte 4
Stil: Spannend und lebhaft. 1.
Inhalt: Originell. 1.
Thematik: Gut durchleuchteter Schürzenjäger, der sein Gewissen entdeckt. 2.
Kreativität: Mit Finessen und moralischem Unterton. 2.
 
Kurzgeschichte 5
Stil: Burlesk. 1.
Inhalt: Ein scheusslicher Frass wird da aufgetischt! Nach dem Lesen brauchte ich einen Cognac. Deswegen: 3.
Thematik: Ungewöhnlich und ausgeprägt eigenwillig. 1.
Kreativität: Einzigartig: 1.
Wahl als Preisträger: Kurzgeschichte 2.
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Fräulein Dr. Haasbauer
 
Stil: Alle Kandidaten haben eine gute stilistische Reife erreicht. Der Mittelwert, mit 2 beziffert, weist darauf hin, dass wir eigentlich sehr selten (und vorübergehend) die Note 1 erreichen. Der Stil muss fortzu gekämmt und gewellt werden.
 
Kurzgeschichte 1: Ich wünsche diesem Kandidaten einen guten Spaziergang durchs schöpferische Klima. Inhaltlich verdient diese Arbeit eine 2. Thematisch beurteilt, verknäueln sich die Fäden der Geschichte da und dort: 3. Bezüglich Kreativität: Ausbaufähig, gute Ansätze. Weiter pflegen: 2.
 
Kurzgeschichte 2: Inhalt/Thematik: Die arme Rita! Ihre Flucht endet im Tod, wie sie ihrer virtuellen (nebenbei ein scheussliches Wort) Welt entflieht. Die Autorin hat das Thema mit eindrücklicher Reife behandelt. Noten: 1 + 1. Punkto Kreativität hat sie die traurige Umwelt im nasskalten Liverpool scharf erfasst, doch ein bisschen zu geradlinig gezeichnet. Note: 2.
 
Kurzgeschichte 3: Inhalt/Thematik: Auffallend, dass auch diese Geschichte vom Tod handelt. Diesmal zimmerte sich Tom eine Idylle. Für diesen Autor versinnbildlicht der brutale Flint als Kain die Gefühlskälte, die Irene mit ihm teilt – jenseits von Schuld und Sühne. Noten: zweimal 2. Kreativität: Mittelmässig, doch ausbaufähig: 3.
 
Kurzgeschichte 4: Inhalt/Thematik: Das Gewissen als Seismograph, von Zufälligkeiten angestossen, hat dieser Autor mit psychologischer Finesse aufgespürt: 1 + 1. Kreativität: Sehr originell: 1 bis 2.
 
Kurzgeschichte 5: Inhalt/Thematik: Ich erkenne und anerkenne in dieser Arbeit eine gesellschaftliche Persiflage. Der Autor will bewusst anecken und verschont selbst die Jury nicht … Aber ich werfe ihm dies keineswegs vor. Er verdient meinerseits eine 1 + 2. Kreativität: Ein ausgeprägter Einfallsreichtum: 1.
Wahl als Preisträger: Kurzgeschichte 4.
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Dr. Mäder
 
Kurzgeschichte 1: Stil: lebhaft: 2. Inhalt/Thematik: Etwas nebelig, gute Glosse: 2 + 2. Kreativität: Etwas erzwungen: 2 bis 3.
 
Kurzgeschichte 2: Stil: Eindringlich geschildert: 1. Inhalt/Thematik: Rita als Opfer tragischer Umstände, von beängstigender Thematik im heutigen Welttheater : 1 + 2. Kreativität: Wie aus der Zeitung oder Film gegriffen?: 3.
 
Kurzgeschichte 3: Stil: Angenehm und der Geschichte angemessen: 2. Inhalt/Thematik: Das Gute und Böse im (allzu) scharfen Kontrast: 3. Kreativität: Noch nicht ausreichend entwickelt: eine 3 mit Wohlwollen.
 
Kurzgeschichte 4: Stil: 2. Inhalt/Thematik: Dem Autor ist es gelungen, den Inhalt, d. h. den Verlauf der Geschichte thematisch zu steigern, wofür ihm eine 1 + 1 gebührt – dank seiner überzeugenden Kreativität: Note 1 bis 2.
 
Kurzgeschichte 5: Stil: Kraftvoll, verdient die Note 1. Inhalt/Thematik: Dieser Kandidat hat mir wirkungsvoll das Gruseln beigebracht: 1 + 1. Kreativität: Angeboren: 1.
Wahl als Preisträger: Kurzgeschichte 5.
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Nach kurzer Debatte wurde die 5. Kurzgeschichte mit dem 1. Preis ausgezeichnet. Dafür kriege der Autor obendrein eine gute Flasche Weinessig, war die einhellige Meinung der Jury, zusätzlich zum Preisgeld von CHF 500.–.
Den 2. Preis teilten die Verfasser der Kurzgeschichten 2 und 4 mit je CHF 250.–.
 
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