Textatelier
BLOG vom: 29.12.2008

Von staatspolitischen Reden, die uns vorenthalten werden

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Nicht jede Rede verdient es, dass man ihr zuhört. Vor allem die Drumherumreden. Den Festreden kann man manchmal nicht entrinnen. Auf Anklage- und Entschuldigungsreden würde man gern verzichten. Hetz- und Besänftigungsreden entlarven sich selber. Klartext ist immer gut.
 
Von national- oder weltpolitischer Bedeutung können grundsätzliche staatsmännische bzw. staatsfrauliche Reden sein, falls zwischen Rhetorik und tatsächlichen Absichten oder Handlungen eine gewisse Übereinstimmung besteht. Wenn ich mich eingehend mit den Abläufen in dieser vernetzten Welt möglichst gründlich informieren will, dann möchte ich wichtige Reden von Führungspersönlichkeiten möglichst 1:1. Die Medien sind das gegebene Transportvehikel, um der Öffentlichkeit den Inhalt der Reden zu übermitteln. Wenn einer wie der Superstar Barack Obama spricht, klappt das wunderbar, da wird jedes Wort, jede Geste verbreitet und wiederholt, auch wenn es nur ein paar Schlagwörter sind, wie etwa der ins Amerikanische übersetzte Kampfruf spanischer Gewerkschafter aus dem Jahr 1972 („Sí se puede“): „Yes we can.“ Auch wenn Obama über die Weihnachtstage (2008) Soldaten auf Hawaii besucht, wird jeder Händedruck der benebelten Welt einzeln übermittelt.
 
Doch ganz anders ist es, wenn beispielsweise der russische Präsident Dimitri Medwedew zur Lage der Nation spricht. Dieses Tun findet in den US-hörigen Westmedien kaum einen Niederschlag, auch wenn diese Ansprache aus Moskau voller programmatischer Ausführungen über Reformprojekte, über den Ausbau der Bildung, die Vertiefung der Demokratie und bis hin zur Stärkung des Völkerrechts und zum Kampf gegen die Korruption ist. Diese Rede ging am 05.11.2008 in der Obama-Feier unter. Es ist der Zeitung „Zeit-Fragen“ www.zeit-fragen.ch hoch anzurechnen, dass sie Medwedews Ansprache zur Dokumentation in voller Länge (5 Zeitungsseiten umfassend) nachdruckte. Die Zeitungen, die ihren Informationsauftrag Ernst nehmen, haben zweifelsohne solch einen Dokumentationsauftrag, denn erst aufgrund der Kenntnis aller Fakten sind Kommentare gerechtfertigt und verständlich. In der Regel kann man solche Dokumente ausschliesslich im Internet auftreiben – ohne dieses Allerweltsmedium würde der Informationshungrige bei der zunehmenden Ausrichtung der Medien auf seichte Unterhaltung glatt verhungern.
 
Bildung in Russland
Für mich besonders bemerkenswert waren Medwedews Ausführungen zur Bildung in Russland, wo es nicht einfach um eine globalisierungstaugliche Frühvermassung der Kinder geht: „Die entscheidende Rolle bei der Formierung einer neuen Generation professioneller Kader muss die Wiedergeburt des russischen Bildungssystems spielen. Dessen frühere Erfolge waren in der ganzen Welt anerkannt. Heute, ungeachtet einiger erfolgreicher Ansätze, lässt die Lage im Bildungswesen zu wünschen übrig.
 
Man muss es offen sagen: Von den führenden Positionen sind wir schon verschwunden. Und das stellt eine ernsthafte Gefahr für unsere Konkurrenzfähigkeit dar. Ausserdem formt das Bildungswesen im wahrsten Sinne des Worts die Persönlichkeit, formt den Lebensstil des Volks, vermittelt der neuen Generation die Werte der Nation.“
 
Medwedew legte dann den Hauptakzent auf schulische Bildung, weil sie zum Erfolg des Einzelnen und eines ganzen Landes beiträgt. 2010 wird in Russland zum „Jahr des Lehrers“ erklärt. Zudem will er die Pädagogen beauftragen, sich auch mit der Gesundheit zu befassen, solche Aspekte in den Lernprozess zu integrieren, damit die Gesundheitsstatistik der Schüler nicht mehr „einfach schrecklich“ (Medwedew) ist, wie gerade jetzt.
 
Medwedews Sicht der Finanzkrise
Die Neue Zürcher Zeitung tat die Rede als Belanglosigkeit ab, verzichtete auf wörtliche Zitate und schrieb zum Beispiel zu Medwedews Aussagen zur Finanzkrise in einem schon beinahe vorwurfsvollen Ton: Gleichzeitig machte Medwedew die amerikanische Wirtschaftspolitik verantwortlich für die Finanzkrise und deren Folgen für die Welt. Aus beiden Ereignissen leitete er, ebenfalls nicht zum ersten Mal, das Versagen der bisherigen Institutionen hervor und erwähnte Massnahmen zur Schaffung einer neuen Weltwirtschaftsordnung.“
 
Laut Zeit-Fragen-Übersetzung sagte der russische Präsident zu diesem Thema: „Die Weltfinanzkrise begann auch als ,lokaler Zwischenfall’ – nämlich auf dem nationalen Markt der Vereinigten Staaten. Indem sie in enger Weise mit den Märkten aller entwickelten Staaten, vor allem mit den mächtigsten von allen, verknüpft sind, zog die Wirtschaft der Vereinigten Staaten in ihrer Talfahrt die Finanzmärkte des ganzen Planeten mit sich. Auch diese Krise hat einen globalen Charakter angenommen.“ Es sei notwendig, „Mechanismen zu schaffen, die eine fehlerhafte, egoistische und zeitweise einfach gefährliche Entscheidungen einiger Mitglieder der Weltgemeinschaft blockieren. Denn es muss gesagt werden, die Tragödie von Zchinwali (Angriff auf die Stadt in Südossetien durch die georgische Armee am 08.08.2008) war, neben anderen, die Folge des selbstherrlichen, keine Kritik duldenden und sich auf einseitige Entscheidungen stützenden Kurses der amerikanischen Administration.“
 
Die andere Seite hören
Hatte Medwedew da denn eigentlich nicht vollkommen Recht? Meines Erachtens gäbe es keinen Grund, solche Äusserungen zu unterdrücken oder nur verzerrt wiederzugeben. Ob die Regenten nun aus der Achse der Guten oder der Bösen stammen, mir liegt daran, die Beweggründe für ihr Handeln kennen zu lernen. Das ist auch ein juristisches Prinzip, dass auch offensichtliche Gauner ihre Sicht der Dinge darlegen oder durch den Verteidiger darlegen lassen können. Erst dann ist eine Rechtsfindung überhaupt möglich. Auf die Politik übertragen heisst dies, dass der Bürger kompetente Urteile nur dann fällen kann, wenn er alle erreichbaren Informationen erhält; nur dann kann er mündig werden. Und falls Demokratien noch heute erlaubt sein sollen, wären dort mündige Bürger wichtig.
 
Der unangepasste „Channel 4“
Ein Musterbeispiel von haarsträubender Informationsfeindlichkeit gab am 26.12.2008 eine Auswahl politisch massgebender Briten von sich. Der britische, privat finanzierte TV-Sender mit öffentlichem Auftrag „Channel 4“ hatte die Weihnachtsansprache des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad übertragen, seinen Informationsauftrag wahrnehmend. Er vermittelte die Grussbotschaft am 1. Weihnachtstag 2008 angeblich als „Alternative zur traditionellen Weihnachtsansprache der Königin“. So etwas darf offenbar nicht sein. Politiker, Menschenrechtler sowie Israelis, welche ohnehin die totale Informationskontrolle wollen und zum Teil auch durchgesetzt haben, bezeichneten die Entscheidung des Senders als „Skandal“ und Ahmadineschads Botschaft an die Christen, die den persischen Mutterwîtz erkennen liess, als „irreführend und gefährlich“. Mit anderen Worten: Die Briten sind deren Ansicht nach nicht reif genug, um die Ausführungen eines missliebigen Staatspräsidenten richtig zu werten, eine unwahrscheinliche Anmassung.
 
In seiner Rede wünschte Ahmadineschad den Christen ein friedliches Neues Jahr und eine grössere Besinnung auf religiöse Werte zwischen Regierungen. Der „allgemeine Wille“ der Nationen sei es, zu „menschlichen Werten“ zurückzufinden. Wenn Jesus heute auf der Welt wäre, sagte Ahmadineschad, würde dieser gegen „Kriegstreiber, Besatzer, Terroristen und Tyrannen“ vorgehen. „Er würde ohne Zweifel gegen die tyrannische Politik der vorherrschenden, globalen wirtschaftlichen und politischen Systeme kämpfen.“ Eine Fusswäsche für den so wundersam liberalisierten Westen.
 
Was war daran so falsch? Laut www.faz.net hat die Nachrichtenchefin von Channel 4, Dorothy Byrne, die Entscheidung verteidigt. Die „Ansichten eines Führers einer der mächtigsten Länder im Nahen Osten“ hätten „äussersten Einfluss“. „Wir wollen unseren Zuschauern einen Einblick in eine alternative Weltanschauung geben.“ Solche Medienleiterinnen wünsche ich mir.
 
Zweifellos liegt sie richtig, und man kann sie und den Sender zu deren Entscheidung nur beglückwünschen. Selbst als Israel sein Atombombenarsenal unter dem Siegel der Verschwiegenheit baute und ausbaute (Informationen waren strikte verboten), war es niemandem in den Sinn gekommen, Reden massgebender israelischer Politiker und Kriegstreiber zu unterdrücken oder deren Verbreitung zu kriminalisieren.
 
Politische Bildung – kein Thema
Wenn die Medienkonsumenten unter den gegebenen medialen Bedingungen die Möglichkeit hätten, mündig zu werden, würden nicht nur keine Forderungen nach Zensur erhoben, sondern sie würden im Gegenteil etablierte Medien, die nach Lust und Laune beliebte Länder übergewichten und Schurkenstaaten totschweigen, massregeln. Gerade in (so genannten) Demokratien müsste eine politische Bildung nicht nur erlaubt, sondern sogar zwingend sein. Und dazu gehört eine umfassende Information.
 
Nur dann wäre es möglich, die Vorwürfe der Ahmadineschad-Kritiker, er hetze gegen die Juden und missachte die Menschenrechte, zu relativieren. Hetzen nicht auch die Juden gegen den Iran? Die neu gewählte Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, hat Irans Präsidenten Ahmadineschad mit Adolf Hitler verglichen. Und wie denn verhält es sich mit der Einhaltung der Menschenrechte Israels etwa den eingemauerten Palästinensern gegenüber? Gerade ist Israel wieder dabei, die zusammengebastelten Raketen aus Palästina mit Bombenhageln zu vergelten, wobei möglichst viele Tote angestrebt wurden. Das Massaker, das der Judenstaat in diesen Weihnachtstagen 2008 unter den Nachbarn angerichtet hat, ist ungeheuerlich und beschwört weltweit Proteste und Hassgefühle herauf.
 
Die westliche Brille ist sträflich eingeengt, das Gerechtigkeitsempfinden eingeschränkt, und so lange dieser Zustand bestehen bleibt, möge sich der Westen bitte hüten, Zensurauswüchse in so genannten Schurkenstaaten anzuprangern.
 
Als Medienkonsument erhebe ich die Forderung, als mündiger Mensch behandelt zu werden, der nicht wie ein Kind von angeblich schlechten Einflüssen zu verschonen ist. Ich möchte bitte die Sicht der Castro-Brüder ebenso erfahren dürfen wie jene eines Robert Mugabe aus Simbabwe, jene der Burma-Herrscher, jene von Hugo Chávez und Evo Morales. Die dutzendfach repetierten Obama-Plattitüden, die von gegenteiligem Handeln begleitet sind, genügen mitnichten.
 
Zum Glück gibt’s das Internet. Wie lange wohl werden die westlichen Zensoren diesen Freiraum wohl noch dulden?
 
Literatur zum Thema
Hess, Walter: „Kontrapunkte zur Einheitswelt. Wie man sich vor der Globalisierung retten kann“ (ISBN 3-9523015-0-7), Verlag Textatelier.com, CH-5023 Biberstein 2005.
 
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